Ist das (noch) Tanz?

von Elena Philipp

Berlin, 20. August 2019. Nur in der Informatik kann man What if-Szenarien eindeutige Ergebnisse zuweisen. Zu Überforderung führt das Wenn-Dann-Schema hingegen, wenn man es auf menschliche Interaktionen und vor allem: moralische Fragen anwendet. Allzu zahlreich sind die Entscheidungsoptionen. Wie verhält sich wohl das Gegenüber, wie soll man sich also selbst verhalten? Aufs Komischste befasst sich Nicola Gunn mit diesem Dilemma. Ihr "Piece For Person and Ghetto Blaster" aus dem Jahr 2015 war jetzt beim Festival Tanz im August zu sehen – und ist eines der diesjährigen Festivalbeispiele für die Entgrenzung choreographischer Positionen bis ins Performative, ja Theatrale hinein.

Tanz-Tanz (vereinfacht: reine Bewegung oder Choreographie zu Musik) ist nurmehr eine von zahlreichen Positionen, die Kuratorin Virve Sutinen beim dreiwöchigen internationalen Showcase auf die Berliner Bühnen bringt. Vielmehr fächert sie die Vielfalt dessen auf, was derzeit unter dem Label Tanz kursiert, wagt sich in die Randbereiche, als würde sie fragen: "Ist das (noch) Tanz?"

TiA Nicola Gunn Piece for Person and Ghetto Blastee 560 Gregory Lorenzutti uNicola Gunn: Piece for Person and Ghetto Blaster © Gregory Lorenzutti

Eingeladen hat sie etwa eine durational performance im Museum, "Fluid Grounds" von Par B.L.eux, oder den filmischen Theaterabend über die Strahlkraft des Wunderbaren und das Ausfiltern banaler Alltagsmomente aus der Erinnerung, "The Wonderful and the Ordinary" von Gunilla Heilborn mit dem Theater im Bahnhof Graz. Dabei ist Virve Sutinens Tanz im August ein kühles Konstrukt, das Verbindungslinien und Korrespondenzen sichtbar macht – die nicht immer signifikant sein müssen, auch wenn sie auffallen. Nicola Gunns "Piece For Person and Ghetto Blaster" ist einer dieser Kristallisationspunkte von Auffälligem.

Narration auf dem Vormarsch?

Komplexe Gedankenranken wuchern im Solo der australischen Performerin und Autorin aus einer konkreten Alltagssituation: Du beobachtest einen Mann, der eine brütende Ente mit Steinen bewirft – intervenierst Du oder nicht? Kannst Du damit leben, dass jemand ungestört ein Tier verletzt, oder damit, vor den Kindern des Steinewerfers als schreiende Irre dazustehen? Philosophische Überlegungen in diesem stringenten Text sind durchschossen mit assoziativen Abschweifungen, über das Leben als Expat in Gent, Agatha Christies belgischen Detektiv Hercule Poirot und dessen Filmdarsteller David Suchet. Präzise spricht Gunn auf Pointe, im Tonfall affektierter Konversation. Parallel exerziert sie die athletische Choreographie von Jo Lloyd, die das Gesagte bestätigt, unterläuft oder mit einer zweiten Bedeutung auflädt. Sportlich. Und: angeblich autobiographisch. Aha!

Auch Oona Doherty arbeitet eigene Erfahrungen und Erlebnisse auf. Im Alter von zehn Jahren zog sie 1992 mit ihren Eltern von London nach Belfast. Da war der Nordirlandkonflikt noch im Gange. In Dohertys "Hard To Be Soft – A Belfast Prayer" begreift man, wie sich die "troubles" tief in den Alltag und die Familienstrukturen hineingefressen haben: Zwei massige Männer, Vater und Sohn, ringen miteinander, und ihre gelegentlichen Umarmungen wirken wie ein Versehen. Sieht man die Stücke von Gunn und Doherty im Festivalkontext neben Jérôme Bels Uraufführung "Isadora Duncan", drängt sich eine unerwarteter Eindruck auf: Feiert die (Auto-)Biographik fröhliche Urstände? Ist die Narration im Tanz auf dem Vormarsch? Entwickelt die Kunstform gar ein Sendungsbewusstsein?

TiA Jerome Bel Isadora Duncan 560 Camille Blake uElisabeth Schwartz in "Isadora Duncan" von Jérôme Bel © Camille Blake

Ja, kann man im Fall von Oona Doherty sagen. Angetreten ist die Choreographin laut Programmheft, kollektive Traumata zu heilen ("teilweise", wie es heißt; wohl weil sich die Wirkung eines Kunstwerks genauso wenig eindeutig kalkulieren lässt wie die Reaktion auf eigenes Handeln beim Gegenüber). Aber Dohertys selbstgesetztes Ziel muss man gar nicht so hoch hängen: "Hard To Be Soft" überzeugt durch den Formwillen der Mittdreißigerin, die Text und Ton, Bewegung, Bühnenbild und Licht in ihrem vierteiligen Stück klar durchgestaltet hat. Gitterstäbe rund um die Bühne sperren die Figuren in den Konflikt wie in einen Käfig. Aber dann öffnen sich die Pforten des Paradieses zu einem sakral beleuchteten Innenraum, etwa im Outro-Poem über die Rückkehr Jesus’ (die, so Dohertys Deutungsvolte, ein Auto knackt und Whiskey klaut).

Im Stil einer Sitcom

In David Holmes’ Soundscape zu "Hard To Be Soft" klingen Kneipenschlägereien an – Männer brüllen, eine Frau schluchzt –, unterlegt mit überirdischem Gesang. Gegensätze vereint Oona Doherty auch in den zwei rahmenden Soli, die sie selbst tanzt. In "Lazarus and the Birds of Paradise" wirkt sie im einen Moment wie erfüllt von etwas Höherem, mit erhobenen Armen und viel Luft im Brustkorb strebt ihre Figur dem Göttlichen zu. Lazarus: der mit Wunden Geschlagene und, an anderer Stelle in der Bibel, der vom Tod Erweckte. Im nächsten Moment verzerrt die androgyne Tänzerin ihr Gesicht zur Maske des Hasses, wirft sich in Positur und mimt Abgebrühtheit: Achtung, street smarts! Glaubwürdig abgeschaut hat sich Oona Doherty männliches Imponiergehabe – durch die Abruptheit, mit der die Posen ihren Körper überfallen, macht sie aber auch den gewaltsamen Aspekt der sozialen (Selbst-)Formung anschaulich. Schließlich müssen die Männer dem Habitus des tough guy Taten folgen lassen. "Troubles"? Nein. "War", heißt es an einer Stelle über die fast dreißigjährigen Konflikte zwischen – vereinfacht – nationalistischen Katholiken und unionistischen Protestanten, 1969 bis zum Karfreitagsabkommen 1998.

TiA Oona Doherty Hard to be soft 560 Dajana Lothert uOona Doherty: "Hard To Be Soft" © Dajana Lothert

Traumabewältigung im Pathos-Modus bei Oona Doherty, Konfliktverarbeitung im Stil einer Sitcom bei Nicola Gunn: Zu derart durchlebten Erfahrungen geht Jérôme Bel in historische Distanz. "Isadora Duncan", knapp einstündig wie die Stücke von Doherty und Gunn, ist das erste in Bels biographischer Soli-Serie von "Véronique Doisneau" 2004 bis zu "Cédric Andrieux" 2009, das er einer verstorbenen Choreographin widmet. Grundlage ist Isadora Duncans Autobiographie, "My Life", und chronologisch erzählt Bels Assistentin Sheila Atala als Moderatorin und Gastgeberin aus dem Leben der Tänzerin und Choreographin, die leichtbekleidet den Barfußtanz und die freie Liebe praktizierte, als Frauen noch Korsett trugen und nur als Gattinnen gesellschaftlichen Status genossen.

Tanz spricht

Bels Sendungsbewusstsein erstreckt sich auf die auratisch aufgeladene Vermittlung von Tanzhistorie: Duncans federleicht fließende, pantomimisch parlierende Kurztänze interpretiert Elisabeth Schwartz, eine knapp 70-jährige Tänzerin von berückend mädchenhafter Anmut. Gelernt hat sie die Stücke von einer Schülerin der Adoptivtöchter Duncans. Diese durchgehende physisch-orale Traditionslinie scheint qua Kopräsenz auch die Zuschauer*innen direkt mit Duncan zu verbinden. Ein spiritistisches Setting – mit hochdidaktischem Konzept: Dreimal hintereinander werden Tänze wie "Water Study", "Mother" oder "The Revolutionary" gezeigt. Einmal mit Musik; ohne Musik, aber mit Erläuterungen, was die Gesten bedeuten – Welle oder Wasserspritzen, Umarmung oder Abschied –; dann noch einmal mit Musik, um zu überprüfen, ob man die Bewegung korrekt gelesen hat.

Ist Gunns Solo ein virtuoses Spiel mit Ambivalenzen und stellt Doherty Gegensätze wie Alltagsgewalt und Erlösungssehnsucht in Spannung, so setzt Bel auf einfühlende Eindeutigkeit. Kritik hat im Wohlfühlambiente von "Isadora Duncan" keinen Raum; schwelgend soll man sich diesem Ansichtigwerden des Tanzerbes hingeben. Das Sendungsbewusstsein im Tanz ist, wie überall, mit unterschiedlichen Graden der Selbstreflexion verbunden.

Und was den Trend zur verbalen Narration im Tanz anbelangt? Vorsicht ist geboten. Vorerst hat die Künstlerische Leiterin von Tanz im August, Virve Sutinen, einen ihrer thematischen Motiv-Cluster ins Programm gebaut, grob zu umreißen mit dem Motto "Tanz spricht". Diese Beobachtung kann gänzlich insignifikant sein und nicht verallgemeinerbar – denn Tanz funktioniert nicht algorithmisch, sondern, wie alle Künste, entscheidungsoffen und formvielfältig.

 

Tanz im August – Internationales Tanzfestival Berlin

Piece for Person and Ghettoblaster
von Nicola Gun
Konzept, Text, Regie: Nicola Gunn, Choreografie: Jo Lloyd, Sound & Komposition: Kelly Ryall, Video: Martyn Coutts, Kostüm: Shio Otani.
Mit: Nicola Gunn.

Isadora Duncan
Konzept: Jérôme Bel, Choreografie: Isadora Duncan.
Mit: Sheila Atala, Elisabeth Schwartz.

Hard To Be Soft – A Belfast Prayer
von Oona Doherty
Konzept & Choreografie: Oona Doherty, Bühne & Licht: Ciaran Bagnall, Soundscape: David Holmes, Film & Fotografie: Luca Trufarelli, Videoprojektionen: Jack Phelan.
Mit: Mit Oona Doherty, John Scott, Sam Finnegan, Laiendarsteller*innen aus Berlin.

www.tanzimaugust.de

 

Kommentare  
Tanz im August: irritierend
"Ist das (noch) Tanz?" Diese Frage von Elena Philipp stellte ich mir in der ersten Hälfte des "Tanz im August"-Programms 2019, das einen deutlichen Bruch zu früheren Festivalausgaben markiert, auch mehrfach.

Bisher waren vor allem Off-Theater-Spielereien zu erleben, die sich in den Randbereichen des Tanzes tummeln und die Übergangszonen zu anderen Kunstgattungen ausloten.

Beispielhaft dafür steht die hier nur kurz gestreifte Deutschland-Premiere von „The Wonderful and the Ordinary“, die 2017 von der schwedischen Regisseurin Gunilla Heilborn und dem Grazer Off-Theater im Bahnhof als Auftragswerk für den steirischen herbst entwickelt wurde: Eine versponnene Petitesse aus der Welt postdramatischer Performances.

Die verträumten kleinen Anekdoten, die die fünf Performer*innen frontal ins Publikum sprachen, entlockten dem Publikum immer wieder ein Glucksen. Assoziativ kreisten sie um den Begriff „Memory“, stellten Al Pacino-Thriller aus den 70er Jahren nach, tauschten sich über klassische Mnemotechniken wie den „Gedächtnispalast“ aus, erinnerten sich an ganz banale Alltags-Erlebnisse und erzählten staunend von den Gedächtnis-Phänomenen, die sich an jeden Tag ihres Lebens detailliert erinnern können.

Auf einer bunten, vielfältigen Festival-Wiese wie dem steirischen herbst, der die zeitgenössische Kunst in ihrer Breite abbilden möchte, kann so ein kleiner, zwar recht belangloser, aber doch charmanter Abend eine hübsche Abwechslung sein. Bei einem Tanz-Festival wirkt „The Wonderful and the Ordinary“ jedoch irritierend und deplatziert: das Quintett um Pia Hierzegger, die einem größeren Publikum aus den Filmen ihres Lebensgefährten Josef Hader bekannt ist, steht unterspannt an der Rampe und plaudert ohne jeden Drive, jede physische Energie und Bewegungs-Raffinesse ins Publikum.

Wesentlich näher an Sprechtheater-Performances als am klassischen Tanz ist auch der assoziative Redeschwall „Piece for Person and Getto Blaster". Gunn springt vom australischen Tierrechts-Philosophen Peter Singer zur Star-Performerin Marina Abramovic, die sie mit einigen Seitenhieben bedenkt und parodiert, klettert quer durchs Publikum und schaltet nach dem ersten Drittel den monoton vor sich hinwummernden, titelgebenden Gettoblaster an. Dazu bewegt sie sich wie Jane Fonda in ihren Aerobic-Videos aus den 80ern und redet weiter wie ein Wasserfall, bevor sie im Schlussbild in das Kostüm der Ente schlüpft und schließlich verstummt.

„Piece for Person and Getto Blaster“ hat zwar lustige Momente und hübsche Einfälle, bleibt aber insgesamt doch zu sehr Skizze.

Bei "Hard to be soft - A Belfast Prayer" waren die beiden Soli von Oona Doherty die überzeugendsten Teile. Eingezwängt zwischen Gitterstäben krümmt sie ihren Körper und verzieht grimmig ihr Gesicht, während Männerstimmen vom Tonband Hassparolen und Kommandos bellen.

Mein Festival-Highlight bisher war jedoch "Kata" von Anne Nguyen und ihrer Compagnie par Terre. Ihre mitreißende Choreographie kombiniert virtuos Breakdance mit Martial Arts und spielt geschickt mit Rhythmus-Wechseln. Endlich Tanz!

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/08/18/tanz-im-august-2019-festival-kritik/
Tanz im August: Gastspiele aus Südkorea, Japan, Madeira
Meine Eindrücke zu einer Musiktheater-Klassik-Pop-Clownerie aus Südkorea, einer Hommage an Merce Cunningham/John Cage, einem meditativ-entschleunigten Abend aus Japan und spanisch/portugiesischem Inklusionstheater vor Urlaubs-Kulisse in der zweiten Festival-Hälfte:

https://daskulturblog.com/2019/08/24/tanz-im-august-2019-die-zweite-halfte-kritik/
Kommentar schreiben