"Ihre Vagina fühlte sich etwas wund an"

von Martin Krumbholz

Gladbeck, 22. August 2019. Roger van der Weydens Gemälde Kreuzabnahme zeigt in der Horizontalen, wohl in einer leichten anatomischen Verzerrung, den Leib des Erlösers inmitten einer Gruppe trauernder Menschen. Ihre Kleider aber scheinen nicht aus Jesu Zeiten zu stammen, sondern aus der des flämischen Meisters. Das Werk sei voller "absichtlicher Fehler", meint der Theatermacher Jan Lauwers anlässlich einer ausgiebigen Analyse, aber letztlich gehe es dem Künstler nicht darum, der Heilsgeschichte etwas hinzuzufügen, sondern "die Geheimnisse der Malerei zu entdecken."

Nicht alles Gold was glänzt

Die Analogie ist deutlich: Der Chef der belgischen Needcompany hat im Prinzip eine Menge zu sagen, aber eigentlich geht es ihm um die Geheimnisse der Theaterkunst. Er entdeckt sie an diesem Ruhrtriennale-Abend mit dem Titel "All the Good" nicht, weder als Autor noch als Regisseur seiner zwölfköpfigen Truppe, zu der allein vier Mitglieder seiner Familie gehören (Grace, Romy, Victor und Jan). Der knappe van-der-Weyden-Epilog, untermalt von einer suggestiven Streichermusik (Maarten Seghers), ist der stärkste Part einer performativen Nummernfolge, die sich viel Mühe gibt, intellektuell zu glänzen, aber viel zu oft ins Beliebige rotiert.

All the good 1 560 Maarten Vanden Abeele u"Ein gutes Brot ist besser als ein schlechtes Kunstwerk!"  © Maarten Vanden Abeele

Viele Themen werden aufgerufen und angerissen, vom Palästinakonflikt bis zum Terroranschlag in Brüssel im März 2016, in Moolenbeek, dem Stadtteil, in dem auch die Needcompany beheimatet ist (um die Ecke habe Magritte gewohnt). Das Töten im Krieg wird hinterfragt (Ist es Mord?), Sex ist eine große Sache, eine Portion Feminismus darf nicht fehlen, Exkurse in die Kunstgeschichte kommen hinzu – und der Autor Lauwers, der sich als Darsteller meist am Rand der Szene bewegt und sich von einem körper- und stimmmächtigen Double vertreten lässt, flüchtet sich in die Attitüde eines "irreführenden" – also unzuverlässigen – Erzählers.

Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn der Abend tatsächlich einen roten Faden erkennen ließe und der Erzähler überhaupt eine Strategie. Nicht dass sich auf die gestellten Fragen keine Antworten finden lassen, ist "All the Good" vorzuwerfen, sondern dass viel zu viele Fragen in dieses mäandernde Diskurs-Potpourri geworfen und wie in einem Cocktailmixer durcheinander gerührt werden. Der israelische Ex-Soldat Elik, der gegen die Hisbollah gekämpft hat und sich später zum Tänzer ausbilden ließ, kommt zunächst gar nicht zu Wort; viel wichtiger scheint eine höchst familiär wirkende Sexszene zu sein, in die Romy Lauwers ihn verstrickt.

Rabiat und lebensecht

Sie filmt dann ihre Vagina, in Anspielung auf Gustave Courbets berühmtes Bild "Der Ursprung der Welt", es zeigt gleichfalls die Scham einer Frau. Ist das nur ein "blubberndes Etwas", oder erzählt es etwas über die "Welt"? "Ihre Vagina fühlte sich etwas wund an nach soviel Aufmerksamkeit", raunt der Erzähler im Anschluss an die Kuschelszene. Es folgt eine orgiastische Musik- und Tanzeinlage. Eliks Penis, soviel Geschlechtergerechtigkeit muss sein, erfährt dann aber ebenfalls sehr viel Aufmerksamkeit in Großaufnahme. Lustig!

All the good 2 560 Maarten Vanden Abeele uMäandernder Diskurs-Potpourri mit Tanzeinlagen © Maarten Vanden Abeele

Nach einer Reihe von Plattitüden ("Ein gutes Brot ist besser als ein schlechtes Kunstwerk") folgt der feministische Part. Die Malerin Artemisia Gentileschi, die im 17. Jahrhundert als erste Frau Ölfarben verwenden durfte, wurde von ihrem Lehrer vergewaltigt (und zeigte ihn an). Das muss man unbedingt auf der Bühne simulieren, um sich so recht in Artemisia einfühlen zu können! Doch die Simulation einer Vergewaltigung, mag sie noch so rabiat und lebensecht performt sein, wirkt nur peinlich.

Sex ist überflüssig

Gegen Schluss, die Installation aus Glaskugeln im Hintergrund (die schönen Gebilde stammen aus Hebron) hat sich inzwischen in ein gläsernes Reptil, vielleicht einen Dinosaurier verwandelt, hat Grace Ellen Barkey ihr Tinder-Date. Denn ihr Mann Jan ist der Überzeugung, Sex und Kunst hätten die gleichen Wurzeln (was ja immerhin stimmt), also Sex = überflüssig. Uff, noch mal Sex live? Nein, diesmal wird die entscheidende Szene geskippt. Wenn Überdruss droht, versteht sich also auch Jan Lauwers auf die Kunst der Auslassung. Oder sollte hier Eifersucht im Spiel sein?
Im Epilog wird der gepeinigte Zuschauer mit einigen Minuten der Meditation beruhigt. Star des Abends ist aber nicht einmal der wunderbare van der Weyden; es ist die unübertrefflich majestätische Maschinenhalle Zweckel zu Gladbeck, geduldig und stets zu Diensten der Kunst.

 

All the Good
Regie, Text, Bühne: Jan Lauwers. Musik: Maarten Seghers. Kostüm: Lot Lemm. Dramaturgie: Elke Janssens. Lichtdesign: Ken Hioco, Jan Lauwers.
Mit: Grace Ellen Barkey, Romy Louise Lauwers, Victor Lauwers, Jan Lauwers, Sarah Lutz, Benoit Gob, Elik Niv, Yonier Camilo Mejia, Jules Beckman, Simon Lenski, Maarten Seghers, Elke Janssens.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Premiere am 22. August 2019, Maschinenhalle Zweckel Gladbeck.

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

"Sex, nackte Wahrheiten und Video: Hier nimmt keiner ein Feigenblatt vors Geschlecht", schreibt Christine Dössel in ihrem Ruhrtriennalen-Auftaktbericht in der Süddeutschen Zeitung (26.8.2019). Lauwers' Tochter Romy "filmt sogar live aus ihrer Vagina und feiert das Videostill als das 'ultimative Bild, das alle Bilder in sich trägt'". "All the good" sei jedoch viel zu privatistisch, familienchaotisch und überladen, um dem Anspruch des Stücks standzuhalten, eine profunde Kunst-, Selbst- und Schmerzbefragung in Zeiten von Krieg, Terror und Identitätskrisen zu sein. "Da verläppert vieles in exhibitionistischer Selbstdarstellung und kleinteiligem Tohuwabohu." Dominiert werde die Bühne von einer Skulptur aus 800 blauen Glaskugeln in Tropfenform, "das Ding sieht aus wie ein Schwan mit Rüssel und steht für das Kunstwerk an sich: schön, nutzlos, zerbrechlich, auf nichts eine Antwort gebend".

"Diese Auseinandersetzung, bei der Europäer gedanklich zwischen die Fronten des Israel-Palästina-Konflikts und ihre Moralvorstellungen an eine Grenze geraten, hätte man sich fokussierter, intensiver, ausführlicher gewünscht," schreibt Max Florian Kühlem in der Rheinischen Post (25.2019). "Schließlich hat die Diskussion um Israelkritik von einer deutschen und europäischen Warte aus die Ruhrtriennale vergangenes Jahr ordentlich durchgeschüttelt und ihre Intendantin fast den Job gekostet."

"Es ist eine außergewöhnlich schöne Erfahrung, diesem Theater beizuwohnen, es ist, als ginge man mit alten und jungen Freunden essen, säße an einem sehr großen Tisch sehr lange zusammen und alle brächten alles zur Sprache, was sie beschäftigt", schreibt Wiebke Hüster in der FAZ (24.8.2019). "Vieles an diesem Abend ist sehr ernst und betrifft Fragen unseres Verhältnisses zur Welt. Manches ist witziger Unsinn, verspielter, poetischer Quatsch."

"Überbordend und verwirrend, aber auch beglückend", so Karin Fischer im DLF (23.8.2019). "Lauwers Bühnen sind immer Arbeits- und Kunsträume, in denen dem Überbordenden, Märchenhaften, Unverständlichen Raum gegeben wird. Vor allem aber dem Persönlichen." Die Überblendung von Kunst und Leben gehe sehr weit und ist sehr explizit: "Gustave Courbets 'Origin du Monde' – das Bild zeigt den nackten Unterleib einer Frau und löste einen Skandal aus – wird das Innere von Romys Vagina gegenübergestellt." Man könnte sich  auch ärgern über Lauwers idiosynkratischen, ständig überfordernden Kunst- und Familienkosmos. "Am Ende aber überwiegt das Staunen, wie viel Geschichten, Chaos, Kunst, ja Welt da drin ist und wie viele richtige Fragen dieses Theater aufwirft, mit hohem Unterhaltungsfaktor und viel Poesie."

"In der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck mäandern die Dialoge der 1986 gegründeten Needcompany entlang der Themen Palästinakonflikt, Terroranschlag in Brüssel, viel Identitätspolitik und noch mehr Kunst", schreibt Benjamin Trilling in der taz (30.8.2019). "'Die Welt ist nicht die Welt, sondern eine Erfindung', heißt es müde in einem der Dialogwechsel. An diesen Abend erweist sich die ausgerufene Repräsentationskrise als erschöpfend."

 

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