Die Ratten - Schauspiel Frankfurt
Wenig empfindsamer Abend
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 6. September 2019. Naturalismus ade, der Elendsporno fällt diesmal aus. Wo Gerhart Hauptmann seine Figuren in eine abgewohnte Mietskaserne sperrte, steckt die Regisseurin Felicitas Brucker sie in ein Behältnis mit Plexiglaswänden, das aussieht wie eine Mischung aus Hamsterrad und Fahrgeschäft, samt Leitern, Emporen und Neonlicht (Bühne: Dirk Thiele Galizia). Darin hausen keine Menschen, sondern Laborratten. Achtete Hauptmann auf die Standesunterschiede im Haus, wahrte das Oben und das Unten, schert sich Brucker nicht um Klassenfragen. Folgerichtig sieht Frau John bei ihr aus wie aus dem Land's End-Katalog, und Schmierentheaterdirektor Harro Hassenreuter (Sebastian Kuschmann) wie überhaupt niemand, den man kennt. Irene Ips Kostüme befreien die Figuren vielmehr vor gesellschaftlich eindeutigen Zuschreibungen und spielen beherzt mit Rollenklischees.
Dass in Bruckers Inszenierung von "Die Ratten" nicht der Versuch unternommen werden soll, Wirklichkeit abzubilden, gar Authentizität vorzugaukeln, wird vom ersten Moment an überdeutlich. Beachtlich, gilt Hauptmanns 1911 uraufgeführtes Stück doch gemeinhin als Klassiker des Naturalismus. Brucker indes sieht darin mehr Expressionismus als Realismus, weswegen die Schauspieler bei ihr eher wie Puppen agieren, deren Körper sich unnatürlich verrenken, strecken, ducken; die ungezügelte Nachbarin Alice Knobbe (Friederike Ott) zittert pathetisch an beiden Händen, der verschreckte Pastor Spitta (Peter Schröder) zieht beim Gehen hilflos ein Bein nach. Versehrte, die der Regieanweisung "Express Yourself!" eilfertig nachkommen. Nicht wer hier agiert oder was sie miteinander verhandeln, ist von Interesse, sondern wie sie es tun. Die Formanstrengung ist löblich, wirkt aber zuweilen etwas zu angestrengt.
Tragikkühle, keine Komödie
Sprachlich unterscheiden sich die Leute wie in Hauptmanns Stück, hier Dialekt und Akzent, dort Hochdeutsch, wobei weder die einen noch die anderen durchweg gut zu verstehen sind (Reihe sieben!), mal zu leise, mal zu undeutlich. Patrycia Ziolkowska als Frau John, die dem polnischen Dienstmädchen Pauline Piperkarcka (Sarah Grunert) ihr neugeborenes Kind abschwatzt und später alles dafür tut, diese Grausamkeit zu vertuschen, bildet das kraftvoll kühle Zentrum der Inszenierung. Oft in gramgebeugter Strenge und mit schreckensweiten Augen.
Hauptmanns Tragikomödie verbindet die Tragödie um Frau John mit der Komödie um den Theaterdirektor Hassenreuter, der auf dem Dachboden seinen Theaterfundus deponiert und dort Schauspielschüler unterrichtet. Der Sprechunterricht garantiert immer Lacher, Brucker verzichtet darauf. Das dazugehörige Gespräch über die dramatische Kunst zwischen Hassenreuter und Erich Spitta transportiert ihre Spielfassung indes reibungslos ins Heute. Repräsentationsfragen stehen jetzt zur Debatte. Das ist durchaus plausibel, bleibt aber wie manch anderer Einfall folgenlos.
Traurig glattes Gespenstertreiben
Vier Puppen stehen zwischen den Schauspieler*innen, reproduzieren vier Erwachsene des Stücks im Kinderformat. Das erinnert an Jan-Christoph Gockels Mainzer "Die Ratten"-Inszenierung aus dem Jahr 2015, die den Figuren Wiedergänger-Puppen an die Seite stellte. Doch während das in Mainz eine zusätzliche Spielebene einzog, verpufft die Idee in Frankfurt. Die Puppen stehen einfach rum und werden hier und da mal angespielt.
Der schmerzhafteste Augenblick an diesem wenig empfindsamen Abend ereignet sich zwischen Frau John und ihrem Bruder Bruno, der bei Fridolin Sandmeyer nicht diabolischer Depp vom Dienst, sondern traumtänzerischer Spinner ist, der aus Liebe zu seiner Schwester zum Mörder wird. Nach der Tat umklammert Frau John das nassgeschwitzte Nervenbündel von einem Bruder wie einen Fels in der Brandung. Ein rarer Moment der Nähe inmitten des exaltierten Gespenstertreibens. In zwei glatten Stunden schnurrt die Inszenierung ab, untermalt von verwechselbarer E-Gitarren-Musik, die Atmosphäre und traurige Tanzschritte generiert. Insgesamt gesehen kein Abend, der einen frohlocken lässt, und keiner, über den man sich echauffieren müsste. Für einen Spielzeitauftakt ziemlich lau.
Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Dirk Thiele Galizia, Kostüme: Irene Ip, Musik: Philipp Weber, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt Mit: Sebastian Kuschmann, Katharina Linder, Altine Emini, Peter Schröder, Samuel Simon, Andreas Vögler, Patricia Ziolkowska, Fridolin Sandmeyer, Sarah Grunert, Friederike Ott, Kristin Alia Hunold, Christoph Pütthoff, und Philipp Weber (Live-Musik).
Premiere am 6. September 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Schwer verständlich sei auch die Berlinernde Kunstsprache, die "wie eine Barriere" wirke. Die Schauspieler agierten konzentriert, doch trotz des menschlichen Dramas stelle sich keine psychologische Tiefe ein.
Als "fade und leerlaufend" beschreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.9.2019) den Abend. Bruckers Inszneierung habe "zwar eine Form, aber keinen Rhythmus. Diese Inszenierung atmet nicht, sie rasselt, keucht und hechelt. Nie kommt sie zu sich, sondern bleibt zwei Stunden lang Anspannung und Ambition."
"Alles in allem brachte Felicitas Bruckers moderne Inszenierung Hauptmanns Theaterklassiker mit stark berlinernden Schauspielern so aufwendig wie spannungsgeladen auf die Bühne", findet hingegen Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (9.9.2019). Das Hauen und Stechen zwischen den Menschen sei hier
"raffiniert und elegant gerahmt".
Auch Judith von Sternburg kann der Inszenierung in der Frankfurter Rundschau (9.9.2019) einiges abgewinnen: "Während die konkreten sozialen Gegebenheiten ebenso auf der Strecke bleiben wie die politischen Implikationen, die sich daraus ergeben, während sich Exaltiertheiten Bahn brechen und es während es im kalten Licht frisch bleibt – keine Tränen, fast kein Gelächter –, kann man doch interessiert und konzentriert auf Hauptmanns geniale Dramaturgie und Menschenkenntnis schauen und hören. Und ein Theater erleben, das künstlich, kunstfertig und doch lebendig wirkt."
In der Frankfurter Neuen Presse (9.9.2019) schreibt Stefan Michalzik gar von einem "grandiosen Abend mit einem erstklassigen Ensemble". Brucker nehme den Text beim Wort mit einer "schnörkellos direkten wie subtilen Erzählweise".
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Vielleicht versteht Frau Sojitrawalla einfach nicht den Berliner Dialekt. Det is ja nich schlimm, allet jut, wa!?
Gleiche Erfahrungen wie die Kritikerin gemacht.
Bin im übrigen absolut dialektfest im Deutschen, trage kein Kind im Ohr und habe ärztlich zertifizierte beste Hörfähigkeit.
Nach dem großartigen „Vor Sonnenaufgang“(Regie: Vontobel) war dieser Hauptmann-Abend eine herbe Enttäuschung.
Aber die Spielzeit beginnt ja erst.
Hier ebenso Reihe 7, bestimmt genauso dialektfest. Habe alles verstanden, keinerlei Probleme dialekt-, noch lautstärkebedingt.
Also dem Arzt würde ich aber die Leviten lesen! Oder nochmal aufs Datum vom Zertifikat schauen.