Familienfanal im Vorstadtgarten

von Severin Perrig

Luzern, 13. September 2008. Hamlet ist, soviel sei gleich vorweggenommen, keinesfalls tot, allenfalls scheintot. Denn sonst wäre nur Schweigen. Aber da ist soviel Gerede am Ort des Schweigens, auf dem Vorort-Friedhof. Nur ein Junger namens Hannes ist so richtig tot. Vor den Vätern beerdigt man eben meist schon die Söhne. Und "diese Zufallsscheiße" beinhaltet, dass sich zwei Paare beim Begräbnis einfach so über den Weg laufen. Bine (Daniela Britt) und Oli (Manuel Kühne) können es kaum fassen, diese "Ironie des Schicksals". Denn die Freunde Dani (Samia von Arx) und Mani (Samuel Zumbühl) sind alte, nur zu gute Bekannte in dieser unheimlichen Vorstadt-Tristesse.

Und während Bine und Oli sich Begegnung und Befindlichkeit lügenhaft glücklich reden, sind sich die beiden andern und deren Vater Kurt (Jörg Dathe) und Mutter Caro (Bettina Riebesel) nicht ganz sicher, ob und wie überhaupt mit dem Reden anzufangen sei. Der Blick ins Publikum erhofft sich die richtigen Regie-Stichworte. Denn das eigene Familienleben in der eingezäunten Reihenhaussiedlung bedarf offensichtlich einer grundsätzlichen Erklärung. Deren kleinkarierte Gärten schließen ja auch nahtlos an den Friedhof an.

Diskurs im Alltagskauderwelsch

Doch was nun allmählich losgeht, ist ein eigenartiges, künstliches Sprachballett. Harmlos naiv und doch immer unerwartet aggressiv. Aber stets genügend unpräzise, um das Kerngeschehen im eigenen Haus nur statisch zu umkreisen. Die Zuschauer lachen dabei, weil banalste Begriffe wie "Braten" mehrdeutig werden, anzitierter intellektueller "Diskurs-Dreck" im Alltagskauderwelsch aufläuft oder weil die vulgäre Banalität des Faselns geradezu unüberbietbar ist.

In diesem immer wieder aufflackernden Amüsement lässt der deutsche Regisseur Hannes Rudolph die Figuren gekonnt verhalten ihre fatale Erzählung loswerden. "Faulig stinkt's" irgendwie in dieser Gartenzwerg-Welt mit globalen Ansprüchen, wo Schein und Sein auseinanderklaffen. In der daraus resultierenden "gottverdammten Befindlichkeitsscheiße" suchen alle drei Paare nach jenem Punkt, wo die Schwerkräfte glückverheißend versagen. Bine und Oli lieben sich, ohne dass da gleich was "im Kommen" sein muss. Umwerfend komisch sucht Mutter Caro nach einer adäquaten Entsorgung einer lästigen Greisin, was nicht sofort nach Mord aussehen soll. Derweil möchte ihr Mann ein neues System des "Vögelns" erfinden, wobei die dadurch angestammten Beziehungen keinesfalls gefährdet werden müssen.

Denken oder Nicht-Denken

Doch nur die Geschwister Mani und Dani erleben einen solchen Zustand der Schwerelosigkeit, indem sie zueinander gravitieren. Sie verfügen eben über mehr als nur "Stichworte". Ihre Monologe geben dem Stück seine bezeichnende Schwerkraft, um unerbittlich auf das Ende hin voranzutreiben. Mit axialer Gewalt, worüber Danis Kopf immer wieder zu explodieren droht.

Dagegen ereifert sich Mani großartig grotesk in schulmäßiger Analysis. Denken oder Nicht-Denken, das scheint die Frage, welche die "himmlische Maschine" in den Köpfen immer wieder generiert. Bis zum bitteren Ende, das dann mehr Dinge ausmalt als man es sich aus dieser anfänglichen Begegnung auf einem gewöhnlichen Totenacker träumen lässt. Wird da das dicke Ende schon im Amok der Familie von Hannes als Fanal vorweg erzählt? Wiederholt sich in dieser Schwerelosigkeit einfach alles jederzeit bei andern wieder?

Vergebener Märchenschluss

Der österreichische Autor Ewald Palmetshofer lässt am Schluss in einer so global wirkenden Ödnis ausgerechnet Oli, die schwächste Figur, die "Geschichte mit dem Himmel" erzählen. Als müsste sie das Büchnersche Anti-Märchen aus dem "Woyzeck" in den Schatten stellen, ist hier selbst im Himmel nicht nur alles bereits verfault, sondern es braucht nicht einmal mehr den irdenen Nachttopf, das Klo als zentrales Möbelstück. In der Schwerelosigkeit sitzt eh' nichts mehr. Denn die Großmutter fliegt die Treppe runter, die Mutter kotzt sich aus und der Vater ist im Anzug. Der Rest sei Schweigen.

Schade, dass Regisseur Hannes Rudolph gerade für dieses Ende auf Requisitenkammer, Jukebox und eine plane realistische Spielweise setzt. Während er zuvor konsequent und beklemmend, in einer griffig alltäglichen Bildsprache auf das Finale des fatalen Familiendramas hinführt, uns dabei possierlich "im Scherz vergiftet", nimmt er jetzt dem Schluss zuviel an Gewicht. Das mag dem leichtsinnigen Mut zur Ironie geschuldet sein, doch wen soll sie ohne zusätzliche Schwerebeschleunigung überhaupt noch treffen. Zeit und Raum sind ja den Zuschauenden längst schon selber aus den Fugen geraten. Ob all der Worte, Worte, Worte.


hamlet ist tot. keine schwerkraft
von Ewald Palmetshofer
Regie: Hannes Rudolph, Bühne: Tobias Schunck, Kostüme: Anna Schnyder, Licht/Ton/Technische Einrichtung: David Clormann und Flavio von Burg. Mit: Samia von Arx, Daniela Britt, Jörg Dathe, Manuel Kühne, Bettina Riebesel, Samuel Zumbühl.

www.luzernertheater.ch

Mehr über Ewald Palmetshofer: Sein zweites Stück wohnen. unter glas wurde im März 2008 von Hanna Rudolph in Graz uraufgeführt. Im April 2008 folgte am Münchner Volkstheater die Deutschsprachige Erstaufführung durch Frank Abt. Mit hamlet ist tot. keine schwerkraft war Palmetshofer zu den 33. Mülheimer Theatertagen eingeladen, ein ausführliches Dossier mit Stückkritik und Dramatikerporträt finden Sie weiter auf der Seite www.nachtkritik-stuecke08.de. Und hier spricht der Dramatiker persönlich.

 

Kritikenrundschau

Kurt Beck zeigt sich in der Neuen Luzerner Zeitung (15.9.) von Stück und Inszenierung durchaus angetan. Das abgründige wie amoralische Drama von Ewald Palmetshofer sei kein leichter, aber ein spannender Stoff, der sein Potenzial langsam in "Gerede, Selbstgesprächen, Scheindialogen" entfalte. Becks Beschreibung zufolge gelingt es der Inszenierung, den Zuschauer zu packen. Anfangs weniger stark, aber mit steigender Tendenz. Seine Kraft bezieht der Abend dem Eindruck des Kritikers zufolge aus der Tatsache, dass sich der Regisseur ganz der Sprache gewidmet hat und es in der Konsequenz mehr ein Hör- als ein Schauspiel inszeniert hat.

"Das stilistisch Schillernde gilt für Palmetshofers ersten großen Erfolg", schreibt Tobias Hoffmann in der Neuen Zürcher Zeitung (17.9.). Die vertrackte Zeitstruktur finde sich in der Spielsituation wieder, "in der erzählende Rekonstruktion und erspielte Gegenwart ganz eng ineinandergreifen; sie hat auch ein Echo in den theoretischen Exkursen der Figuren." Hannes Rudolph "versucht, die psychologischen Spannungen zwischen den vielfach verstrickten Figuren sichtbar zu machen." Blickkontakte und Haltungen holen diese Spannungen in die Gegenwart der Aufführung, "andererseits verengt es Rudolph, indem er aus dem Text einen sozialdarwinistischen Verdrängungskampf ableitet und ihn mit einer Kleinbürger-Satire verknüpft." Der Rezensent weiß auf die Frage, ob es Palmetshofer "um soziale Dramatik geht – oder doch eher um ein dramaturgisches Vexierspiel?" keine Antwort. "Sein Stück ist auf jeden Fall nach allen Enden offen."

Was der Schweizer Radiosender DRS befand, finden Sie hier, und hier, was die Kollegen von DRS2 zu sagen hatten.

 

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