Warnung an die Gegenwart

von Katrin Ullmann

Hamburg, 14. September 2019. Boxende Literaten und Literatur, die sich mit dem Boxen beschäftigt, gibt es zuhauf. Von Heinrich von Kleist, Arthur Cravan, Georges Simenon, Ernest Hemingway über Joyce Carol Oates, Djuna Barnes bis hin zu Bertolt Brecht. Einige der Genannten boxten selbst, andere schrieben über den Faustkampf. Verfassten Romane, Erzählungen, Manifeste, Abhandlungen. Der Boxer: das Tier im Mann, das Testosteron im Ring.

Liebschaften, Ehen und Affären

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat womöglich das jüngste Buch zu dem Sujet geschrieben. "Der Boxer" heißt es und ist, 2018 erschienen, sein dritter ins Deutsche übersetzte Roman. Er spielt in Warschau zwischen den Kriegen, als die Metropole vor dem Einmarsch der Nazis und der anschließenden Zerstörung noch eine Vielvölkerstadt war. Im Fokus des Textes stehen die polnischen Juden, damals Bürger zweiter Klasse und Jakub Shapiro, ein talentierter (jüdischer) Boxer, der sich – im Wortsinn – durchschlägt. Durch die Unterwelt und durch sein Leben, das geprägt ist von der Wirrnis der Zeit und von Liebschaften, Ehen und Affären, in die er sich lebenshungrig stürzt. Und natürlich klebt Blut an seinen Händen.

DerBoxer1 560 Sebastian Hoppe uMann gegen Mann oder die Welt unter Testosteron-Terror © Krafft Angerer

Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak hat den Roman in der Gaußstraße, der kleinen Spielstätte des Hamburger Thalia Theaters auf die Bühne gebracht. Sie wolle damit von den Umständen erzählen, unter denen das Böse ausbricht und davon, dass Gewalt nicht polnisch, jüdisch oder deutsch sei, sondern universell. So zumindest wird Marciniak, die in Polen bereits vielfach ausgezeichnet wurde, 2016 am Theater Freiburg in Deutschland debütierte und nun zum ersten Mal am Thalia Theater arbeitet, im Programmzettel zitiert.

Tänzerische Leichtigkeit

Dass ihr genau dieses Vorhaben gelingt, ist weniger erstaunlich. Viel bemerkenswerter ist, dass Marciniak dafür ganz auf Gewaltdarstellungen verzichtet. Sicherlich wird auf der Bühne mit Pistolen gefuchtelt und auch gekämpft. Doch tatsächlich wohnt jeder einzelnen Szene eine unbeirrbare und tänzerische Leichtigkeit inne. Diese Lust am Spiel und am Spielerischen erzählt dann umso genauer und abgründiger von jenen Menschen, die sich durch die Zeiten schlängeln, die sich einfügen, anpassen, prügeln und korrumpieren. Die sich verführen und erpressen, aber dabei das Leben nicht vergessen: Denn irgendwo schwingt immer der Charleston mit, irgendwo tanzt immer ein Knie. Auf merkwürdig altmodische, aber sehr gewinnende Art dominiert die Choreografie (Dominika Knapik) diese Inszenierung.

DerBoxer2 560 Sebastian Hoppe uTanzen, obwohl über Warschau der Pottwal sein häßliches Maul bereits zu öffnen beginnt © Krafft Angerer

Da mutet der Faustkampf zwischen Jakub Shapiro (Sebastian Zimmler) und seinem vermeintlichen Zögling Mosche Bernstein (alternierend gespielt von den Jungdarstellern Tarik Sanli und Goya Brunnert) wie ein heiterer Steptanz an. Da wirft sich Shapiros betrogene Ehefrau Emilia (Anna Blomeier) eilig ein Lachen ins Gesicht und dann dem zwielichtigen Redakteur Kazimierz Bobinski (Sven Schelker) in die Arme. Es erzählt die Bordellbesitzerin Ryfka (Rosa Thormeyer) in fast lapidarem Ton von sexueller Gewalt, schildert Sebastian Zimmler detailgenau einen brutalen Mord: die Hände hat er dabei in die Hosentaschen versenkt, die Stimme einen fast leichtherzig singenden Ton. Als wäre nichts dabei. Das Leben geht schließlich weiter. Mal furchtsamer, mal zuversichtlicher, doch immer tänzelnd. Reichlich fließen Wodka, Cognac und Champagner, perlt ununterbrochen Musik. Und doch ist klar, dass das Ungeheuer sich nähert, dass "der graue Schädel des Pottwals über Warschau" schwebt. "Er hat sein Maul geöffnet und stimmt sein Lied an."

Nuancen und Zwischentöne

An diesem Abend wird nicht mit Bildern ein Gegenwartsbezug gebaut. Der Hass, der Antisemitismus, den Buch und Inszenierung darstellen, ist historisch – als Warnung an die Gegenwart funktioniert er dennoch. Ewelina Marciniak erzählt den Roman aus der Perspektive der Frauen, die Shapiros Leben teilen – Toini Ruhnke als akrobatische Anna und Tochter des Staatsanwalts, sei hier noch ergänzt. Diese Perspektive verleiht der Inszenierung einen zutiefst menschlichen Blick, der geleitet wird von der Sehnsucht nach Halt in unruhigen Zeiten, nach Orientierung im anschwellenden Chaos. Marciniak lässt in ihrer fast naiven 20er Jahre Optik (Kostüm: Julia Kornacka) vor allem Twardochs Sprache Raum, die voll ist von Nuancen und dunklen Zwischentönen. Und nicht zuletzt der Hauptfigur, die Zimmler in ihrer Selbstherrlichkeit, ihrer Verzweiflung und ihrer Bereitschaft, alles immer wieder aufs Spiel zu setzen, fantastisch zeigt. Ein Boxer eben. Unbeirrbar. Links, rechts. Und Deckung.

 

Der Boxer
nach Szczepan Twardoch
Bearbeitung: Jaroslaw Murawski
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Uraufführung
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne: Miroslav Kaczmarek, Kostüme: Julia Kornacka, Dramaturgie: Susanne Meister
Jarosław Murawski, Musik: Jan Duszyński, Choreografie: Dominika Knapik.
Mit: Sebastian Zimmler, Sven Schelker, Toini Ruhnke, Rosa Thormeyer, Anna Blomeier, Oliver Mallison, Tarik Sanli, Goya Brunnert, Tarik Sanli. Livemusik: Anita Wälti.
Premiere am 14. September 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak inszeniert "Twardochs elegant und mitreißend fließendem Romanstoff", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (15.9.2019). "Ihr gelingt ein stimmiger Abend, der verblüffend sicher um seine Mittel weiß und gekonnt Text, Spiel und Choreografie mit bedrohlicher Elektronik, mal mit sehnsuchtsvollem Trompetenspiel verblendet." Sie erzähle klug von der Selbstbehauptung der drei zentralen Frauenfiguren des Romans. "Zwischen den Buchdeckeln sind sie ein wenig flach geraten, die Geliebten, Ehefrauen und Liebenden im Wartestand. Auf der Bühne werden sie zu Kämpferinnen mit ihren eigenen Waffen."

"Polnische Chansons, Abendgarderobe, Improvisationen: Die vielfach ausgezeichnete Regisseurin spart nicht mit Assoziationen", so Peter Helling im NDR (15.9.219). Aber auf keinen Fall will sie die Geschichte als Historiendrama erzählen. Der Abend sei ein Spiel mit der Zeit. "Tatsächlich durchweht Melancholie den Zuschauerraum." Der Boxer, seine Geliebte, der polnische Nationalist - sie alle wissen noch nichts von dem, was sie erwartet. "Und damit haben wir etwas mit ihnen gemeinsam. Denn jede Gegenwart ist in gewisser Weise blind."

 

Kommentare  
Boxer, Hamburg: Tut sich schwer
Das Publikum sitzt ganz nah dran am düsteren Geschehen auf der fast leeren Bühne. Aber auch eine so begabte junge Regisseurin wie Ewelina Marciniak tut sich sichtlich schwer, aus einem dicken Roman einen überzeugenden Theaterabend zu machen.

Die typischen, schon hundertfach erlebten Probleme, die sich dabei stellen, einen umfangreichen Roman mit all seinen erzählerischen Abschweifungen, essayistischen Passagen und Handlungssträngen in eine komprimierte Bühnen- und Spielfassung zu transformieren, machen auch Marciniak beim „Boxer“ zu schaffen.

Das Gewimmel der Romanfiguren macht es für roman-unkundige Zuschauer schwierig, die einzelnen Personen auseinanderzuhalten. Scharfe Konturen bekommen vor allem der Hauptdarsteller Shapiro (Zimmler) und seine Gegenspieler (Sven Schelker in einer Doppelrolle) sowie Ryfka mit einigen eindringlichen Monologen zur Gefahr des Antisemitismus. In dieser Rolle überzeugt Rosa Thormeyer bei ihrem ersten Auftritt im Thalia-Ensemble, mit Marciniak arbeitete sie bereits in Freiburg beim „Sommernachtstraum“ zusammen.

Der Hamburger Roman-Adaption fehlen der jugendliche Charme, der Witz und die Phantasie dieser Freiburger Komödien-Inszenierung. Dem „Boxer“ ist sichtlich anzumerken, dass auf dem Abend die schwere Last drückt, die wichtigsten Handlungsstränge in zwei Stunden abzubilden und die politisch-mahnende Botschaft zu transportieren.

Marciniak erlaubt sich und ihrem Ensemble wenige spielerische Momente. In diesen Passagen blitzt ihr Können auf: Vor allem im Mittelteil arbeitet sie mit unterschiedlichen Tanzstilen der 20er und frühen 30er Jahre. Der Charleston und ähnliche Schrittfolgen aus der Zeit, als auch die Weimarer Republik auf dem Vulkan tanzte, bauten Marciniak und ihre Choreographin Dominika Knapik gekonnt in den Abend ein. Die zentralen Boxkämpfe zwischen Schelker und Zimmler haben eine tänzelnde Leichtigkeit, in der angenehm wenig von toxischer Männlichkeit zu spüren ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/22/der-boxer-thalia-theater-gaussstrasse-hamburg-kritik/
Der Boxer, Hamburg: Abschweifung
#1: Ein Roman IST eine erzählerische Abschweifung. Eine stringend erzählte Erzählung ist eine Novelle. Oder eine Romanerzählung, wenn trotz stringenter Erzählung wie eher für Romane typisch eine Vielzahl von Figuren verfolgt werden in ihren Handlungen und zu Worte kommen mit ihren Eigenheiten. Wenn man dies einmal experimentell als Definition gelten ließe, würden natürlich eine Vielzahl von als Roman bezeichneten Erzählungen, etwa die überwiegende Zahl von halbjährlich neu erscheinenden Krimis, Thrillern, Fantasy-Romanen oder Reise-Schicksals-Büchern, nicht mehr als Romane gelten. Obwohl sie massiv als solche bezeichnet, beworben und verkauft werden. Das wäre natürlich für Verlagsumsätze sehr schlimm, wenn diese Buchmassen jetzt per definitionem keine Romane mehr sein dürften. Aber andererseits wäre diese ästhetische Unterscheidungsarbeit für die Literaturwissenschaft ein lohnendes Untersuchungsfeld... Man muss sich - auch bei Romanen, nicht nur bei Theaterstücken, entscheiden, auch als Theaterdramaturgie, ob man eher die Freiheit der Kunst und Forschung schätzt und gesellschaftsrelevant für die Zukunftsgestaltung findet oder eben eher die Freiheit des Marktes...
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