Abschied in Weiß

von Michael Bartsch

Dresden, 14. September 2019. Man ahnt schnell, dass die Clownerie, die Slapsticks der ersten Szenen nicht durchzuhalten sein werden. Das ist mehr als Komödie, was vor allem Karina Plachetka als Dienstmädchen Dunjascha und Oliver Simon als der zum Kaufmann aufgestiegene Lopachin zum Auftakt bieten. Nebenbei eine Gelegenheit, das selten gesehene komödiantische Talent dieser und weiterer Ensemblemitglieder des Dresdner Staatsschauspiels zu bewundern. Lopachin stolpert chaplinesk über einen Hocker, während er auf den Zug aus Paris wartet, mit dem die Herrin des Herrenhauses und des Kirschgartens Ljubow Andrejewna Ranewskaja (Anja Lais) nach fünfjährigem Exil heimkehren soll. Dunjascha flirtet währenddessen mit dem Publikum und droht ihm zugleich mit Hinauswurf, sollte es sich nicht benehmen. "Das ist Tschechow!", wird man belehrt.

So geht es auch nach Ankunft des Zuges und der Familienzusammenführung der Ranewskis eine Weile weiter. Man meint, eher einer amerikanischen Sitcom beizuwohnen als einem vom großen Andreas Kriegenburg inszenierten Tschechow-Klassiker. Die Akteure verstolpern sich im Koffergewühl oder kalauern "Shampoo" statt des französischen "Chapeau" oder verbreitern sich über den Gebrauch der veraltenden Wendung "anno dunnemals".

Mit Komik, aber ohne Spott

Ist es auch Blödsinn, so hat es doch Methode. Der Hang zur Komik, ja zum Grotesken bleibt den ganzen Theaterabend über erhalten. Aber er dient zunehmend nur noch der Brechung, zumindest Auflösung unerträglich scheinender Konfliktsituationen. Denn Kriegenburg verspottet den Zustand des russischen Landadels um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht, wie man Tschechow auch interpretieren könnte. Er nimmt die Legenden von der "guten alten Zeit" sogar ernst, als das Gut Gewinn abwarf und der wundervolle Kirschgarten zu einem Mythos wuchs.

kirschgarten 010 560 fotosebastianhoppe uVor der Abholzung des Kirschgartens: Das Dresdner Ensemble spielt im Bühnenbild von Andreas Kriegenburg © Sebastian Hoppe

Auch die aufscheinenden hedonistischen Züge dieses privilegierten Lebens werden nicht verurteilt, die soziale Frage, auf wessen Kosten dieses möglich war, wird nicht gestellt. Es bleibt nur Faktum und Fatum, dass die Familie über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt hat, die ökonomische Seite vernachlässigte und also jetzt der Kirschgarten mangels jedweder Barschaft zum Verkauf steht. Der aus der untersten Schicht durch Eigenleistung emporgewachsene ehemalige Leibeigene Lopachin möchte sich erst mit der heimgekehrten Mutter Ljubow verbünden, kauft aber schließlich den Garten, um eine Ferienkolonie darauf zu errichten. Nicht aus Gier, eher aus Verantwortung.

Zwischen Tradition und Aufbruch

Dramaturgin Katrin Breschke beschreibt den Stoff als exemplarischen Konflikt zwischen begreiflichem Verharren im Tradierten und notwendigem Aufbruch. Und im Spiel bleibt offen, ob das Neue immer das Bessere ist. Schuldige sind nirgends auszumachen, nur Taugenichtse oder tragische Helden. Die komödiantischen Brechungen nehmen dem unvermeidlichen Abschied vom Kirschgarten und der idealisierten Vergangenheit ohnehin die Schwere.

kirschgarten 012 560 fotosebastianhoppe uDie letzten Tage des Landadels: Szene mit Henriette Hölzel, Anja Laïs, Eva Hüster, Hannelore Koch, Simon Werdelis © Sebastian Hoppe

Die Weiß-Optik der von Kriegenburg selbst gestalteten Bühne lässt keine Düsternis aufkommen. Ein weißer Guckkasten, durch ein Podium einen Meter über dem Bühnenboden sogar noch verkleinert, sorgt in Verbindung mit fast durchweg heller Lichtstimmung eher für ein freudvolles Ambiente. Beim Picknick wehen weiße Sommerkleider (Kostüme: Andrea Schraad); die Maske hat sogar die Gesichter mit weißen Streifen versehen.

Lebenshungrige Menschen

Das Weiß wirkt aber nicht steril, denn speziell Eva Hüster als Tochter Anja und Henriette Hölzel als Adoptivtochter Warja tragen sinnliche, lebenshungrige Momente in die Inszenierung. Von Dekadenz und degeniertem Adel mag man unter diesen liebesfähigen Menschen gar nicht sprechen. Eines der stärksten Bilder zeigt die siebenköpfige Familie eng aneinandergeschmiegt in einer Reihe.

kirschgarten 011 560 fotosebastianhoppe uDer Aufsteiger und die Absteigerin: Oliver Simon als Neukapitalist Lopachin und Anja Laïs als Landadlige Ranewskaja © Sebastian Hoppe

Einerseits klagt Anja über die alte Welt, der sie buchstäblich müde ist. Immer wieder bricht sie einschlafend zusammen, wird von den anderen gestützt und wieder aufgerichtet. Andererseits fehlt es über den erzwungenen Aufbruch aus dem vertrauten Gut hinaus auch nicht am geistigen Aufbruch. Hier haben Regie und Dramaturgie Tschechow offensichtlich ein bisschen aktualisiert. Simon Werdelis als Student Trofimov glaubt an den Fortschritt, will es nicht zulassen, dass eine Welt ohne Ziele und Ideale mit abgestumpften Menschen vor unseren Augen zugrunde geht. Geld interessiert ihn nicht, er ist beherrscht vom Streben "nach Wahrheit und höchstem Glück".

Es ist eine Lust, Kriegenburgs Liebe zum gestischen Detail und die räumliche Figurenführung zu erleben. Niemand steht nur zuhörend herum, alle führen jenseits des Textes ein Eigenleben. Die Melancholie des Abschieds kontrastiert zwar völlig mit den Späßchen des Einstiegs. Aber auch diese lange Kofferszene in Erwartung des abfahrenden Zuges wirkt nicht hoffnungslos, sondern ist sogar von stiller Heiterkeit getragen. Irgendwo wird ein neuer Kirschgarten mit weißen Blüten gepflanzt werden.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Aus dem Russischen übersetzt von Elina Finkel
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Peter Lorenz, Dramaturgie: Katrin Breschke.
Mit: Anja Lais, Eva Hüster, Henriette Hölzel, Raiko Küster, Oliver Simon, Simon Werdelis, Holger Hübner, Viktor Tremmel, Karina Plachetka, Hannelore Koch.
Premiere am 14. September 2019
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist die Stimmung des Wartens, dass endlich etwas passieren soll, die Kriegenburg hier auf der Bühne heraufbeschwört. Das funktioniert so gut, dass es sich teilweise leider auch auf den Zuschauer überträgt", so Thilo Sauer vom Deutschlandfunk (15.9.2019). "Der Inaktivität fehlt die Verzweiflung, der Untergang ist schon ausgemacht. So beginnt dieser Abend zwar mit viel Energie, Spielfreude und Ideenreichtum, lässt dann stetig nach. Die drei Stunden beginnen, sich zu ziehen, anzustrengen."

Kriegenburg führe all die bissigen Stellen im Text nicht nur als Komödie auf. "Er dehnt den Schmerz ins Lustvolle", schreibt Marcel Pochanke in der Sächsischen Zeitung (16.9.2019).

"Wenn es so etwas gibt wie eine zarte Groteske, dann ist es Kriegenburgs 'Kirschgarten'", schreibt Thorsten Klaus von den Dresdner Neuesten Nachrichten (16.9.2019). "Theater muss, soll überraschen – das tut es hier. Russische Erdenschwere, angeleichtert, ohne zu verflachen." Und weiter: "Einzig die beiden aktuellen Bezüge in Monologen von Anja und Trofimow erscheinen übertrieben. Ansonsten hat dieser Tschechow Spaß gemacht."

Gabriele Fleischer schreibt in der Freien Presse aus Chemnitz (16.9.2019): Der Regisseur lasse seinen Protagonisten viel Raum, "ihr komödiantisches Talent auszuleben". Er verzichte auf "technischen Firlefanz" und folge dem Stil der Commedia dell'arte. Körpersprache bestimme das Geschehen. Es sei ein Vergnügen, den Schauspielern zuzusehen.

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