Böse Buzzwords

von Esther Slevogt

17. September 2019. Wer schon mal bei einem Popkonzert war, bei dem die Stars ihr Publikum flüsternd aufgeheizt hätten, bitte melden. Denn normal ist eher, dass die Stars ihr Publikum brüllend, tobend und aufreizend adressieren. Selbst in meinem bürgerlichen Heldenleben war das bisher so. Denn so macht das auch der Kasper im Kasperletheater, wenn er mit der Pritsche drohend sein Publikum mit dem Ruf hinter sich zu versammeln sucht: "Seid ihr alle da!?" That’s Entertainment.

Schrundig polterndes Statement gegen Rechts

Die Tradition beginnt nicht erst mit Mick Jagger oder Axl Rose oder – ja, Herbert Grönemeyer, der dieser Tage in der Wiener Stadthalle ein Konzert gegeben hat – einer der größten Eventlocations in Europa mit über zehntausend Plätzen by the way. In einem schrundig gebrüllten Statement gegen Rechts adressierte Grönemeyer im Rahmen dieses Konzerts sein begeistert akklamierendes Publikum, keinen Millimeter nach rechts zu weichen und erinnerte daran, dass es "an uns liegt, zu diktieren, wie diese Gesellschaft auszusehen hat".

Das hat ein kleines Filmchen festgehalten, das seit ein paar Tagen in den sozialen Medien kursiert und in dem besorgte Dramaturgen, Bürger*innen und andere Zeitgenossen nun einen "bemerkenswert totalitären Satz" erkennen. Ja. Wirklich. Manch einer fühlt sich gar an Goebbels-Reden vor 1945 erinnert. Im Berliner Sportpalast beispielsweise. Weil Grönemeyer brüllte. Weil er findet, dass er und sein Publikum doch bitte diktieren mögen, wie die Gesellschaft auszusehen hat.

Gewalt durch Wahlen?

Wer sich hier bereits totalitär auf die Füße getreten fühlt, muss tendenziell auch unser Grundgesetz totalitär finden. Wenn es überhaupt je gelesen wurde, und nicht bloß die tägliche Twitter-Timeline. In Artikel 20 Absatz 2 steht da beispielsweise: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."* Oh Gott: "Gewalt", "Volk" – Was für böse Buzzworte! So reden Rechte! Oder etwa nicht?

kolumne 2p slevogtAuch wie diese Gewalt ausgeübt wird, erläutert Absatz 2: durch Wahlen und Abstimmungen unter anderem. Hierfür müssen in Wahlkämpfen und anderen Prozessen der öffentlichen Willensbildung zunächst Mehrheiten organisiert werden. Das ist ein urdemokratischer Prozess. Bitte verzeihen Sie diese didaktische Erläuterung. Doch in Zeiten, wo jeder für sich allein in den Sozialen Medien herumkräht, hat dieser Prozess leider ebenso an Bedeutung verloren, wie das Bewußtsein dafür.

Berühmte Brüller

Im Grunde hat sich Grönemeyer im Wien doch nicht anders als ein ganz normaler Wahlkämpfer betätigt, der eine Mehrheit für sein Anliegen organisieren will. Selbst dass er dabei brüllte, hat lange parlamentarische Tradition. Berühmte Brüller im deutschen Bundestag waren unter anderem die Sozialdemokraten Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Berühmt für sein heiseres Gebrüll ist auch Rudi Dutschke gewesen. Damals, als es noch galt, Massen zu adressieren statt die Bewohner*innen der eigenen Blase zu umflöten.

Dass Menschen, die in großen Sälen ein Massenpublikum brüllend durch Mikrofone adressieren, unbedarfte Zeitgenossen reflexhaft an Nazis erinnern, ist wahrscheinlich mit mangelndem medienhistorischen Wissen zu erklären. Die Nazis haben vielleicht die kulturgeschichtlichen Urszenen für das mikrophon- und lautsprecherverstärkte Sprechen in Riesensälen geliefert. Das aber macht nicht jeden, der in dieser, von der Technik organisierten Struktur zwischen Individuum und Masse agiert, automatisch zum Nazi.

Durchs Radio kroch das Gift

Leider schloss ja die Popkultur hier erst nach 1945 auf. Deshalb waren es fatalerweise die Nazis, die die ersten Popstars der Mediengeschichte wurden: Hitler, der seine erste technolgieverstärkte Rede 1928 im Berliner Sportpalast hielt. Goebbels, der diese Propaganda-Technik dann in seinem eigens dafür geschaffenen Ministerium perfide verfeinerte.

Durchs Radio krochen in Verlängerung dieser neuen medialen Konstellation die Nazi-Stimmen samt des Gifts ihrer Botschaften in jeden Winkel. Bis dahin konnten Theater- und Opernhäuser stets nur so groß sein, wie ihr architektonisch ausgeklügelter Resonanzraum reichte. Nun konnten Riesenarenen mit einer einzigen Stimme beschallt werden. Dass die Politiker hier Wirkungen entfalteten, wie die Leute sie bisher nur von Schauspielern kannten, hat immer noch gültig bereits Walter Benjamin beschrieben. Das aber macht im Umkehrschluss heute aus einem Popstar, der ein politisches Statement abgibt, noch längst keinen Goebbels.

* Im Zitat wurde nach einem Hinweis ein Fehler korrigiert.

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt plädierte Esther Slevogt für die Frauenquote und führte ein Beispiel aus der Welt der Mediziner*innen an.

 

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