Dieser schwarz glitzernde Untergang

von Dorothea Marcus

Mülheim an der Ruhr, 19. September 2019. Wer hätte das gedacht, dass einer der grandiosesten Theatertexte zur Klimakrise schon über 40 Jahre alt ist. Und während wir heute mehr oder weniger lodernd, pflichtbewusst oder untergangsselig auf Großstadt-Straßen für das Klima demonstriert haben, hat Hans Magnus Enzensberger, in seinem 90. Jahr, vielleicht gedacht: "Wir glaubten noch an ein Ende, damals. Auch eine Spielart der Zuversicht". Denn die Beschwörung einer Katastrophe ist ja auch ein Trost, Aphrodisiakum, Projektion und sektiererischer Weckruf (Enzensberger) in Endlosschleife, der sich selbst allzu wichtig nimmt – im Angesicht des beschworenen Verschwindens. Und zugleich ein Kick, den wir geradezu brauchen, lustvoll schaudernd beschworen durch Unterhaltungsindustrie, eingeschrieben im Terror der Aufmerksamkeitsökonomie.

Bereits 1978, als Enzensberger seine pionierhafte Textfläche "Der Untergang der Titanic" schrieb, in 33 grandiosen, weil poetisch stark verdichteten Gesängen, malte er die Apokalypse als real und zugleich als Schimäre aus. So wie jener Eisberg, der an einem lauen Frühlingsabend das größte aller Passagierschiffe zerlegte, die Damen an Bord aber ihre Gymnastik nicht unterbrachen. Eine Metapher der sich in Hybris und Fortschrittswahnsinn unsterblich wähnenden Menschheit, die sich selbst zerstört, weil sie vor lauter Katastrophengelaber die eigentliche Katastrophe gar nicht wahrnimmt. Heute ist der Eisberg viel näher gerückt, sprich: als apokalyptisches Warnmal noch ein wenig mehr geschmolzen. Doch so lange die Katastrophe eben nur vor der Tür steht, sind wir wie der Frosch, der im buchstäblich immer heißer werdenden Wasser bleibt, weil es bisher immer noch gut gegangen ist.

Am Ende der Welt

Wir richten uns im Endzeitszenario ein, das wir, je mehr wir es beschwören, immer weniger ernst nehmen. Was man ja auch dem heute verabschiedeten Klimaschutzgesetz ansehen kann. Und so ernst das alles ist und offenbar sogar schon vor 40 Jahren war, so seltsam witzig ist diese unbeirrbare Verfallsbereitschaft des Menschen auch, weshalb Enzensberger sein Stück ja auch "Komödie" nennt (uraufgeführt wurde es 1980 von George Tabori in München, und danach nie viel gespielt). Es passt also furchterregend gut, wenn im Theater an der Ruhr Regisseur Philipp Preuss, der seit dieser Spielzeit auch offiziell an der künstlerischen Leitung des Hauses teilhat und als Nachfolger Roberto Ciullis gehandelt wird, sich jenem größten und inspirierendsten aller Schiffsuntergänge widmet.

Titanic 560 Franziska Goetzen uAuf dem sinkenden Schiff © Franziska Goetzen

"Also amüsiere ich mich hier mit dem Untergang", spricht Enzensberger im ersten Gesang, und alles klingt unheimlich nach 2019. Zu Beginn werden die Zuschauer an den Sitzreihen auf eine Drehbühne geleitet, nie gesehener Bühnenbestandteil am Theater an der Ruhr. Wie auf einem Schiff mit Reling, der Teppich glitzert schwarz, leise spielt das Klavier. Rupert J. Seidl verkörpert den durchs Megafon warnenden Dichter, von Vergangenheitsstimmen und flatternden, pochenden, rutschenden Geräuschen heimgesucht. Der Riss im Raum, die ankündigende Katastrophe, öffnet sich als elektronische Hörspiel-Installation (Kornelius Heidebrecht) – wie auch der ganze Abend ein raffiniert rhythmisiertes Klang-Spiel ist.

Bald gesellt sich sein jüngeres Ich, Günther Harder, zu ihm: Gemeinsam sind sie die ironisch-distanzierten Zwangsbelustiger des Abends und zugleich die Chronisten des Untergangs, schmeißen Glitzerkonfetti pro Pointe, halten melancholisch die Zeitebenen zusammen, die sich im Stück überblenden. Etwa Enzensbergers Aufenthalt auf Kuba 1969, wo sich schon die Selbstzerlegung des Sozialismus und der Allzeitsieg des Kapitalismus ankündigte. Der Zeitpunkt des Titanic-Unglücks 1912, als alle noch fiebrig an Fortschritt glaubten. Die Fertigstellung des Stücks 1978, mitten in atomarer Aufrüstung – und natürlich 2019, Vorabend der weltgrößten Klima-Demo.

Rette sich wer kann

Und dann fällt Dunkelheit, grollt der Schiffsmotor: Mit zitterndem Rumpeln setzt sich das Drehbühnen-Ungetüm in Bewegung, vorbei an Lametta-Wänden und angedeuteten Kajüten, immer rückwärts, bis einem ganz schwindelig wird. Wie Geister, aus einem Otto Dix-Gemälde entsprungen, gruppiert sich das Ensemble um die rückwärts rasende Scheibe und variiert in jedem Gesang neu, wie langsam das Wasser ins Schiff dringt – aber lässig geleugnet wird. Wird schon nicht so schlimm werden, höchstens für die armen Leute vom Zwischendeck. Wir sitzen alle im selben Boot, nur: Wer arm ist, geht schneller unter. Enzensbergers Stück ist auch eine resignativ-zynische Anklage sozialer Ungleichheit, und wenn Simone Thoma von Arabern oder den fünf namenlosen Chinesen auf Deck, von den 1500 Ertrunkenen spricht, hallt das nach ins Heute.

Titanic 3 560 Franziska Goetzen uIm Schlammland: Günther Harder, Rupert J. Seidl © Franziska Goetzen

Und dann, der Premierensupergau – und zugleich auch eine seltsam passende Metapher: die Drehscheibe, extra vom Theater, das sonst stets gastspielflexibel bleibt, fürs Titanic-Projekt angeschafft, gerät außer Kontrolle. Die Vorstellung wird unterbrochen. Ein echter Titanic-Moment, bei dem man lange überlegen muss, ob er inszeniert ist: denn zur Entlastung der Drehbühne dürfen nur 35 Zuschauer wieder in den Saal zurück. Wie wird da ausgewählt? Ein verlorenes Trüpplein meist journalistischer Elite-Zuschauer sitzt also nach einem Freigetränk wieder am Platz. Doch was vorher so lässig weggesprochen wurde und dadurch so gegenwärtig wirkte, wird jetzt dahintheatert. Spielautomaten blinken, die Musik spielt, die ganze Fun-Sedierung der Mittelschicht rollt wieder an. Wie blinde Kühe mit schwarz-weißem Glitzerumhang stehen sie tumb in der Gegend herum.

Feier der Vergeblichkeit

Als Dante mit Lorbeerstrauch erscheint Simone Thoma und macht Witze über ihre Repräsentation, ein Renaissance-Maler, ein Che Guevara rollen vorüber, sie sprechen das große Gedicht chorisch oder mit verteilten Rollen: Feier der Vergeblichkeit. Auf Video treibt ein kleiner Eiswürfel in einer Pfütze, das Kleine und das Große sind irgendwie eins, während sich das Ensemble als schlammgebadete "Überlebende" wieder in die eindringliche Lässigkeit des Anfangs gespielt hat: indifferent, mitleidslos haben sie gewonnen. "Was fangen wir nun, wo wir sie haben, mit unserer Ruhe an?" Sie wird vergehen, wie alles, in "der schwarzen, eisigen Flüssigkeit der verflossenen Zeit". So lange sitzt Rupert Seidl als Dichter draußen vor dem Fenster am flackernden Feuer: nochmal gemütlich machen, bevor wir alle hinüber sind.

 

Der Untergang der Titanic. Eine Komödie
von Hans Magnus Enzensberger
Regie: Philipp Preuss, Dramaturgie: Sven Schlötcke, Raum: Ramallah Aubrecht, Kostüme: Eva Karobath, Musik: Kornelius Heidebrecht, Video: Konny Keller.
Mit: Petra von der Beek, Dagmar Geppert, Simone Thoma, Gabriella Weber, Albert Bork, Günther Harder, Klaus Herzog, Fabio Menéndez, Steffen Reuber, Rupert J. Seidl.
Premiere am 19. September 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

In der Westfalenpost (online 20.9.2019) heißt es seitens Lars von der Gönna: "Lange vor Jelinek schuf Enzensberger das theatralische Textmassiv als Steinbruch." Ironisch, auf "trockene Weise verzweifelt" und "kapitalismuskritisch". Philipp Preuss inszeniere eine " apokalyptische Karussellfahrt ", die auf "beängstigend unterhaltsame Weise" verführe. Das Ensemble sei "uns" so "verführerisch nah in Lebensgier, Dekadenz und kaltschnäuzigem Weiter-So". Ein "starker Abend".

In der NRW-Ausgabe der Welt am Sonntag (20.9.2019) schreibt Stefan Keim: "Ein höchst interessanter Abend". Daas Mülheimer ensemble sei gemeinhin eigenartig, vergleichbar mit dem Marthaler-Ensemble, andere Regisseure als Ciulli täten sich oft schwer. "Bei Philipp Preuss scheinen sich die Mülheimer wohlzufühlen." Er habe die "poetische, stark stilisierte Spielweise übernommen" und in "seine persönliche Bilderwelt überführt". Die Aufführung entspreche dem Geist des Theaters an der Ruhr und setze neue Akzente.

Der "Untergang der Titanic" in Mülheim werde "nicht die Welt retten, aber er hilft bei der Auseinandersetzung mit der fatalen Situation der Menschheit. Ohne Alarmismus, nachdenklich, rückblickend, vorausschauend", schreibt Detlev Baur in der Onlineausgabe der Deutschen Bühne (20.9.2019). "Der Inszenierung von Philipp Preuss gelingt es eindrucksvoll, Enzensbergers Ton zu treffen und auf die Bühne zu übersetzen."

 

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