Kolumne: Als Ob! - Michael Wolf empfiehlt das Nichtinszenieren als neue Regietugend
Seht her, ein Arschloch!
von Michael Wolf
24. September 2019. Bei manchen Theaterabenden ahne ich schon vor dem Besuch, dass ich sie für schwach befinden werde. Für diese Fälle habe ich eine Regel. Ich schreibe keine Kritiken über diese Inszenierungen und überlasse das lieber meinen Kollegen. Von meiner Zurückhaltung profitieren alle Beteiligten: die Künstler, die Leser, ich selbst.
Leider verfahren viele Regisseure genau umgekehrt. Sie inszenieren mit Vorliebe Texte, nur um zu zeigen, wie schlecht und verwerflich diese sind. Bei Klassikern hat das immerhin Tradition. Wer als Regisseur etwas auf sich hält, muss irgendwann mal einen GoetheSchillerBüchner als Arschloch outen. Das mag als Arbeit am Kanon durchgehen, auch wenn ich Zweifel hege, ob die Klassiker-Zertrümmerung noch Sinn ergibt, wenn kaum noch jemand ihren intakten Zustand kennt.
Houellebecqs Primatensprünge
Bei der Gegenwartsliteratur fällt das Ergebnis regelmäßig dürftig aus. Ein Beispiel: Zum Saisonstart kommen gerade viele Adaptionen von Houellebecq-Romanen heraus. Der Franzose gilt als Sexist, Trump-Fan und EU-Feind. Nicht schwer zu erraten, was seinen Stoffen auf deutschen Bühnen widerfährt. Der antisexistische, trumpkritische und europafreundliche Regisseur Falk Richter ließ seine männlichen Darsteller erwartungsgemäß als Primaten über die Bühne trollen, um sich über den hinterwäldlerischen Autor lustig zu machen. Selbst wer Richter nicht kennt, hätte diese Regie-Haltung im Vorfeld sekundenschnell ergoogeln können.
Auch Ivan Panteleev distanzierte sich am Deutschen Theater so vehement von Houellebecq, dass dessen Werk fast von der Rampe purzelte. Produktionen wie diese wollen ihre Texte gar nicht aufführen, sie wollen sie vorführen. Nichts als feuchte Träume eines notgeilen Zausels sind das! Okay, habe verstanden, nur: Warum den so offensichtlichen Blödsinn dann auf die Bühne bringen?
Emanzipatorischer Akt
Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen unterbreitete in der ZEIT einen interessanten Vorschlag. Er präsentiert das Nichtlesen als Kulturtechnik. Durch die Einschränkung der eigenen Lektüre halte man sich die Möglichkeit offen, "danach zu fragen, was die relevanten Probleme eigentlich sind, die unsere Aufmerksamkeit verdienen". Etwas nicht gelesen zu haben, solle nicht länger als Makel gesehen werden. Es beinhalte sogar einen emanzipatorischen Akt. "Wir werden nie die Zeit haben, alles zu lesen, und deshalb müsste für jedes Buch einer Frau, das in den Kreis bedeutender Werke aufgenommen wird, ein Buch eines Mannes entfernt werden." Anstatt sich Stoffe nur vorzunehmen, um sie sich vorzuknöpfen, sollten Theatermacher diesen Rat beherzigen. Etwas nicht zu inszenieren, wäre ein größerer Dienst an der gerechten Sache. En passant ließe sich so – meiner Meinung nach kein Stück weniger dringlich – auch die Gemütslage an den Bühnen verbessern.
Die Kälte im Parkett
Ich verstehe, warum viele Menschen lieber eine Ausstellung besuchen, ins Konzert oder ins Kino gehen. Ihnen fehlt einfach der masochistische Zug. Keine andere Kunstform suhlt sich so sehr im Negativen. Daran sind auch wir Kritiker schuld. Vielleicht ist es ein genetischer Defekt, jedenfalls können viele Journalisten etwas nur unter der Bedingung lustig finden, dass ihnen dabei "das Lachen im Hals stecken bleibt". Schönes, Verstiegenes, Leichtes steht im Theater unter ständigem Verdacht. Herbert Fritsch, dieser große Utopist, sorgte ein paar Jahre für Stimmung. Seit er schwächelt, ist es kalt geworden im Parkett.
Natürlich kann eine Anti-Haltung ästhetisch produktiv sein. Im Kern großer Werke steckt oft ein Leiden an den Verhältnissen. Wenn Elfriede Jelinek nicht alles immer so schlimm fände, hätte sie nie den Nobelpreis erhalten. Nur besteht ein Unterschied zwischen Schmerz und Missfallen, Zorn und einem streberhaft erhobenen Zeigefinger. Eine private Meinung aufzublasen, ergibt noch keine Kunst. Das hat eher etwas von Masturbation. Alleine ist es voll okay, aber man muss ja nicht unbedingt Zuschauer hinzubitten und Eintritt verlangen.
Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.
Mehr zum Thema: In seiner Kolumne aus dem April 2019 diskutierte Michael Wolf die Kanonfixiertheit des Theaters und wünschte sich, dass es seine Toten ruhen lassen möge.
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Gilt sicher nicht für "die Großen", die sich für gewöhnlich aussuchen können, welche Stoffe sie inszenieren, aber für die sehr vielen RegisseurInnen (= Mehrheit), die in den Augen selbstherrlicher Theaterleitungen "genau der/die Richtige für diesen Stoff sind".
Ich denke allerdings, dass das auch für die "Großen" gilt. Im Falle von inszenierenden IntendantInnen kommt dann noch hinzu, dass die sich nicht notfalls mit der jeweiligen Kulturpolitik, begründet mit konkreten zeitgenössischen DramatikerInnen oder dem Bühnenverein anlegen. Und dadurch dann ebenfalls mit schuld sind.
das ist zu klein gedacht : dort werden die späteren DramaturgInnen und RegisseurInnen ausgebildet, dort wird gelehrt, was "state of the art" ist und was nicht.
Und ich habe im Buch eine FAZ-Kritik vom 18.11.2000 von Gerhard Stadelmaier gefunden, die ich dort hineingefaltet hatte: „Eigentlich ein Fall für den Theaterarzt: Ein Virus grassiert im Schaugewerbe. Es verursacht das sogenannte Houellebecq-Fieber. Dieses führt zu einer hektisch gesteigerten dramatischen Romanbearbeitungsgrippe. So schreibt der Zeitgeist unsere Bühnen krank.“ Auch wenn Stadelmaier empfahl: „Hände weg von Houellebecq.“, war er dem Franzosen doch wohl gesonnen: „Der Mann erzählt zu gut, seine Bilderangebote für lesende Köpfe sind zu perfekt, als dass sich auf dem Theater mehr entfalten könnte, als man eh schon albträumte.“
Aber zum Schluss seines Artikels findet Stadelmaier dann doch zu einer gewissen distanzierenden Betrachtung, die ihm auch als Theateraufgabe lohnenswert erschien: „Der Irrsinn von dem Houellebecq schreibt, kommt auch aus der Verzweiflungsunterleibsgartenlaube. Da müßte man theatralisch hineinfackeln und –funkeln und dem Autor nicht alles glauben, was er weint, vor allem wenn er … nicht nur zwischen den Zeilen nach der wahren, reinen Liebe in all dem Schmutz schreit.“
Man kann es als desinfizierenden Exorzismus verstehen, wenn Falk Richter und Ivan Panteleev nach der gerade überstandenen erneuten Welle des Houellebecq-Fiebers den Autor nun so zerlegen wollen, dass keine Virulenz mehr von ihm ausgeht.
Was Sie, Herr Wolf, hier so elegant umtänzeln, ist doch nichts anderes als der Tod des Theaters, wie er sich seit langem abzeichnet(e). Ich frage nicht, warum am Theater ausschließlich Stoffe aufgeführt werden, die offenbar den Theaterleuten selbst aufs beste gefallen, aber nicht dem eigentlichen Adressaten, dem Publikum. Ich behaupte einfach, dass es so ist.
Wieso ist das Theater heute kein pulsierender Ort, wo brisante geistige Positionen sich erst abzeichnen und entwickelt werden müssen; scheinbar ist das völlig ausgeschlossen. Das Theater im deutschsprachigen Raum ist heute ein sozialer Ort, wo gänzlich vorhersehbare Problematiken an die Gegenwart angepasst werden. Zu immer „neuen“ Überschreibungen altbekannter Vorlagen kommt es da oder zu Adaptionen längst bekannter antifaschistischer Romane, ja. Aber inhaltlich wirklich Neues, Brisantes ereignet sich am Theater nicht, wo denn.
„Nichtlesen als Kulturtechnik“? Das mutet an wie ein Versuch, an gewohnten Stellschrauben maßgebliche Veränderungen vorzunehmen. Damit also meint man, der Misere hinlänglich begegnen zu können?! Anstatt Nichtlesen zur Kulturtechnik zu erheben, sollte beispielsweise einmal der Stellenwert der Theaterausführenden beleuchtet werden, das aber scheint das Letzte, was intendiert wird.
Warum bleibt dieser besondere und unverrückbare Stellenwert der Kunst- und Kulturschaffenden unangetastet, selbst oder gerade wenn die Auslastungszahlen noch so sehr zu wünschen übriglassen? Eher wird hierzulande – und das ist weltweit wohl einzigartig - die schnöde Orientierung an kruden Sitzplatz-Verkaufszahlen auf eine besonders primitive und rückständige Haltung der Kritisierenden zurückgeführt als auf die zulässige und notwendige Sichtbarmachung von Kostenwahrheit und/oder Erfolg/Misserfolg der Aufführung.
Frage:
Produziert das deutschsprachige Theater am Publikumsgeschmack vorbei, WEIL es subventioniert wird oder OBWOHL es subventioniert wird? Das Publikum scheint (mir) jedenfalls im Theaterbetrieb derjenige Faktor zu sein, der am allerwenigsten Gewicht hat. Wieso sollte das bis in alle Ewigkeit so weitergehen.
Und noch eine Anmerkung zum von Michael Wolf angesprochenen scheinbar endlosen Tristesse-Theater:
"Dem Masochisten mit Manipulationsbedürfnis reicht es nicht, dass er selbst unglücklich ist; auch die anderen sollen es sein."
Michel Houellebecq
letztlich glaube ich auch nicht, „dass das Theater als solches überhaupt sterben kann.“ Dazu halte ich es für einen zu wichtigen und bedeutenden Teil der europäischen Kultur.
„Es gibt gar keine "Repräsentationskrise", sagen Sie? Na gut, dann belassen wir es schlicht bei DER oder EINER Krise, in der sich das Gegenwartstheater befindet, es dürfte wohl kaum jemanden geben, der damit nichts anfangen kann. Der Begriff „Repräsentationskrise“, den ich Ihnen verdanke, kommt der Problematik jedenfalls schon recht nahe.
Wen repräsentiert also eigentlich heute das Theater (unter den demokratischen Bedingungen, die ab 1945 herrsch(t)en)? An wen richtet es sich? An die Eintritt zahlenden Massen? Das Theater hatte immer mit Herrschaft zu tun. An ihr richtete es sich aus, ihr wollte es gefallen, ihre Zensur musste es respektierten. Das änderte sich schlagartig ab 1919. Es gibt heute angeblich keine Zensur, welcher sich die Theaterleute beugen müssten, aber wer ist aktuell gemeint, der heute eine Theatervorstellung besucht?
Ich sehe keinerlei Richtwerte, die für die Theaterschaffenden gelten, ich sehe ausschließliche Rechte für die Theaterkreativen, keinerlei Pflichten dem Publikum gegenüber. Das ist eine Ungleichgewicht, das über kurz oder lang nichts Gutes bewirken kann.
Hier ein Beispiel für das schonungslose Ausleben seinerselbst am Beispiel des neuen Burgtheaterdirektors Martin Kusej anhand eines Radiointerviews vom 27.9.2019 anlässlich der Übernahme der Mischfassung von Faust I und II von Johann Wolfgang von Goethe von München nach Wien:
https://oe1.orf.at/player/20190927/573194