Es geht um das Eine

von Maja Weber

Osnabrück, 14. September 2008. Egomanie und Depression, Frustration und Trägheit sowie deren Kombination sind die Haupmerkmale der fünf Personen in "Die ganzen Wahrheiten". "Das Stück ist dreckiger Boulevard", sagt Sathyan Ramesh selbst. Nichts Menschliches ist den Figuren fremd, das zeigte Ramesh schon bei seiner preisgekrönten Serie "Türkisch für Anfänger". Doch hier geht es um die Existenz – und den Sex, den man dabei hat.

Gestern abend wurde es im emma-Theater in Osnabrück uraufgeführt: über eine Stunde lebendiges, sprühendes Theater mit viel Witz, Menschlichkeit und einem guten Schuss Sarkasmus. Das Stück erhielt im letzten Jahr den Publikumspreis bei den Autorentheatertagen in Hamburg.

Das Schicksal des Sex

Die Inszenierung von Matthias Kaschig ist, in einem Wort, gut. Die Figuren monologisieren zunächst über Sex: Ein Ehepaar, zwei heterosexuelle Männer, die in einer WG zusammen wohnen, und eine Stewardess beklagen ihr Schicksal. Sie geben sich angenervt und hart, und hoffen doch nur auf ein wenig Glück. Da ist Portia, gespielt von Nicole Averkamp, Krankengymnastin, die sich schlafend stellt, wenn ihr Gatte nachhause kommt. Permanent plagen sie Ohrwürmer. Hierbei großartig eingesetzt von Musiker Tobias Vethake: der nervtötende Hit "Macarena" in immer wieder verschiedenen Versionen – sogar eine Dark Metal-Stimme singt einmal eine Zeile.

Portia ist, natürlich, unglücklich und kommt beim Sex meist nur zufällig. Sie hasst ihren Mann wegen seiner Vorliebe für Süßes. Ihr Mann hingegen, ein freundlicher, etwas zahlenorientierter Steuerberater (Jan Schreiber), liebt diese Portia; sie aber wünscht sich, dass er nicht so nett wäre, und gewalttätige Skinheads auf dem Nachhauseweg träfe: Weiter kann ein Paar nicht auseinander driften – der große Gymnastikball, den sich die beiden als Sex-Requisite einander zwischen die Beine klemmen, verbildlicht es. Dass diese zwei zusammen sind, weckt zunächst daher ungläubiges Lachen. Denn der Zuschauer hört den beiden beim Denken und dann auch beim Sprechen zu, ein schöner Dreh, der das Absurde dieser Beziehung deutlich macht.

Der Sex als Komödie

All dies riecht nach Existenzialismus, denn der Sex steht hier sinnbildlich für die Frage nach dem Sinn des Lebens. "Ich bin eigentlich ganz leicht zu haben", sagt die Stewardess Annika (Christina Dom) und erklärt, in welche Kategorien sie die Männer teilt – Winsler und Nichtwinsler. Letztlich nerven sie alle schon mit Blicken, keiner findet die richtigen Worte, um einfach mit ihr ins Bett zu gehen. Also winseln sie. Und der Richtige ist nie dabei. Doch auch die zunächst so coole Annika ist verzweifelt – Sex hat sie keinen.

Genauso geht es dem Cellisten (Friedrich Witte als vergeistigter Intellektueller, der doch nur das Eine will) und seinem überfetten Mitbewohner (sexy im Fatsuit: Oliver Meskendahl). Der Musiker entführt Hunde und stellt sich vor, wie die Besitzer leiden. Nur so kann er überhaupt etwas empfinden. Der Freund sitzt im Sandsack-Sofa, tut nichts außer sich Sex mit dicken Frauen vorzustellen und fernzusehen.

Die ungläubigen Lacher im Publikum dehnen sich dabei zu echtem Amüsement aus, wobei all dies Skurrilabsurde so nachvollziehbar gemacht ist, dass es nur als Komödie gemeint sein kann. Ist es auch; das Fernsehen ist überdies sehr präsent. Es sind schließlich auch die Themen, die allabendlich im Privatfernsehen quäken – ob Superstar-Allüren, Auswanderersehnsüchte oder Frauentausch –, die den Bewegungsrahmen der Figuren abstecken. Durch das leidenschaftliche Spiel aller Schauspieler jedoch entfällt die TV-Flachheit. Die Figuren sind plastisch und lebensecht, schreien, spucken und fallen. Theater at its best.

Und die Wahrheit des Sex

Rameshs Stück ist natürlich kein philosophisches Stück. Es ist mehr eine kurze Momentaufnahme Deutschlands, wie ein Zitat verdeutlicht: "Er ist nach Teneriffa ausgewandert und hat die schlechte deutsche Laune gleich mitgenommen", heißt es an einer Stelle über einen, der es geschafft zu haben scheint. Dieser Wunsch nach einem besseren und glücklicheren Leben verbindet die Figuren. Sie sind jedoch alle zu bequem oder zu feige, ihre Situation zu verändern. Bis es bei einem gemeinsamen Abendessen zum Eklat kommt und sich alle "die ganzen Wahrheiten" auf den Tisch knallen.

Nach dem großen Clash geht es für die Stewardess und den Musiker weiter wie vorher. Der Steuerberater bleibt allein zurück und hat endlich Lust auf Herzhaftes, und die Krankengymnastin brennt mit dem fetten Nichtstuer durch. Ganz hervorragend gelöst ist dabei das Bühnenbild von Vera Knab. Von der Decke herab hängen verschiedene Lampen und Lüster, aus Metall, Reispapier und Weidengeflecht, die mit unterschiedlicher Lichtqualität immer dann angehen, wenn eine bestimmte Szene beleuchtet werden muss. Insgesamt ist Sathyam Rameshs Stück am Puls der Zeit, entblößt menschliche Schwächen und zeigt zum Teil das Animalische in den Figuren. Ob am Schluss das Gute siegt, ist zweifelhaft. Auch wenn die letzte der "ganzen Wahrheiten" bei Ramesh die Liebe ist.


Die ganzen Wahrheiten
von Sathyan Ramesh, Uraufführung
Regie: Matthias Kaschig, Bühne und Kostüme: Vera Knab, Musik: Tobias Vethake. Mit: Nicole Averkamp, Jan Schreiber, Christina Dom, Friedrich Witte, Oliver Meskendahl.

www.theater.osnabrueck.de


Bei den Hamburger Autorentagen 2007 erhielt Die ganzen Wahrheiten in der Inszenierung von Stephan Kimmig den Publikumspreis.

 

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