Die Zukunft am Schnürhaken

von Martin Krumbholz

Bochum, 3. Oktober 2019. "Am Strand von Bochum ist allerhand los", notierte der nicht so geografiekundige Schriftsteller Jurek Becker mal auf einer Postkarte. In Karin Henkels Inszenierung der "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Ödön von Horváth am Schauspielhaus Bochum gibt es nebst viel anderem Schönen auch eine fabelhafte Strandszene.

Sie spielt freilich an der schönen blauen Donau, hier nur ein kleiner Pool auf der Drehscheibe, und erzählt wird, wie die Scherzartikelkrämerstochter Marianne, die eigentlich mit dem soliden, nur ein bisschen unheimlichen Metzger Oskar verlobt werden soll, aufgrund eines erotischen Magnetismus dem Hallodri Alfred verfällt, der ihr ein Kind anhängt und sie sitzen lässt. Die beiden baden in ihren Kleidern, machen einander Liebesgeständnisse, werden überrascht, und dann sagt Marianne, großartig kraftvoll und berührend gespielt von Marina Galic, einen interessanten Satz: "Lass mich aus dir einen Menschen machen."

Stumpfe Menschheit

So voller Emphase, so berückend ernst, wie Galic ihre Initiation in ein anderes Leben spielt, wird sofort klar, dass hier zwei miteinander konkurrierende "Geschichten" (der Titel verdankt sich ja einem Strauß-Walzer) zu sehen sein werden: die einer scheiternden Emanzipation und die einer stumpfen Menschheit, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdient; in der der Faschismus keimt (das Stück ist von 1930), repräsentiert durch einen jungen Deutschen, dessen Uniform immer brauner wird, während die Hosen kurz bleiben. Und so, wie Henkel die beiden Motive kurzschließt, entsteht daraus nichts anderes als ein fulminanter Totentanz (so lautet der Untertitel des Horváth-Stücks "Glaube, Liebe, Hoffnung").

Geschichten1 560 LaloJodlbauer uErotischer Magnetismus: Ulvi Teke als Nichtsnutz Alfred und Marina Galic als Marianne. © Lalo Jodlbauer

Horváths Humor ist ja unwiderstehlich, aber auch unwiderstehlich brachial. Die Figuren werden unerbittlich bei ihren Schwächen gepackt, ihrer Verlogenheit, ihrer Phrasendrescherei. "Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit", ist das Motto. Und wenn im Text "Stille" steht, heißt das auch, man soll den Figuren beim Denken zugucken und wie nichts dabei herauskommt.

Henkel lässt ihnen durchaus ihre Komik, macht einige sogar noch lächerlicher, als es im Buch steht: Bernd Rademachers "Zauberkönig" etwa tritt gleich anfangs in Unterhosen auf, kurz darauf in einem viel zu großen Anzug, und die scheinbare Jovialität und plumpe Väterlichkeit des Mannes verdampft unter Selbstmitleid, Larmoyanz und am Ende sogar einer unglaublichen Kaltherzigkeit, wenn er seine Tochter verstößt. Man spürt: Henkel nimmt ihm das (noch) übler, als es Horváth getan hat.

Ätzende Komik mit Schocks

Einerseits also: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist (die ätzende Komik). Andererseits gelingt es Karin Henkel tatsächlich, den schockierenden Kern des Stücks, also die Tragödie der Marianne, die in einem besseren Bordell und schließlich im Gefängnis landet, aus der Pseudo-Folklore der Kolorit-Szenen herauszuschälen.

Selbst die besten Wienerwald-Inszenierungen (Thalheimers etwa) münden ja gewöhnlich in virtuose Karikaturen-Kabinette, wozu der Text freilich verführt. Henkel hält dieser Verführung stand. Dieser Totentanz schockiert, obwohl man oft lacht. Die Puppe, die das Baby darstellt, wird sofort nach der Übergabe an die "Pflegeeltern" an einen Haken gehängt und schwebt fortan über der Szene. Das Kindergrab ist auch schon da auf Thilo Reuthers Bühne.

Geschichten5 560 LaloJodlbauer uUnter dem gehenkten Baby: Das Bochumer Ensemble spielt auf der Bühne von Thilo Reuther. © Lalo Jodlbauer

Das Ensemble um die herausragende Marina Galic herum spielt brillant. Ulvi Teke als Alfred trägt einen Dolch am Hosenbund wie der Brighella der Commedia dell'arte; dieser Nichtsnutz ist ein gerissener Schurke, der seine notorische Begriffsstutzigkeit womöglich nur simuliert. Wenn er sich toll fühlt, tänzelt er wie eine Puppe. Mourad Baaiz ist ein ungewöhnlich sanfter Oskar, seine Augen glänzen so melancholisch, wie der Text es verlangt.

Karin Moog mit einem viel zu großen Kussmund gibt der Trafikantin Valerie eine Schärfe und auch eine Art Mutterwitz, Eigenschaften, die sich einprägen. Marius Huth ist der knabenhafte Protofaschist Erich, und nicht umsonst rückt die Regie diese unheimliche Figur in den Mittelpunkt. Noch acht Jahre, dann marschiert Österreich heim ins Reich (es wird Horváths Todesjahr sein.) Gina Haller und Thomas Anzenhofer spielen in rasantem Wechsel alle anderen, vom Rittmeister, Metzergehilfen bis hin zu Mutter und Großmutter draußen in der Wachau. Wunderbar ist auch die dezent-dramatische Musik von Lars Wittershagen. Fazit: Am Schauspielhaus von Bochum ist tatsächlich allerhand los.

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Karin Henkel, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Nicole Timm, Musik: Lars Wittershagen, Lichtdesign: Bernd Felder, Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: Marina Galic, Bernd Rademacher, Mourad Baaiz, Karin Moog, Ulvi Teke, Marius Huth, Thomas Anzenhofer, Gina Haller.
Premiere am 3. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Karin Henkel inszenierte Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald schon einmal 2012 am Zürcher Schauspielhaus. In Bochum wurde das Stück zuletzt 2008 von Elmar Goerden umgesetzt. Weitere Produktionen des Horváth-Stücks finden Sie hier.

 

Kritikenrundschau

"Hen­kel führt ei­ne sou­ve­rä­ne, ge­las­se­ne Re­gie", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.10.2019). Oh­ne Hek­tik ent­wi­ckele sie die Sze­nen, baue nur manch­mal et­was ef­fekt­vol­le Bil­der, glei­te aber im Gan­zen um­sich­tig durch Horváths Volks­stück. Das sei kon­zep­tu­ell zu­rück­hal­ten­d und at­mo­sphä­risch prä­zi­se, ei­ne Re­gie­form, "die nach dem Sus­pen­se sucht und im Spiel das Ei­gen­ar­ti­ge, Un­heim­li­che be­tont". Henkel schaffe so eine Stim­mung, "die nicht an ge­ra­de ver­klun­ge­ne Wal­zer­klän­ge den­ken lässt, wie es die Re­gie­an­wei­sung will, son­dern an ei­ne eben vor­bei­ge­ru­ckel­te Geis­ter­bahn". An Ma­ri­na Ga­lic, die "so un­ver­letz­lich, so un­be­rühr­bar wirkt" und "hin­rei­ßend" spiele, werde man sich er­in­nern.

Henkels Regie verschärfe das Klaustrophobische des Horváth-Kosmos, so Lars von der Gönna in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (5.10.2019). Die Flut rhetorischer Banalitäten und Kalendersprüche sprächen die Schauspieler in extremer Distanz. "Man lauscht ihnen hellhörig, im Staunen über die aggressive Modernität der Sprache. Freilich fragt man auch: Wäre der Abgrund nicht steiler noch, hätte das Ensemble seine Figuren mehr empfunden als bloß dar- und bloßgestellt?" Der Abend sei frostig erzählt, frösteln mache er einen in zweidreiviertel Stunden erst zum Ende hin. "Kein überwältigender Spielzeit-Auftakt, aber doch eine von stilsicherem Ehrgeiz getriebene Aufführung."

"Ein starker Start in die Spielzeit", findet hingegen Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (5.10.2019). Horváths Diagnose einer zerfallenden Gesellschaft mit verunsicherten und verführbaren Kleinbürgern, Egoisten und Grausamen treffe noch heute. Henkels Inszenierung zeige das mit analytischer Schärfe und dramatischer Wucht.


Dass sich Horváths Figuren gegenseitig als "dummes Luder" oder "blöde Sau" beschimpfen, kennen wir inzwischen "nur zu gut", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (7.10.2019): "Als Hate Speech aus den sozialen Medien und von Politikern, die die verbale Grenzüberschreitung zum Regierungsstil erhoben haben." Auch deshalb fänden "Henkel und ihr Dramaturg Vasco Boenisch in der politisch stimmigen Neuinszenierung in Bochum eingängige, traurige, teils absurde Bilder für das Erkalten einer Gesellschaft." Die "affektgesteuerten Gestalten auf der Bühne" wirkten dabei "fast hilflos", was als "Rest Menschlichkeit" zumindest einen minimalen "Hoffnungsschimmer für die Spezies" darstelle.

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