Berblinger. Schneider - Theater Ulm
Woyzeck auf Schwingen
von Thomas Rothschild
Ulm, 3. Oktober 2019. Vor dem Eingang zum Theater ist ein roter Teppich aufgerollt. Drinnen, auf der Bühne, irritiert eine Art Foyer mit Beton, hohen Türen und einer Garderobe. Im Hintergrund führen ein paar Stufen zu einem Podium. Man bereitet den Raum für ein Jubiläum vor. Wir befinden uns in Ulm.
Von Ulm nach Borodino
An wen denken Sie, wenn von Ulm die Rede ist? An Albert Einstein? An Siegfried Unseld? An Hildegard Knef? Wohl am ehesten an jenen Schneider, der sich angeschickt hat, einen der ältesten Träume der Menschheit, den Traum vom Fliegen, zu verwirklichen, und der habituell mit dem Namen seiner Wirkungsstätte genannt wird wie der Rattenfänger von Hameln. Sein bürgerlicher Name war Albrecht Ludwig Berblinger, und weil sich sein Geburtstag 2020 zum 250. Mal jährt, hat das Theater Ulm gleich zwei Autoren mit der Abfassung von Stücken zum Thema beauftragt.
Zwei Tage vor der Uraufführung von John von Düffels "Ikarus" hat Ulf Schmidts "Berblinger. Schneider" Premiere. Wo von Düffel den mythologischen Vorläufer des Ulmers herbeizitiert, begibt sich Schmidt geradewegs zum Lokalhelden selbst. Der Titel seines Versuchs liest sich mit der sachlichen Beifügung des Berufs an den Namen wie eine Eintragung in ein Melderegister.
Den Dramatiker – nicht zu verwechseln mit dem kürzlich verstorbenen, ebenfalls am Thema interessierten Ulmer Historiker Uwe Schmidt – reizt am Stoff weniger das Motiv des Erfinders und Technikers oder die Metaphorik des Fliegens als die Zeitgenossenschaft eines Außenseiters mit den Napoleonischen Kriegen. Der legendäre Flugversuch fand 1811 statt, ein Jahr vor der Schlacht von Borodino. In Max Eyths ebenso umfangreichem wie fantasievollem Roman "Der Schneider von Ulm" wird die Episode des napoleonischen Feldzugs inklusive Borodino erzählerisch ausgemalt. Auch Schmidt schickt Berblinger im Zentrum seines Stücks dorthin und anschließend zur Völkerschlacht nach Leipzig.
Breites historisches Panorama
Ulf Schmidt entwirft aber nicht ein illusionistisches historisches Panorama, sondern blickt von heute zurück auf das frühe 19. Jahrhundert. 1811: das ist auch das Jahr des Weberaufstands der Ludditen in England. Den Rahmen liefert eine Jubiläumsfeier zugunsten des Schneiders von Ulm. Er selbst kommt erst nach einer ausgedehnten Einleitung zu Wort. Sein erster Monolog, in dem er sich vorstellt, ist Teil einer Montage, die aus heterogenen Elementen besteht, darunter aus einem Chor, mehreren Diskussionen und einer Folge von Briefen.
Zu Beginn sprechen die Kellnerinnen und Kellner am Ort der Feier über ihre Arbeit und ihre Träume. Ein Mann in Türkis mit ins Gesicht gezogener Kapuze und einem Rucksack dringt ein. Es ist Berblinger. Der Störenfried spricht, von der Bühne verjagt, über die Lautsprecher.
Geschichte eines Außenseiters
Wer war Berblinger? Ein Unternehmer, sagt der Unternehmer. Ein Aufklärer, ein Künstler, ein Techniker. Und der Chor erinnert an eine Maschine, die kurz vor Berblingers Flugapparat erfunden worden war, "eine Kopfabschneidemaschine, erbaut von einem deutschen Klavierbauer und benannt nach ihrem Erfinder, einem Arzt", die Guillotine.
Als Berblinger seinen Flug ankündigt, erscheinen die Repräsentanten von Militär, Kirche und Staat als Karikaturen in historischen Kostümen. Wenn der Schneider mit einem falschen Namen angesprochen wird und ihn korrigiert, fahren ihn die Herrschaften an: "Werd er nicht frech." Berblinger als ein anderer Woyzeck. Und nachdem sein Flugversuch gescheitert und er in der Donau gelandet ist, flucht der Chor: "Zur Hölle mit dir."
Die Perspektive der Frauen
Aber Berblinger steht nicht allein da in der frühen Geschichte der Luftfahrt. Ulf Schmidt lässt die Frauen aufzählen, die vor und nach dem Schneider von Ulm riskante Flüge unternahmen. Und er schaut über den Tellerrand des Ikarus-Themas: "Wer hat das Leben am Leben gehalten in der Stadt, als die Männer nach Russland marschierten? Wer hat die Schneiderei Berblinger geführt, als Albrecht Ludwig Berblinger Maschinen baute und in der Ferne weilte? Als Weißnäherin hat Anna Berblinger den Laden am Laufen und die Kinder am Leben gehalten. Aber was will man reden davon? Und dann ist sie 1820, neun Jahre vor ihrem Mann, an Abzehrung verreckt. Und der hat eine neue Frau geheiratet. Aber was gibt es dazu schon zu sagen? Sie ist schließlich nicht über die Donau geflogen. Wobei – er ja eigentlich auch nicht."
Zur Bilanz der Kriege bemerkt Schmidt: "König Friedrich von Württemberg, heißt es, sei sehr traurig gewesen über das Elend. Das ist die Geschichte vom Aufstieg eines Landesvaters, der immer die richtige Seite kennt für sich." Eine Sottise im Land Winfried Kretschmanns?
Drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler schlüpfen in mehrere Rollen. Stellenweise können sie der Verführung zu einem Übermaß an Gestikulation nicht widerstehen. Die Regisseurin Karin Drechsel verzichtet auf Mätzchen und beschränkt sich, unterstützt von dem Schülerchor, Statisten und drei Musikern, weitgehend auf choreographierte Arrangements. Sie stiehlt dem Autor nicht die Schau.
Ein großes dichterisches Werk ist "Berblinger. Schneider" freilich nicht geworden, aber informative Unterhaltung, zugeschnitten für den Ort der Uraufführung, und ein Stück Wiedergutmachung einer Stadt an ihrem Sohn, den sie lange geschmäht und verspottet hat. Sie müsste nicht unbedingt Ulm heißen. Auch andere Städte haben ihre Schneider.
Berblinger. Schneider
von Ulf Schmidt
Uraufführung, Auftragswerk des Theaters Ulm
Regie: Karin Drechsel, Ausstattung: Christine Grimm, Video: Alexander du Prel, Dramaturgie: Stefan Herfurth.
Mit: Christel Mayr, Marie Luisa Kerkhoff, Nicola Schubert, Benedikt Paulun, Frank Röder, Rudi Grieser. Und der Theater-AG des Lessing-Gymnasiums.
Premiere am 3. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theater-ulm.de
Kritikenrundschau
Ein "engagiertes Debattenstück" sah Jürgen Kanold in der Südwest Presse. Alles sei "klug erdacht" in Karin Drechsels Inszenierung, wirke jedoch "kontrolliert theatralisch" und hebe "nicht gerade mit Skandal-Kraft ab". Im Stück gingegen gehe es um Revolution, auch um "die gute alte, um Aktualität bemühte Kapitalismuskritik". Die komme aber auch an diesem Ulmer Festabend als "Moral nach dem Fressen" daher.
"Es ist offenbar der Brauch, bei Uraufführungen möglichst wenig in den Text einzugreifen. Aber 'Berblinger. Schneider' hätten ein paar beherzte Striche nur gutgetan", findet Barbara Miller in der Schwäbischen Zeitung (5.10.2019). "Bezüge über Bezüge und dazu jede Menge Information. Zu viel Information", zeigt sich die Rezensentin ermattet. Auch Regisseurin Karin Drechsel "drückt aufs Tempo. Keine Minute, in der mal nichts passiert". Immerhin aber habe der Abend den Ehrgeiz, "in den zweieinviertel Stunden auch noch Nachhilfe in Geschichte zu geben und schlägt einen Bogen von der Französischen Revolution über Weberaufstände bis hin zu mutigen Frauen."
Es sei "eine große Last, die das Stück dem Schneider und dem Publikum aufbürdet", schreibt Marcus Golling in der Neu-Ulmer Zeitung (5.10.2019) – "zumal die Gegenwartsbezüge immer allgemein bleiben". So ziemlich alles werde hier verhandelt, "prekäre Arbeitsverhältnisse, Mietexplosion, Geschlechtergerechtigkeit, Lebensmittelverschwendung". Dass "Berblinger, Schneider" der "Absturz seines Titelhelden" erspart bleibe, liege vor allem an der Regie, die Momente schaffe, "die anrühren und im Gedächtnis bleiben".
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