Unterirdisch

von Tobias Prüwer

Leipzig, 5. Oktober 2019. Schwitzende Körper im kargen Licht der Stirnlampen. Aus künstlichen Armen besteht ihr Werkzeug, dass sie ins Gestein stemmen. Wie Bohrer treiben sich die verlängerten Fäuste hinein, die dann zu Schaufeln werden. Gesten der Bergarbeiter fördert diese starke Szene von "Wismut" zutage, das sich am Leipziger Schauspiel dem DDR-Uranabbau widmet. "Nuclear Choir" nennen die Artists in Residence Jule Flierl und Mars Dietz ihre Tanz-Performance. Allein das überzeugende lebendige Bild der bohrend-schaufelnden Bergarbeiter bleibt die einzige Kollektivleistung im 90-minütigen Irrlichtern.

Atomare Sitzordnung

Die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut lieferte seit den späten 1940er-Jahren Uran in die Sowjetunion. Die geheime Förderung diente als Munitionieren für den nuklearen Rüstungswettlauf mit den USA. Abgebaut wurde das Strahlenmaterial in Ostthüringen und im sächsischen Erzgebirge. Das ist ein reichlich spannendes Feld, um es künstlerisch zu beackern, zumal der versprochene dokumentarische Ansatz nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Material klingt. Aus der Gegenwart sollte ein Blick in die Vergangenheit unter Tage und eine utopische Zukunft im Morgen geworfen werden, so das Vorhaben.

Wismut 560b RolfArnold uUnter-Tage-Kumpels auf der Bühne: der nukleare Chor mit verlängerten Fäusten © Rolf Arnold

Aus den wie ein Strahlenwarnzeichen angeordneten Zuschauerreihen blickt das zu drei aufeinander bezogenen Dreiecken gruppierte Publikum auf eine Leerstelle im Zentrum. In diesem "nuklearen Kern", der einzig ausgeleuchtet ist im dunklen Saal, sitzen drei Performer und beginnen ein leises und undeutliches Sprechen. Es klingt nach Lautmalerei und Dada, dann bewegen sich die futuristisch Gekleideten langsam in Posen zwischen Standwaage und Maschinenzucken. Aus dem Off kommen Klänge wie in einer Tropfsteinhöhle, zunächst schafft diese Art ionisierende Einfühlung Spannung und Hoffnung auf eine kommende Entladung. Doch stellt sich ein retardierender Moment ein. Die Performer kriechen unter die Sitzreihen, lesen in Deutsch und Englisch nur schwer verständliche Textfragmente über Uranabbau, Tschernobyl und Raubbau an Mensch und Natur.

Glühwürmchen im Gänsemarsch

Lichter werden angeknipst, ein Bewegungschor mit Stirnlampen beginnt seine Reise durchs Dunkel. Leider agieren sie nicht wirklich als Chor in ihren Bewegungen, sondern sind die meiste Zeit als Polonaise ohne Anfassen unterwegs, als Glühwürmchen im Gänsemarsch. Nach einem Ringelreihen mit erwähnten Kunstarmen – man reicht sich die Hände bei gemeinsamer Arbeit? –, gruppiert sich das Ensemble zur einzigen Szene, in denen der Chor zur Wirkung kommt. Die vervielfachten, wiederholten Bergarbeitergesten aus Bohren und Schaufeln entwickeln eine Kraft, die alsbald wieder verfliegt.

Wismut 560a RolfArnold uGesten in giftigem Gelb: "Wismut" © Rolf Arnold

Dann ist von Kulturarbeit fürs Kumpelbewusstsein zu hören, wird DDR-Partei-Sprech variiert, während eine Nike-Statue auf einem Podest durch den Saal gerollt wird. Hechelnde Untote und humane Geigerzähler treten auf, Recherchefetzen über Onkel Harry und ein paar andere Zeitzeugen werden aufgesagt – von einer sich in verzerrter Bewegungssprache drehenden Performerin: "Wir hatten damals nicht so ein sentimentales Verhältnis zur Natur. Und wir mussten den Russen helfen, das Uranmonopol der USA zu brechen." Kontextualisiert, in Bezug gesetzt wird nichts. Das wildeste Assoziieren findet keinen Anknüpfungspunkt. Völlig dunkel wird dann auch der Saal.

Der Arbeit lagen laut extra eingerichtetem Blog Recherchen zugrunde, aber die Frage muss erlaubt sein, wo diese denn blieben. Angesichts des losen wie leeren Gestensammelsuriums, das allein ein paar Aufsagetexte inhaltlich mit dem Strahlenthema in Verbindung bringen, bleibt der Eindruck, dass hier Antragsprosa schon die halbe Miete ist: "Das Projekt untersucht den Widerspruch von kollektiver Identität als Utopie der Gemeinschaft und Dogma der Gleichschaltung. Aus der kritischen Auseinandersetzung entwickeln Flierl und Dietz eine futuristische Choreographie, die nach radikalen, kollektiven Körperbildern in der zerwühlten Gegenwart sucht." Das Publikum sucht vergebens.

 

Wismut – A Nuclear Choir
Jule Flierl & Mars Dietz (Berlin / New York) / Artists in Residence
Ko-Autorin: Jule Flierl, Mars Dietz, Choreographie: Jule Flierl, Installation und Klangkunst: Mars Dietz, Bühne: Pauline Brun, Licht: Gretchen Blegen, Kostüme: Claudia Hill, Dramaturgie: Luise Meier, Produktion: Alexandra Wellensiek, Produktionsassistenz: Nara Virgens.
Mit: Zoë Knights, Zwoisy Mears-Clarke, Cathy Walsh, Gretchen Blegen, Pauline Brun, Mars Dietz, Jule Flierl, Luise Meier, Nara Virgens.
Premiere am 5. Oktober 2019
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Als es am Anfang Dunkel wird im Saal und tropfendes Grubenwasser Untertage-Atmosphäre schafft, darf man noch hoffen, dass der Abend das Thema erfahrbar macht", schreibt Diemo Riess in der Leipziger Volkszeitung (7.10.2019). Und als drei Performer im Schein ihrer Stirnlampen unter den Stühlen des Publikums hindurchkröchen, sei das ein gewitztes Bild, das "an die Enge von Bergwerken und Lehrfilmchen der 50er Jahre erinnert, in denen Schülern erklärt wurde, wie sie unter dem Tisch den Atomangriff überleben". Doch die Grundidee der Performance – die Utopie-Entwürfe historischer Bewegungschöre kurzzuschließen mit dem "Kollektivprojekt Wismut, die nicht nur Arbeitsstelle war, sondern die Lebensform bestimmte mit Arbeitersiedlung, Retortenlandschaft und entsetzlichen Folgeerkrankungen" – erstarre "in einem Reigen, der Utopien, auch die gescheiterten, nicht erfahrbar macht". "Wismut" verliere sich "im Bergwerk des eigenen Anspruchs".

 

Kommentare  
Wismut, Leipzig: offenes Geheimnis
Um diesen DDR-Erzbergbau, zumindest im Erz-Gebirge, schien es mehrere sehr offene Geheimnisse gegeben zu haben. Da muss man nicht rückwärtig was reingeheimnissen, damit der Ossi auch heute westansprechend doof aussieht-
Das erste offene Geheimnis war, dass die Kumpel wie ihre Familien besonders gut verdienen mussten, weil die Arbeit extrem schwer war.
Das zweite offene Geheimnis war, soweit ich erinnere einst sehr gut durch z.B. Stefan Krawczyk (falls nicht richtig erinnert, bitte nach der Story einige der letzten Jahrgänge Neue Deutsche Literatur durchsuchen...) beschrieben, dass die Arbeit so schwer war, weil mit der gesammelten Erfahrung verrichtet, dass sie garantiert krankmachend bis hochwahrscheinlich lebensverkürzend sein kann. Das Geheimnis war so offen, dass nicht einmal an der Ostseeküste jemand als Ossi was gegen eine Exra-Kulturportion oder Mehr-Kohle für Kumpel aus dem Erz-Gebirge hatte, wenn auch sonst in alle Richtungen der Futterneid groß war...
Das dritte Geheimnis war, dass auch der gesammelte Abraum, selbst von Natur überwuchert, nicht ganz ohne war. Es war so offen, das Geheimnis, dass ich, einst naiv panoramasüchtig auf den Aschberg gestiegen bei klarster Wintersonnenluft, aus heiterem Himmel RASENDE Zahnschmerzen bekam und mir sofort ein mitleidender Einheimischer sagte, wenn ich da vielleicht eine Amalgam-Füllung hätte, wäre das durchaus möglich bei der Rest-Uranstrahlung, die halt zum Quecksilberanteil in der Füllung wolle... Und es war so offen, das Geheimnis, dass die in der Region lebenden Frauen auch ungefragt Jodtabletten verschrieben bekommen haben, wenn sie mal wegen irgendwas zum Arzt gingen - Aber sonst war es natürlich schee im Arzg'birg, sonders an Weihnachten mit all den Räuchermänn'ln und Schwippbögen allüberall... So schee, dass man sich daran mental festhielt. Bis heute. Auch die nach Berlin oder München ausgewanderte wendische Erzgebirgs-Jugend hält ausschließlich an diesem Weihnachtsschee fest. Bis heute. Und sie ist nicht nur irritiert, in die alte Heimat heute reisend, von dort mittlerweile lebenden Schwarzen oder kopftuchtragenden Frauen - Nein, sie findet, dass die einfach nicht in das historisch schee' Kindheits-Licht-Bild von Heimat passen und es mit ihrer Anwesenheit verschandeln würden - So jedenfalls hörte ich gut studierte und satte Wohlstands-Kumpelkinder sagen, die sich für weltoffen und tolerant halten und empört über die AfD äußern. - Ich wüsste allerdings kein Tanzprojekt oder Theater aus solchen Banalitäten zu machen. Jurek Becker fehlt einfach. Denn der wüsste, wie man das heute neu machen müsste - aber wenns ohne ihn in Plauen passt und Begeisterungsstürme hervorruft...
Wismut. A Nuclear Choir, Leipzig: Rummelplatz
die hätten einfach alle mal rummelplatz von bräunig lesen sollen, da ist alles poetisch verdichtet drin.
aber an "diesem" schauspiel wird anscheinend selbst in der residenz gestümpert.
Wismut, Leipzig: hauchrausch
der abend ist anspruchsvoll. es bedarf der konzentration, und einiger erfahrung. mit laut-, körper- und bildsprache. allerdings hängt die lesbarkeit maßgeblich von der sitzposition ab. die 1.+ 2. reihe sind optimal, ab der 4. wird es schwieriger. weitab vom geschehen, auf dem podest bekommt man feinheiten nicht mit. aber ob das beim „unterirdischen“ nachtkritiker nur an der sitzposition gelegen hat? lieber ein guter abend mit aufsagetexten, falscher polonaise und poesie, als schlechtes leipziger theater.
wer vergnügen haben kann, am tanz der mutanten, am hauchrausch, an konzentration und der verweigerung gegenüber dem bürgerlichen stadttheaterbetrieb, wer spannung aushält und sich darauf einlassen kann, der erlebt einen vergnüglichen und poetischen abend. peinlich ist dort gar nichts. die inhalte stimmen. mit guten kostümen, performerpersönlichkeiten und auf den punkt gebrachten texten.
Kommentar schreiben