Lebenszerfleischung

von Shirin Sojitrawalla

Karlsruhe, 5. Oktober 2019. Dass manche Menschen eine größere Begabung zum Leben haben, ist eine traurige Vermutung, die einen nicht nur beim Schauen von Ingmar-Bergman-Filmen überfällt. "Das Leben ist das, was man daraus macht", heißt es prompt in seinem Film Sehnsucht der Frauen, der auszuloten versucht, wo das Existieren endet und das Leben beginnt.

Die Karlsruher Schauspieldirektorin Anna Bergmann verschachtelt diesen Film mit zwei weiteren, Passion und Wie in einem Spiegel, dichtet aber auch hinzu und arrangiert um. Werke des schwedischen Meisterregisseurs hat sie schon mehrfach auf die Bühne gebracht: Ihre Adaption seines Films Persona war zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen, und ihre Version von Szenen einer Ehe gehört zu ihren Erfolgsinszenierungen – 2014 in Lübeck herausgekommen, steht sie jetzt in Karlsruhe auf dem Spielplan.

Kühle

Bei Theateradaptionen von Filmen dieses Kalibers – ein ähnlicher Fall ist etwa Michael Haneke – sind einfallslose Kopien oder aus lauter Ehrfurcht kleinlaut geratene Abende zu befürchten. Zum Glück denkt Anna Bergmann gar nicht daran, Bergman nachmachen zu wollen, ganz im Gegenteil lässt sie ihn nach ihrer Pfeife tanzen, kontert ihn mit ihrer eigenen Regiehandschrift.

passion presse 5 560 felix gruenschloss uAuf und in der Bühne von Volker Hintermeier, kostümiert von Aino Laberenz: Marie-Joelle Blazejewski, Sarah Sandeh und Ensemble © Felix Grünschloß

Die Ausgangssituation übernimmt sie aus "Sehnsucht der Frauen": Vier Brüder und ihre Partnerinnen machen Familienurlaub auf einer Insel in den Schären. Hinzu kommen noch die Schwester und Mutter einer der Frauen; sie alle sind vor den Männern angekommen und beichten einander prägnante Momente ihres Liebeslebens. Doch zuvor eröffnet Sina Kießling eindringlich wie eine Hohepriesterin den Abend mit dem Purcell-Schlager Cold Song.

Kühl auch die Bühne von Volker Hintermeier, der eine Wasserlandschaft mit Stegen umzingelt und in der Mitte ein großes stählernes Tipi-Zelt aufstellt, dessen Streben Neonröhren zieren und in dessen Innerem eine Wendeltreppe zu zwei Plattformen führt. Ein Klettergerüst, das verschiedene Orte mimt und der Spiellaune des Ensembles ebenso entgegenkommt wie das mit Wasser gefüllte große Bassin im Vordergrund.

Die erzählten Geschichten drehen sich um schicksalhafte Verstrickungen, immer wieder um die Kinderfrage (Mutterschaft, Kinderlosigkeit, Kindstod), unerfüllte Begierden, die sich in Wahnsinn, Gottesfurcht, Betrug und Lüge entladen. Unterschiedliche Geschichten, die unterschiedliche Frauenbilder entwerfen. Aino Laberenz hat sie, und auch die Männer, exzentrisch und farbenfroh das Gestern zitierend ausstaffiert.

Selbstzerfleischungen

"Bergman schreibt extrem starke Frauenfiguren und wahnsinnig interessante Figurenkonstellationen", gibt Anna Bergmann im Programmheft zu Protokoll, und es sind die seelischen und körperlichen Selbstzerfleischungen der Paare, die sie bestürzend wahrhaftig in Szene zu setzen versteht. Paare, die heftig aneinandergeraten, wie Sina Kießling und Thomas Schumacher als Anna und Andreas, der zuvor oder danach mit Anna Lappe als Karin ein ebenso kraftvolles wie rührendes Liebespaar abgibt. Dazu liegen die beiden nackt im mit Trockennebel gefluteten Wasser. Ein mystisches Bild, das nah am Kitsch gebaut sein mag und doch im Menschen hausende elementare Kräfte versinnbildlicht.

passion presse 2 560 felix gruenschloss uNah beim Kitsch, aber schön: Thomas Schumacher, Anna Gesa-Raija Lappe  © Felix Grünschloß

Doch Anna Bergmann kann nicht nur stimmungsvolle Bilder, sondern auch Party, wie sie bereits in ihrer Inszenierung The Broken Circle bewies. Diesmal entlädt sich die Ankunft der Herren in einem herrlich albernen Gesangsbattle, bei dem sich die Frauen und die Männer mit Cyndi Laupers Girls just wanna have Fun traktieren, wobei nicht nur Sarah Sandeh ihre komödiantische Fiebrigkeit voll ausspielen kann.

Wie Bergman wollte auch Bergmann den unterschiedlichen Geschichten in unterschiedlichen Tonarten, sprich Formensprachen begegnen, zu Anfang ist das noch nachvollziehbar, weil die erste Szene eher tänzerisch gelöst wurde und die zweite mit Voiceover-Verfahren arbeitet, danach aber sind klare Abgrenzungen nicht auszumachen, was dem Abend keinen Abbruch tut, bloß das Programmheft Lügen straft.

Verplätschertes

Schade bleibt, dass einige Szenen sich mit der Beschreibung von Filmbildern zufrieden geben anstatt szenische Lösungen zu finden, was den Abend zuweilen in plätscherndes Fahrwasser leitet. Auf die bekannteste Szene von "Sehnsucht der Frauen" indes, Ehestreit und Beischlaf im steckengebliebenen Aufzug, verzichtet die Inszenierung selbstbewusst. Teile des Streits geben die von Anfang an mit einem schön trockenen Jetztzeit-Ton ausgestattete Claudia Hübschmann und Timo Tank zum Besten.

"Das Leben ist nicht immer so prima", sagt irgendwer in dieser Inszenierung. Für diese Erkenntnis braucht streng genommen niemand ins Theater gehen. Doch: Durchschnittlich zum Leben begabten Menschen bei ihren ausweglosen Begierden und sieglosen Kämpfen zuzusehen und sich gemeinsam den verzweifelten und jauchzenden Stimmungen, die das Leben so bereit hält, hinzugeben, allein das ist den Besuch wert.

 

Passion – Sehnsucht der Frauen
von Ingmar Bergman, in einer Fassung von Anna Bergmann
Deutsch von Renate Bleibtreu und Anne Storm
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Heiko Schnurpel, Till Meiler Choreografie: Tabea Martin, Licht: Christoph Pöschko, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Sina Kießling, Thomas Schumacher, Sarah Sandeh, Jannek Petri, Anna Gesa-Raija Lappe, André Wagner, Sonja Viegener, Bea Brocks, Leander Senghas, Claudia Hübschmann, Timo Tank, Antonia Mohr, Marie-Joelle Blazejewski.
Premiere am 5. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Mehr zur "Skandinavistin" und Collagetechnikerin Anna Bergmann: Vor einem Jahr inszenierte sie Ulrike Syhas Verschmelzung von Stoffen eines anderen Nordmenschen, von Henrik Ibsen: Nora, Hedda und ihre Schwestern.

 

Kritikenrundschau

"Es ist vor allem ein Theaterabend der großen Gefühle, gespielt von einem bestens aufgelegten Ensemble, aus dem besonders das neue Mitglied, die Schauspielerin Sarah Sandeh, durch ihre einfühlsame Interpretation der Rolle der psychisch kranken Rakel Lobelius hervorsticht", lobt Marie-Dominique Wetzel im Deutschlandfunk Kultur "Fazit" (5.10.2019). "Anna Bergmann traut sich große Gefühle und sie kann auch große Gefühle!"

"Anna Bergmann verweigert das Entweder-Oder und eröffnet die Spielzeit am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit einer Collage, die von Boulevardkomik über kühles Erzähltheater bis zum Psychothriller alles kann", ist Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (7-10.2019) begeistert. "Nach knapp drei Stunden verlässt man das Theater mit einem Gefühl wie nach einem Binge-Watching-Serienmarathon: Es ist einfach etwas viel, vielleicht zu viel der menschlichen Abgründe für einen Abend gewesen. Man hätte vernünftig sein können und eine Episode früher abschalten - dagegen spricht aber schlicht der Suchtfaktor."

Zwiespältig findet Rüdiger Krohn in den Badischen Neuesten Nachrichten (7.10.2019), wie Anna Begmann drei Bergman-Filme "zu einem überladenen Stück über leidende Heldinnen und miese Männer verquickt". Hallendes Pathos, larmoyanter Kitsch, handfeste Drastik und platte Klischees auf der Szene, in der Regie "lebhafte Oberflächlichkeit, plakative Übertreibung und grelle Ablenkung": In der Summe ergebe die Bergman-Trilogie weniger als ihre Teile. "Die Inszenierung will zu viel und leistet deshalb zu wenig", so Krohn. Dabei seien die drei Frauen-Schicksale "jedes für sich durchaus anrührend und bühnentauglich", nur bediene der düstere Abend – ein "Seelentheater exaltierter Leidenschaften" – "drei Stunden lang bei allen Varianten der Umsetzung dasselbe Raster". Bedauerlich, denn in der zweiten Hälfte entfalte sich die Rakel-Episode eindringlich, was an der sprachlichen Qualität sowie zwei Schauspielerinnen liege: Sarah Sandeh, die aus der Figur der desloaten Frau ein aufwühlendes Porträt gestalte, und Antonia Mohr, als Mutter ein "wirkungsvolles Gegengewicht".

"Wie schon bei ih­rem Ib­sen-Abend 'No­ra, Hed­da und ih­re Schwes­tern' ver­mengt die Re­gis­seu­rin gleich meh­re­re Berg­man-Dra­men zu ei­nem ein­zi­gen To­tal-Bild von weib­li­cher Pas­si­on und männ­li­cher Nie­der­tracht", schreibt Martin Halter in der FAZ (9.10.2019). Das sei "gro­ßes Me­lo­dram, hart am Ran­de des Kit­sches." Dennoch zeige der Abend "vie­le leich­te, hei­te­re Mo­men­te und so­gar ei­ni­ge Hoff­nungs­schim­mer." Anna Bergmann habe bei Ingmar Bergman gelernt, dass es nicht mehr genug sei, den "Her­ren der Schöp­fung nur de­mü­tig das Was­ser zu rei­chen, in dem sie sich dann rein­wa­schen, suh­len und tau­fen."

Kommentare  
Passion ..., Karlsruhe: atemberaubendes Finale
Sehr geehrte Frau Sojitrawalla, es ist unbegreiflich weshalb Sie den letzten Teil des Abends nicht erwähnen? Es war atemberaubend. Südeutsche Zeitung und Deutschlandfunk bringen es auf den Punkt: -https://sz.de/1.4628743 -https://www.deutschlandfunkkultur.de/passion-sehnsucht-der-frauen-ein-grosser-praller-und.1013.de.html?dram:article_id=460399
Mit freundlichen Grüßen, Dr.Volker Schenk
Passion, Karlsruhe: Ergänzung Kritiken
Martin Halter schreibt in der FAZ, Sarah Sandeh spiele „grandios, federleicht und doch tief innig.“ Das fehlt in ihrer Zusammenfassung von Halters Text. Auch noch vier Tage nach der Premiere bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an ihre Darbietung denke. Falls ich Sie dazu ermutigen kann es hinzuzufügen, wäre die Veröffentlichung meines Kommentars hinfällig.
Passion, Karlsruhe: Innigkeit
#1 und #2: Sie haben so recht.
Eine Episode früher abschalten, wie Cornelia Fiedler es vorschlägt? AUF KEINEN FALL!
In der Tat: die letzte Episode ging mir auch sehr nahe: wie hier Sarah Sandeh und Antonia Mohr (nicht zu vergessen mit Jannek Petri und Marie-Joelle Blazejewski) das Leid widergeben, den Verlust eines Kindes und dass keine Hilfe kommt, ist mehr als eine Darstellung einer Psychose. Und weit weg von kühlem Blick auf die Menschen wie bei Karin Henkel oder von einem wie Impro aussehenden Beliebigkeitstheater a la Nunes. Nur wegen dieser letzten halben Stunde ist der Abend groß. Keine Angst also vor verständlichen Geschichten und vor Gefühlen (nein keine Gefühligkeit, keine Tränen) bei Anna Bergmann und es ist kein Zufall, dass es hier eine Innigkeit gelungen ist, wie schon bei "The Broken Circle" ...
Passion, Karlsruhe: Widerspruch zur BNN
Ich muss Herrn Krohn von den BNN widersprechen. Sicher war der zweite Teil besonders stark, doch mit ihm auch die Männer: Ich sah das Gesicht des Schauspielers Jannek Petri als Eugen im Dialog mit Antonia Mohr und die männlichen Figuren wurden sehr wohl ernst genommen. Wie sonst hätte ich von Petris Eugen so berührt sein können? Ich habe keinen Sohn in Eugens Alter. Auch der große Bruderzwist zwischen Eugen und Martin (Leander Senghas) war großartig inszeniert. Hier lag die Hauptlast bei den Männern. Ebenso ergreifend war die Hilflosigkeit Martins, wenn er lacht in den Szenen mit der großartigen Sarah Sandeh – was nur als Hilflosigket gedeutet werden kann, denn dieses Mittel setzt der Schauspieler Senghas auch in den Szenen mit Bea Brocks als Maria ein. Von daher erkenne ich als Frau in der Inszenierung der Männer keine Oberflächlichkeit. Chargen konnte ich bei keinem der Männer erkennen, ob nun in den homophilen Annäherungsversuchen von André Wagners Frederick an den schönen Andreas (Thomas Schumacher) oder auch bei Paul und Anette. Ich kann auch keine billigen Einfälle daran erkennen, dass der Nebel auf dem Wasser sich ausbreitet oder Tricks erkennen, wie Herr Kohn schreibt: Denn die Stimmen aus den Lautsprechern haben eine Funktion, die vielleicht auch entgangen ist: Das Bemerken eigener Vorstellungen und Lügen, so genau gesetzt, dass die Figuren zur rechten Zeit erkennen, was sie sich vormachen.
Stereotype vermeidet Frau Bergmann. Es war emotional für mich immer eindringlich und übersetzbar in meine eigenen Vorstellungen und Erfahrungen von und bei zwischenmenschlichen Konflikten, was an diesem Abend immer heftiger auf mich einging. Was, wenn nicht Regie war es, das bei Anna Bergmanns Inszenierung der Stimmen vom Band dort geleistet hatte. Und was für ein Timing: Genau zur rechten Zeit bemerkte Sina Kießlings Anna, was sie sprach und hörte sich selbst zu. Da Herr Krohn die Leistung von Thomas Schumacher lobend erwähnt, wird ihm auch sicher bei ihm nicht entgangen sein, wie stark der Einsatz der Stimmen vom Band war, wenn Schumachers Andreas seinen Namen gerufen hört und ruft: Andreas, Andreas. Das wirkte für mich sehr lange nach.
Für mich war es eine kluge und in jedem Detail stimmige Inszenierung. Noch Tage später wurden mir einzelne starke Regieleistungen bewusst. Ich werde ein weiteres Mal in „Passion“ gehen. Was Herr Krohn mit Übertreibung und Oberflächlichkeit meint, sind eher genau eingesetzte Mittel. Das Boulevardeske zwischen dem Ehepaar Anette und Paul kam für mich genau richtig, um mich nach all den heftigen und aufwühlenden Szenen kurz in Sicherheit zu wähnen und dann mit dem unausweichlichen Drama um Elisabeth und ihre Tochter Rakel hinabgezogen zu werden in ein Drama, das mir ohne diese Inszenierung unvorstellbar erschienen wäre. Ich habe einige Tage viele Gespräche geführt zu Rakels Krankheit, lese gerade einige Artikel dazu. Erst jetzt, da ich sehr ergriffen war von diesem Thema und der sensiblen Herangehensweise. Dass „die verkürzten Handlungsstränge sich gegenseitig die Luft nahmen“ habe ich nicht so wahrgenommen. Atemberaubend dabei war eher die Zugänglichkeit dieser einzelnen Handlungsstränge, die zu einem Ganzen verdichtet wurden, einem Ganzen, dem ich als Nichtkennerin der filmischen Vorlagen Ingmar Bergmans nicht angemerkt habe, dass sie ein Puzzle einzelner Stoffe sind. Die Sensibilität der Inszenierung ist beachtlich und ließ mich verstört zurück. Im Sinne einer bewussten Auseinandersetzung mit den Figuren. Ich möchte mir nicht anmaßen, besonders empathisch zu sein, doch ich weigere mich, anzuerkennen, dass es an jenem Abend Oberflächlichkeit und plakative Übertreibung gab.
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