Radikale Rollenspieler

von Lara-Sophie Milagro

8. Oktober 2019. Während unserer Zeit beim Jugendclub am Bremer Theater nutzten meine Freundin Gülcan und ich jede Gelegenheit, um unsere Schauspieltechniken zu erproben, zu schleifen und auszubauen. Nachdem die NPD Anfang der 90er Jahren mit sechs Abgeordneten in die Bremer Bürgerschaft eingezogen war, bestand eine unserer Lieblingsbeschäftigungen darin, uns an ihren Wahlkampfständen darüber informieren zu lassen, wie wir möglichst schnell Mitglied werden könnten, um ein Zeichen zu setzen gegen "all die Schwarzen und Türken" und "für Deutschland". Über die verdutzten Gesichter der NPD-Leute lachten wir uns hinter der nächste Straßenecke schlapp und spielten uns gegenseitig immer wieder genüsslich vor, wie sie verlegen hüstelnd in ihren Unterlagen geblättert hatten. Nicht nur im Theater, auch in der Politik waren damals bestimmte Rollen ganz klar für Weiße reserviert.

Ode auf die preußischen Tugenden

Europawahlversammlung der AfD, Januar 2019. Ein Redner tritt ans Mikrophon und eröffnet seinen Vortrag mit einer flammenden Ode auf die "preußischen Tugenden wie Ehrlichkeit, Fleiß und Disziplin" und bemerkt, dass es "uns Afrikanern zugegebenermaßen schwerfällt, die beiden letztgenannten zu verinnerlichen". Nach einem Loblied auf Kommandeur Lettow-Vorbeck und dessen Verdienste in Deutsch-Ostafrika, schließt er mit den Worten: "Fürchtet euch nicht, wir werden Deutschland wieder an den Platz führen, der ihm gebührt und dieser Platz ist vorne." Der Redner heißt Achille Demagbo, ist im Benin geboren und aufgewachsen, seit 2001 in Deutschland und seit 2013 AfD-Mitglied.

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Was wir damals in unserem jugendlichen Leichtsinn als smart durchdachten riesigen Spaß empfanden, ist 25 Jahre später öffentlich sicht- und hörbare Realität. Heute bin ich diejenige, die jemanden wie Demagbo ungläubig zur Kenntnis nimmt, wenn er Dinge sagt wie: "Wir dürfen Deutschland nicht mit Afrikanern überfluten (…), weil es einfach viel zu viele davon gibt." Und er ist kein Einzelphänomen. Da gibt es zum Beispiel Homib Mebrahtu, dessen Eltern einst aus Eritrea nach Deutschland flohen. Stolz erzählt er in einem Interview, dass die AfD im Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund bei der letzten Bundestagswahl über 20% holte. Emmertsgrund hat mit über 80 Prozent den höchsten Anteil an Bewohnern mit sogenanntem Migrationshintergrund in der Stadt. Ein alter Bekannter von mir, schwul und einst aus Mexiko-Stadt nach Berlin übergesiedelt, wählt ebenfalls rechts. Und die muslimische Mutter einer Freundin "kann die Pegida-Demonstranten gut verstehen".

Unsichtbares Theater à la Günther Wallraff?

Wie kann sich jemand freiwillig Leuten anschließen, die dafür eintreten, ihm elementare Rechte zu verweigern, oder sogar noch tatkräftig daran mitarbeiten, die eigene Community als minder befähigt, befugt oder berechtigt darzustellen? Meinen es Demagbo und Mebrahtu wirklich ernst oder veranstalten sie im Grunde sowas wie eine Dauer-Schauspielübung, eine Art Unsichtbares Theater à la Günther Wallraff, um uns alle mit unserer eigenen Erwartungshaltung und Ignoranz zu konfrontieren? Denn im Grunde bin ja ich diejenige, die ein Problem hat, wenn es mich irritiert, dass Alice Weidel, die mit einer aus Sri Lanka stammenden Frau in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt, Politik für eine rechte Partei macht. Sollte mich das bei heterosexuellen Politikern mit weißen Partnern nicht genauso irritieren? Immerhin wäre Weidels Partnerin die erste lesbische First Lady mit Migrationshintergrund.

Identitätsverschiebungen

"Wäre doch schade, wenn jeder nur noch das spielen dürfte, was ihm entspricht" lautet ein häufiges Argument dafür, dass es für weiße Schauspieler*innen auch weiterhin legitim sein sollte, Blackfacing einzusetzen, um Schwarze darzustellen. In der Tat generiert die (scheinbare) Differenz zwischen Spielendem und Gespieltem im Theater seit jeher spannende Bedeutung, weil es Diskurse um Identität(sverschiebungen) eröffnet, die tradierte Vorstellungen von Hautfarbe, Geschlecht oder Klasse in Frage stellen. Nicht nur das zu spielen, was einem "entspricht", blieb Schauspieler*innen of Colour in Deutschland bisher jedoch weitgehend verwehrt. Das ändert sich gerade, offensichtlich auch auf der politischen Bühne. Die Frage, was wem (vermeintlich) entspricht und warum (nicht), müsste demnach neu gestellt werden.

Reichen Herkunft, Pass, Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung im 21. Jahrhundert noch aus, um sich automatisch einer bestimmten Community zugehörig zu fühlen? Ich frage mich das jedes Mal, wenn weiße Mitbürger mich fragen, wo ich herkomme, oder Schwarze mich wissen lassen, dass es ein Problem für sie wäre, ein Kind mit heller Hautfarbe zu haben, und mir wünschen, dass meine Tochter noch nachdunkelt. Und: jetzt, wo sich die Rollenverteilungen am Theater langsam gleichberechtigter gestaltet – wie spiele ich als Schwarze eigentlich eine Weiße? Was ist Schwarz, was weiß? Eine Hautfarbe? Eine Herkunft? Ein Akzent? Bestimmte Erfahrungen? Rechtsradikale Ansichten? (Nicht erfahrene) Privilegien? Oder anders gefragt: Würden Gülcan und ich heute ganz selbstverständlich für die Rolle der Eva Braun zum Casting eingeladen?

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.


In ihrer letzten Kolumne widmete sich Lara-Sophie Milagro den Opern Richard Wagners und anderen Kunstwerken aus problematischen Hintergründen.

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