"Randbereiche der menschlichen Erfahrung"

 

Stockholm, 10. Oktober 2019. Die polnische Schriftstellerin, Essayistin und Psychologin Olga Tokarczuk (*1962) und der österreichische Romanautor und Dramatiker Peter Handke (*1942) erhalten die Nobelpreise für Literatur für die Jahre 2018 und 2019. Das hat die Schwedische Akademie in Stockholm am heutigen Donnerstag bekannt gegeben.

Die Doppelvergabe erfolgte, da die Verleihung des Preises im Jahr 2018 in Folge mehrerer Skandale in den Reihen der Akademie ausgesetzt worden war.

"Enzyklopädische Leidenschaft"

Die Akademie würdigte Olga Tokarczuk, von der in deutscher Übersetzung zuletzt der historische Roman "Die Jakobsbücher" erschien, für ihre "narrative Vorstellung, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform darstellt". Bereits vergangenes Jahr war Tokarczuk mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet worden. Sie erhält den Nobelpreis rückwirkend für das Jahr 2018.

Verehrt und kontrovers

Den 2019er-Preisträger Peter Handke ehrte die Akademie in ihrem Statement "für ein einflussreiches Werk, das mit linguistischem Einfallsreichtum die Randbereiche und die Besonderheit der menschlichen Erfahrung erforscht" habe. Handke Peter handke 280 Wild Team Agentur UNI Salzburg via Wikipedia CC BY SA 3 0Peter Handke © Wild Team-Agentur-UNI Salzburg via Wikipedia CC BY-SA 3.0Handke zählt mit Romanen wie "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter", "Wunschloses Unglück" und "Der kurze Brief zum langen Abschied" zu den bekanntesten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, der auch als Dramatiker unter anderem mit seiner "Publikumsbeschimpfung" und deren Uraufführung durch den Regisseur Claus Peymann 1966 in Frankfurt Theatergeschichte schrieb. Claus Peymann war auch später für lange Zeit der Regisseur für Peter Handke-Uraufführungen. Handkes jüngster Theatertext, "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße", hatte 2016 am Wiener Burgtheater Premiere, wiederum in der Regie von Claus Peymann. Eine Kontroverse entspann sich Mitte der 2000er-Jahre um Handkes Verhältnis zum serbischen Nationalismus, nachdem er 2006 die Beerdigung Slobodan Milosevics besucht hatte.

(www.nobelprize.org / jeb)

 

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Kommentare  
Nobelpreis: Mammutbaum Handke
da ist es wieder -
sein frühwerk: "publikumsbeschimpfung" und "wunschloses unglück",
es reicht, genügt doch schon und später dann - ich weiß nicht . . .
zum nobelpreis langt es allemal (zur ehre unseres lieben österreichs)
in der "mammutfurzklamm"("immer noch sturm") der gegenwartsliteratur.
vielleicht ist handke aber ein literarischer mammut-b a u m, und gehört
jetzt schon zu den "unsterblichen", und ich weiß es nicht . . .
Nobelpreis: Wie in der Physik
@2: Ist (mindestens) für Physik meistens auch so, dass die Leistungen Jahrzehnte zurückliegen.
Nobelpreis: Endlich!
Hat die Akademie auch Handkes Übersetzungsarbeiten erwähnt? Und seinen Einsatz für Kollegen, deren Arbeiten er unterrepräsentiert sah? Und seine späteren Romane? Und sein hartnäckiges Bestehen darauf, als Dichter und Schriftsteller gefälligst nicht als literarische Pflicht-Verlängerung von Regierungssprechern missbraucht zu werden, woher der ideologische Wind auch gerade weht?

Endlich! Herzlichen Glückwunsch! Und der Wunsch an Peter Handke, ihm möge gelingen, noch Freude an dem Preis zu haben. Dem ersten nach dieser speziellen Verleihungspause....
Nobelpreis: Gratulation dem Weltflüchtling
Gratulation dem „Weltflüchtling“
Eine kluge und gute Wahl der Schwedischen Akademie, die auf einen Abgesonderten, fast Ausgestoßenen zeigt. Falls wir gewöhnlichen Menschen weiterkommen können, gelangen wir auf Terrains, wo „Weltflüchtlinge“ wie Peter Handke lange vor uns waren und weitergezogen sind. Oder wo er verharrte, einsam, wohl auch verbohrt, während wir – selbstgerecht und laut - weiterzogen.
1989, im Jahr der Geschichte, hatte er sich der Zeugenschaft der auf einmal offenen Mauer „sofort, instinktiv, geradezu zurückscheuend, ohne Gedanken“ entzogen, „freilich mit dem Bild, schon am nächsten Morgen werde in der einschlägigen staatstragenden Zeitung, ordentlich gerahmt, die erste Gedicht-Lieferung der poetischen Geschichtszeugen stehen, am Morgen danach, ebenso, der erste Songtext dazu“. Später beschreibt er im „Versuch über die Jukebox“ 1989/90 eine gostilna, „auf einer Kuppe des jugoslawischen Karstes“, „voll, von fast nur jungen Leuten“: „ein Schlußfest mehrerer Klassen aus allen Republiken Jugoslawiens; sie haben sich hier erstmals, über Tage, getroffen.“ „Das Lied, das an diesem Abend, gedrückt von einem der Schüler nach dem andern, immer wieder durch die Säle geht, wird gesungen als ein selbstbewußtes, dabei kindlich-heiteres und, sogar in der Vorstellung von einem Volk, tanzbares Unisoni und hat als Refrain ein einziges Wort: ‚Jugoslavija!‘“
Ja, 1989 war ein Glücksfall für Deutschland und andere osteuropäische Länder. Für die vor 1989 am weitesten westlich stehende Sozialistische Republik, für Jugoslawien, war es dies nicht. Jugoslawien wurde in den Jahren, da die Geschichte sich als „selbst erzählendes Märchen“ gab, zum Menetekel der Zerreißproben des beginnenden 21. Jahrhunderts. Jugoslawien wurde zum Albtraumbild Handkes, zu einer Seite im „weltumspannenden Epos von Krieg und Frieden, Himmel und Erde, Westen und Osten, Mord und Totschlag, Unterdrückung, Empörung und Versöhnung“.
Nein, man muss sich nicht zu Politikern bekennen, wenn sie längst vor Blut kleben, aber man darf auch fragen, ob es so kommen musste und ob nicht gerade politisch Verantwortliche der Europäischen Gemeinschaft 1989/90 dafür hätten sorgen können, dass auch in Jugoslawien die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt.
Nobelpreis: was Elfriede Jelinek sagte
Kaum haben Sie erfahren, daß Sie den Nobelpreis bekommen,
haben Sie verkündet, Sie verdienen ihn nicht. Wenn aber
andere das gleiche sagen, verletzt es Sie.
ELFRIEDE JELINEK: Ich war ja ganz sicher, daß Peter Handke
dran ist, der lebende Klassiker.
(. . .)
Die Dichterin Friederike Mayröcker antwortete auf die Frage,
ob sie Ihnen gratulieren wolle: "So selbstlos bin ich nicht."
JELINEK: Das wundert mich. Ich hätte mich reinen Herzens
gefreut, wenn sie ihn bekommen hätte, weil ich gedacht hätte,
Gott sei Dank, ich bekomme ihn nicht. Ich wußte ja seit einigen
Jahren, daß ich auf einer Liste stehe, und hab täglich für die
Gesundheit vom Handke gebetet. Ich habe gebetet, daß er nicht
stirbt oder krank wird oder wieder irgendwelche Blödheiten über
Serbien äußert.

André Müller, Interview mit Elfriede Jelinek 2OO4
Nobelpreis: was eine Rolle spielt
Bei Olga Tokarczuk spielt ihre politische Haltung EINE Rolle in der Begründung, bei Handke spielt die Verteidigung von Milošević und Kriegsverbrechen KEINE Rolle. Handke ist ein guter Literat und gefahrlicher Reaktionär.
Nobelpreis: ausgestöpselt
Das Bergblau i s t - das Braun der Pistolentasche ist n i c h t;
und wen oder was man vom Fernsehen kennt, das kennt man nicht.
Geht in der ausgestöpselten freien Ebene . . .
Das sagt NOVA, der Geist des neuen Zeitalters, in "Über die Dörfer".
(198O-81, geschrieben in Salzburg.)
Das ist immer noch modernste Literatur, Dichtung von ungewissem Rang.
Vielleicht der Geist des neuen Zeitalters in der ausgestöpselten
freien Ebene Peter Handkes!
Debatte Handke: Zerrissenheit
Peter Handke - Muss und darf - wie leicht sich alles (ver)dreht
Nach den harten Vorwürfen an Peter Handke in den Wochen nach der Nobelpreis-Ankündigung ist mir aufgefallen, dass ich zwei Verben vertauscht habe: Man darf sich nicht zu Politikern bekennen, wenn sie längst vor Blut kleben, aber man muss auch fragen, ob es so kommen musste und ob nicht gerade politisch Verantwortliche der Europäischen Gemeinschaft 1989/90 dafür hätten sorgen können, dass auch in Jugoslawien die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt.
Wie leicht sich Dinge verdrehen. Ich gehöre zu den Deutschen, die sich freuen, dass wir – ja, trotz aller Einwände – zur Einheit gefunden haben und ich bedaure mit Peter Handke, dass Jugoslawien zerriss. Ich hätte mir gewünscht, dass Jugoslawien nach 1989 zu einer anderen Geschichte gefunden hätte. Jüngere Migranten wie Sasa Stanisic finden zwar die Scherben Jugoslawiens nicht mehr als lebenswerten Ort, für sie ist Heimat eh nur das, womit sie sich gerade beschäftigen, also heute dies und morgen das, allerdings beharren sie auf der Definitionshoheit. Aber was sie definieren, ist immer wieder nur die unversöhnliche Zerrissenheit. Aus meiner Sicht sollte sich Deutschland oder Europa nicht zum Mentor der Position dieser jüngeren Migranten machen.
Nobelpreis: Ausgestöpselt II
Ich las vor einigen Monaten meinem literarischen Freund Kowanda
im literarischen Garten an der Donau aus Peter Handkes
"Über die Dörfer" vor. Wir lachten über: "Geht in der ausgestöpselten
freien Ebene . . ." ("ausgestöpselte" freie Ebene, ist entweder manieristisch, oder aber originell, je nachdem was man von Handke hält
oder von ihm halten will.) Danach gingen wir, nicht weit vom Garten, die
Straße hoch bis zum Atelier von E.R. - Seine Schülerin Frau P. kam durch
die Ateliertür, die geöffnet war, zu uns heraus und Kowanda erzählte ihr,
dass ich gerade eine Handke-Lesung gehalten hatte, aus einem Buch, das mir der Bildhauer und Maler E.R. vor vielen Jahren geschenkt hatte.
(Peter Handke selbst, kam vor Jahren einmal beim Atelier vorbei, sah durch die großen Fenster hinein, und die Malerin P. ging daraufhin zu ihm hinaus auf die Straße, um mit ihm, dem von ihr Bewunderten zu reden. Handke sagte unter anderem zu ihr: "Sie sind eine mutige Frau." - Was er wohl damit gemeint hatte?)
Einige Zeit danach kam die Nobelpreis-Ankündigung, und ich schrieb hier in Nachtkritik: 7 Nobelpreis: ausgestöpselt - Even.
Gestern, 1O. Dezember, hörte ich mir Peter Handkes Noblpreisrede an.
Und wer beschreibt meine Verwunderung, als Handke unter anderem NOVA(der
Geist des neuen Zeitalters) aus "Über die Dörfer" zitierte. Er ließ aber aus (vielleicht weil es nicht in die feierliche Nobelpreisrede passte):
Geht in der ausgestöpselten freien Ebene, als Nähe die Farben usw. - Und
ich hätte doch gar zu gerne von ihm gehört, (an die noblen Anwesenden gerichtet): Geht in der ausgestöpstelten freien Ebene! (wäre das nicht
spassig gewesen?). - Handke veränderte auch in seiner Rede: . . .
Es ist schon recht, nicht mehr dahinzuträumen, aber weckt einander doch
nicht mit Hundegebell - veränderte er zu: aber weckt einander doch nicht mit "Hunde-GEBRÜLL". - Nun gut, vielleicht ist das nicht so wichtig ...
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