Die Sprache der Mächtigen

von Elisabeth  Maier

Baden-Baden, 12. Oktober 2019. Mit der Weinflasche in der Hand redet sich der Dorfrichter Adam um Kopf und Kragen. In einem Gerichtsgebäude, das ganz und gar mit weiß-blau gemusterten Delfter Kacheln gefliest ist, dekonstruiert Nicola May die Macht eines Mannes, der das Recht mit Hilfe eines Lügengebäudes beugen will. Dabei kitzelt die Intendantin des Theaters Baden-Baden nicht nur das komische Potenzial aus Heinrich von Kleists Text aus dem Jahr 1808 heraus. Auf dem Hintergrund der #MeToo-Debatte gewinnen die Übergriffe des mächtigen Dorfrichters, der die junge Eve erpresst, eine beklemmende Aktualität.

Geschlechterrollen in Frage stellen

Uraufgeführt wurde Kleists Lustspiel, in dem nichts Geringeres als der Sündenfall selbst verhandelt wird, am 2. März 1808 am Weimarer Hoftheater. Damals führte Johann Wolfgang von Goethe Regie. Das Stück fiel durch. Kleist verarbeitete in seinem Drama auch seine Unzufriedenheit mit dem Staatsdienst.

Krug 2 560 JochenKlenk web xWenn man vor lauter Mustern die Wahrheit nicht mehr sieht: die Bühne von Ralf Zeger © Jochen Klenk

Heute wird "Der zerbrochne Krug" sehr viel gespielt. May gönnt ihrem Ensemble pralle Komödienkunst. Dafür hat Ralph Zeger einen Bühnenraum geschaffen, der niederländische Heimeligkeit ausstrahlt. Blickfang ist der riesige Kachelofen, in dem der Richter so manches Beweismaterial verbrennt. Simon Mazouri als Magd Margarete sieht aus wie ein Ebenbild der holländischen Werbefigur Frau Antje. Mit viel Witz stellt der Spieler Geschlechterrollen in Frage.

Alternative Wirklichkeiten

Den Part der Frau als Lustobjekt will Adam um jeden Preis zementieren: Max Ruhbaum genießt es, in der Richterrobe Macht über die tumben Dorfbewohner auszuüben. Dass die alles andere als einfältig sind, zeigt ihm Evchen, die junge Frau, die er verführen wollte. Dabei zerbrach er den Krug, was nun um jeden Preis vertuscht werden soll. Zunächst wehrt sich Sonja Dengler nur mit Blicken. Dann stemmt sie sich gegen den Mann, der sie noch vor der Gerichtsverhandlung mit verbaler Gewalt zur Falschaussage zwingen will. Ganz konsequent lebt die junge Spielerin, die mit Punkfrisur und Lederklamotten zur Rebellin stilisiert wird, ihre Befreiung zwar nicht aus. Dennoch berührt ihr Kampf um die Liebe zum etwas farblosen Ruprecht Tümpel (Patrick Schadenberg).

Krug 1 560 JochenKlenk web xEine Magd bringt Licht ins Dunkel © Jochen Klenk

Mit Feingefühl meistern gerade Ruhbaum und Dengler den Spagat zwischen tragischen und komischen Elementen, die den Reiz des Werks ausmachen. Kleists schroffe Sprache, die ihn seinen Zeitgenossen im 19. Jahrhundert oft unverständlich werden ließ, lässt sich Ruhbaum so genießerisch auf der Zunge zergehen wie Butterwurst und Limburger Käse. Er zeigt den Dorfrichter nicht nur als einsamen Mann, der seine Hühner "Kinder" nennt. Virtuos entlarvt er die Gesetzlosigkeit des Amtsträgers, der Recht über andere sprechen soll.

Zertrümmerte Lügengebäude

Die Worthülsen, mit denen er seine Mitmenschen einlullt, lässt Sebastian Mirow als Gerichtsrat Walter zerplatzen – und das mit großem Vergnügen. Doch der Schauspieler lässt keinen Zweifel daran, dass auch Walter korrupt ist. Das führt Catharina Kottmeier als kluge Marthe Rull dem Publikum vor Augen, deren Krug bei Adams nächtlichem amourösen Abenteuer zerbrach. Wenig zur Aufklärung beitragen kann Michael Laricchia in der Rolle des Schreibers Licht – zu stark sonnt sich der Schauspieler in Posen der Unterwerfung.

Wenn am Ende das gekachelte Idyll auf der Bühne samt Ofen an die Bühnendecke gezogen wird und der Mob Dorfrichter Adam mit glutroten Lichteffekten in die Hölle jagt, so ist das etwas zu dick aufgetragen. Das spektakuläre Schlussbild fügt sich nur bedingt in Nicola Mays behutsame Inszenierung ein, die Heinrich von Kleists Sprachkunst sehr gerecht wird. Die Regisseurin, deren Stärke vielschichtige Lesarten klassischer Stoffe sind, bringt mit dem Ensemble die tiefe Zerrissenheit des Dichters zum Klingen. Mit viel Witz zertrümmern die Schauspieler das Lügengebäude, auf dem die Welt des Dorfrichters fußt. Faszinierend ist, dass sich die "alternativen Wirklichkeiten", die Adam seinen Mitmenschen auftischt, damals wie heute in der Sprache der Mächtigen wiederfinden.

 

Der zerbrochne Krug
von Heinrich von Kleist
Regie: Nicola May, Bühne und Kostüme: Ralph Zeger, Dramaturgie: Leona Lejeune.
Mit: Sebastian Mirow, Max Ruhbaum, Michael Laricchia, Catharina Kottmeier, Sonja Dengler, Oliver Jacobs, Patrick Schadenberg, Berth Wesselmann, Simon Mazouri, Tatjana Ermolenko.
Premiere am 11. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-baden-baden.de

 

Kritikenrundschau

Wirklich großartige Darstellerinnen und Darsteller bildeten das Theaterensemble, doch man verstehe sie nicht gut. "Zu schnell und auch undeutlich hasten die Worte in der Premiere am Freitagabend am Ohr vorbei“, so Gisela Brüning im Badischen Tagblatt (14.10.2019). "Augenfällig durch die turbulente Baden-Badener Inszenierung von Nicola May bestätigt, stellt der geneigte Zuschauer im Verlauf des Einakters fest: Die Sitten und die Moden wechseln, nicht aber die Charaktere der Menschen. Was den 'alten Adam' umtrieb, und auch den Dorfrichter Adam zu immer tolldreisteren Ausflüchten hinreißt, ist heute noch in Staat, Politik und Gesellschaft zu beobachten. Wer die Macht verwaltet, (miss)braucht sie häufig zu eigenen Zwecken."

"Dieser 'Krug' bietet 90 Minuten lang vollsaftiges, intelligent gemachtes Theater vom Feinsten. Dann aber bricht die Inszenierung ein und verliert ihr Händchen für den Text", bedauert Rüdiger Krohn von den Badischen Neuesten Nachrichten (14.10.2019). "Es beginnt damit, dass May den Publikumsliebling Berth Wesselmann als schrullige Frau Brigitte fehlbesetzt und mit diesem mutwilligen Kick die Vorzüge der übrigen Einstudierung entwertet. Zum vordergründigen Effekt ohne erkennbaren Gewinn für das Stück gerät überdies der hastige Regieeinfall, Adam durch seinen verzappelten Abgang in Feuer und Rauch tatsächlich als Satan zu dämonisieren. Und schließlich macht die unglückliche Entscheidung, dem Werk auch noch die überflüssige, aus gutem Grund meist ausgeschiedene 'Variant'-Szene mit umständlichen Erklärungen anzuhängen, den vorher so vergnüglichen, nun plötzlich ungelenken Abend leider nur länger. Schade."

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