Mutter, Sohn und verfluchter Heiliger Geist

von Jan Fischer

Hamburg, 12. Oktober 2019. Es ist einfach, etwas "Drogentrip" zu nennen, und bei "Neverland", Antú Romero Nunes' dunklem Versuch über Peter Pan, läge das nahe. Aber es wäre unfair, weil Drogentrip immer auch heißt: Dies ist mit dem konventionellen Bewusstsein nicht zu erfassen oder zu beschreiben, weder währenddessen, weil Droge, noch danach, weil das Bewusstsein dann schon längst wieder eingerastet ist und sich nur noch traumhaft an verblassende Bilder erinnert.

Solche, zum Beispiel: Ein Mann gebiert in Jesuspose, eingehüllt in eine riesige Plastikplanenplazenta, sieben blutende Kinder, die ihn fortan als "Mutter" bezeichnen. Ein anderer Mann trinkt Tränen aus einem Löffel, den ihm eine Frau reicht, die ihn statt eines Hakens an die Stelle ihrer amputierten Hand geschraubt hat. Eine leicht schwindsüchtig wirkende Frau, angetan in Bomberjacke, halb durchsichtigem Kleid und Kunstlederwickeln darunter gleitet an Drähten auf die Bühne herab und meint: "Mein Kopf ist nirgends und meine Füße landen nie".

Neverland 2 560 KrafftAngerer uDie verlorenen Jungs auf der Suche © Krafft Angerer

Doch etwas als Drogentrip zu bezeichnen heißt, ihm Gemachtheit, einen Plan abzuerkennen: Drogen arbeiten nicht nach Plan. Und das täte "Neverland" sehr unrecht. Denn obwohl der Abend wie jeder gute Trip eine geradezu archaische Symbolik entfaltet, ist all das Drogenhafte, sind alle diese (alp)traumartigen Visionen, Teil einer gut geölten Motivmaschine auf Hochtouren.

Peter Pan ist Neonjesus

"Neverland" basiert locker auf J. M. Barries "Peter Pan" und entsprechend findet man alle Figuren des Romans in abgewandelter Form wieder: Peter Pan, gespielt von Electra Hallmann, ist eher schwindsüchtig und etwas abgefuckt, George, gespielt von Aenne Schwarz, tritt hier als geheimnisvolles Urwesen in Erscheinung. Da ist Hook (Christiane von Poelnitz), eine Frau ohne Hand, und ihr Begleiter Jean (Pascal Houdus). Die verlorenen Jungs sind eine Horde Tiere auf der Suche nach ihrer Mutter. Mit dabei auch Wendy, Michael und John, ein vom Leben gelangweilter Mann (Marko Mandić), der Dinge sagt wie: "Einsamkeit ist nichts als die Erkenntnis der Leere, die die Seele schon immer umhüllt hat."

Mit diesem Personal entfaltet sich – mehr oder weniger – die altbekannte Geschichte von Peter Pan, Hook und den verlorenen Jungs. Auf der eher spärlich bebauten Bühne (von Matthias Koch) gibt es einmal Rollrasen, der herunter gelassen wird, von oben kommen Stoffbahnen, die an einen Wald erinnern, oder psychedelische Lichter hinten an der Wand. Hooks Schiff ist einfach nur ein gigantischer Bottich, der umher gerollt wird. Am Ende schwebt Peter Pan als an Neonfäden gekreuziger Jesus von oben aus dem Theatergebälk herab und schreit, er*sie sei "Vater, Sohn und verfluchter Heiliger Geist in einem kleinen Körper."

Neverland 3 560 KrafftAngerer uMagische Bilder auf der Bühnen von Matthias Koch © Krafft Angerer

"Neverland" arbeitet zwar mit spärlichen Mitteln, doch werden diese höchst effektiv zu surrealen Symbolwelten zusammenklamüsert. Mehr noch als bildstark ist "Neverland" allerdings textstark. Während die Bildmittel minimalistisch eingesetzt werden klotzt der Text von Nunes und Anne Haug mit allen Mitteln, die die dunkle Seite kulturkritischer Magie zu bieten hat: Odysseus wird auseinandergebaut, die Anziehungskraft von Christiano Ronaldo auch, es wird über Leere, Trennung, Mütter, Väter, Christentum, Liebe, Hass und Abwesenheit monologisiert. Mit freundlicher Live-Unterstüzung von Anna Bauer (Klavier und Gesang).

Dunkles Spiegelkabinett

Aus Texten, Bildern und Musik schrauben Regie und Ensemble ein dunkles Spiegelkabinett zusammen. Dazu kommt das babylonische Sprachgewirr, das auf der Bühne herrscht: Das Ensemble rekrutiert sich aus dem Programm Thalia International und besteht aus Austauschdarstellern und -darstellerinnen aus Stockholm, St. Petersburg und Ljubljana sowie Schauspielstudierenden aus sechs europäischen Schauspielschulen. Meistens wird eine Form von Englisch auf der Bühne gesprochen, hin und wieder aber auch die jeweilige Muttersprache oder einfach eine ganz andere. Zusätzlich wird von der Bühne aus das Publikum ständig mit dem Namen "Eddy" angesprochen.

Neverland 5 560 KrafftAngerer uDunkle Märchenfiguren im Spiegelkabinett der Motive © Krafft Angerer

Jedes Motiv, jede Figurenkonstellation hat mindestens eine Spiegelung oder Doppelung – wie der Schatten, den Peter Pan so verzweiifelt sucht. Die Peter-Pan-Figur selbst hatte einmal einen Bruder, wird erzählt, der beim Schlittschuhlaufen ertrank, woraufhin sie versuchte, so zu sein wie er um wieder von ihrer Mutter – die sich als Hook herausstellt – beachtet zu werden. Das und viel mehr davon: "Neverland" entrollt sich Stück für Stück zu einem motivischen Spiegelkabinett, während die Geschichte vom (Alp)Traumhaften immer weiter in zumindest eine weitere mögliche Realität abgleitet: Die Geschichte eines Kindes, das von zuhause weggelaufen ist, weil nach dem Tod des älteren Geschwisters die Mutter zur Trinkerin wurde – und das auf der Suche nach einer Ersatzfamilie auf Straßenkinder und aus nicht näher geklärten Gründen auch auf ihre Eltern trifft.

Meisterlich gestrickt

Die Auflösung der Geschichte ist dabei nicht so wichtig, wenn es denn überhaupt eine Auflösung gibt und nicht nur eine weitere Spiegelung in einem Spiegel in einem Spiegel in einem Spiegel. Denn "Neverland" ist ein meisterlich getricktes und getrickstes Verwirrspiel, so fett gefüttert, daß auch aktuelle Anspielungen auf die Proteste in Hong Kong, Landraub in Chile oder Getrifizierung in Berlin darin Platz haben, auf die Bühne gebracht von einem motivierten und eingespielten Ensemble. Es ist eine Inszenierung, die in in all ihren abstrakt-poetischen Verhandlungen eine subjektiv als magisch wahrgenommene Welt wie im Drogentrip augenzwinkernd ansimuliert – aber dennoch Bewusstseinserweiterung anstrebt.

Wohin? Schwer zu sagen. "Am Ende stirbt jeder allein", sagt die Peter-Pan-Figur, während sie von der Bühne abgeht und ob das Magische Denken da noch funktioniert, wird nicht ganz klar. Die Fee kann jedenfalls nur wiederbeleben, wer daran glaubt, dass Klatschen hilft. Niemals erwachsen werden kann nur, wer genügend Wahnsinn in sich trägt um den ersten Stern zu finden: Am zweiten Stern rechts vorbei. Und dann immer geradeaus bis zur Morgendämmerung.

 

Neverland
nach Motiven von J. M. Barrie
Regie: Antú Romero Nunes, Text: Antú Romero Nunes, Anne Haug, Live-Musik: Anna Bauer, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Lena Schön, Helen Stein, Musik: Anna Bauer, Johannes Hofmann, Choreographie: Nir de Volff, Videodesign: Rasmus Rienecker, Licht: Jan Haas
Mit: Electra Hallmann, Marco Mandić, Aenne Schwarz, Christiane von Poelnitz, Alexandra Mamkaeva, Pascal Houdus, Oscar Briou, Augustin Groz, Luka Kluskens, Tara Hetharia, Katarzyna Faszczewska, Emil Kihlström, Tamara Romera Ginés
Premiere am 12. Oktober 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.thalia-theater.de



Kritikenrundschau

Von einem "mit drei Stunden reichlich langen" und dabei nicht wirklich "tief" schürfenden Abend berichtet Katja Weise im NDR (13.10.2019). Die "Idee, ein internationales Ensemble zusammenzubringen und spielend den Peter Pan-Kosmos zu erforschen, ist großartig: Wofür stehen die Generationen, was verbindet, was trennt, was bedeutet es eigentlich, erwachsen zu sein, zusammen zu leben. Welch eine Chance! Nunes hat sie nicht vertan, aber einfach zu wenig daraus gemacht".

"Eine Struktur findet der Regisseur nicht, irgendwie will immer noch ein weiteres tolles Bild entworfen werden." Wirr sei die Aufführung, dazu klug, großartig, läppisch, unterhaltsam und nervtötend, schreibt Falk Schreiber im Hamburger Abendblatt (13.10.2019). "Der Abend zerfällt vorn wie hinten, nichts passt zusammen." Im Grunde sei es erfrischend, dass Nunes seinem Stück immer wieder ein Bein stelle. "Wo Mandić zum Beispiel das Publikum in einer wirklich erbärmlichen Nummer das Publikum zum Klatschen animiert, sabotiert der Regisseur seine längst zur Bürde gewordene Erfolgsästhetik, das ist raffinierter als es in seiner Offensichtlichkeit scheint. Aber es macht den dreistündigen Abend eben auch arg lang."

Nunes reiße vieles an mit bunt wirbeligen, in manchen philosophischen Untiefen gründelnden Ideen aus Antike und Gegenwart. "Liebe, Hass, Einsamkeit, Sehnsucht nach menschlicher Nähe, Leere, Sterben, Vater und Mutter hat er im Angebot seines überfrachteten Wissens, doch zum Kern kommt er nicht", schreibt Monika Nellissen in der Welt (14.10.2019). "Er bleibt mit faszinierend schönen, fantastisch bildstarken und verblüffend einfachen Impressionen mehr an der Oberfläche hängen, als es der Stoff hergäbe."

Nunes' Bearbeitung des Peter-Pan-Stoffs sei "eine typisch deutsche Textcollage längs linker Tagesthemen wie Gender, Gentrifizierung und globaler Gefahren", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (24.10.2019). "Dieser Verhau aus Szenenschnipseln, Filmkostümen, kritischer Weltsicht, Genderchange und Vielsprachigkeit zerfleddert dann auch noch in lauter unterschiedliche Spielformen. Das erinnert mal an russisches Volkstheater, dann an Jugendchaos im Friedenscamp, mal an kerndeutsches Pathosdröhnen und ab und zu auch an überzeugendes Schauspiel, aber bitte immer nur kurz."

 

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