Schauspiele jenseits des Menschen

16. Oktober 2019. Die Klimakrise bedroht unmittelbar unsere Zukunft. Warum wird sie dennoch so selten im Theater verhandelt? Theatermacher Tobias Rausch denkt in seinem Essay über die Schwierigkeit nach, Natur auf die Bühne zu bringen.

Von Tobias Rausch

"Die Welt ohne uns" von Tobias Rausch und lunatiks produktion in Hannover 2010 bis 2015 © Katrin Ribbe

Schauspiele jenseits des Menschen

von Tobias Rausch

16. Oktober 2019. Die Klimakrise bedroht unmittelbar unser aller Zukunft. Wenn das Theater den Anspruch hat, die zentralen Menschheitsfragen zu spiegeln, dann sollte man meinen, dass die Klimakrise geradezu auf die Bühne drängen müsste. Doch ist das Theater überhaupt das geeignete Medium dafür? Ist der Klimawandel nicht ein viel zu abstrakter, nur über statistische Häufungen und naturwissenschaftliche Vermittlungen zu beschreibender Gegenstand, um ihn szenisch anschaulich zu erzählen? Wie kann man Naturphänomene wie zum Beispiel das Artensterben oder Fluten, Dürren und Stürme zum bühnentauglichen Stoff machen?

Was ist die Position eines Sturms?

2009 arbeiteten meine Kolleg*innen von lunatiks und ich am Theater Vorpommern an dem Theaterprojekt SCHICHT C. Eine Stadt und die Energie zu einem Schneesturm, der im Winter 1978/79 das Kraftwerk Greifswald/Lubmin für acht Tage von der Außenwelt abschloss. Während der Interviews mit den Zeitzeug*innen fiel uns auf, wie wenig übrig blieb von den erwarteten heldenhaften Kämpfen der Beteiligten gegen die Gewalten des Schneesturms. Es wurde eher über die Sorge um die warme Babyflasche gesprochen, nachdem der Strom ausgefallen war, oder über die neu gekaufte Jeans, durch die sich die Beine im Schnee blau verfärbt haben.

SchichtC 560 Theater Vorpommern uSchneesturm am Kernkraftwerk: Das Dokumentarstück "Schicht C. Eine Stadt und die Energie" von Tobias Rausch und lunatiks produktion in Greifswald 2008 © Theater Vorpommern

In den Erzählungen der Zeitzeug*innen erschien die Katastrophe eher in den Abweichungen der alltäglichen Details als in der Erfahrung einer Ausnahmesituation. Eigentlich fehlt alles, was in Begriffen des Theaters als "Vorgang", "Konflikt" oder "Zuspitzung" zu beschreiben wäre; also Entscheidendes für das, was als handlungstragend für ein Theaterstück gilt. Im Kampf gegen den Schneesturm entstand im dramaturgischen Sinne kein Konflikt.

Zu einem Konflikt wäre ein Widerspruch zwischen verschiedenen Positionen, Werten oder Absichten notwendig. Der Sturm aber hat keine Position, er ist überall, er umgibt die handelnden Personen, er ist das Medium, in dem sie sich bewegen – aber er steht ihnen nicht gegenüber. Er stellt einen physischen Widerstand dar, ohne einen Widerspruch zu enthalten.

Ghosh Grosse Verblendung CoverDies gilt so lange, wie wir einen Sturm als ein meteorologisches Ereignis verstehen, das aufgrund von Hoch- und Tiefdrucksystemen, Temperaturdifferenzen und physikalisch beschreibbaren Luftturbulenzen entsteht. In seinem Essay "Die große Verblendung – Der Klimawandel als das Undenkbare" beschreibt der indische Romancier Amitav Ghosh, wie ihn ein Wirbelsturm in Delhi (Indien) überfällt. Den Augenblick, in dem er den Rüssel des Tornados erblickt, schildert er als einen Moment der Ehrfurcht, in dem dasjenige, was ihn im Alltag gestaltlos umgibt – nämlich die Atmosphäre aus Luft –, plötzlich eine Gestalt und ein Antlitz gewinnt und ihm quasi als nicht-menschlicher Akteur gegenübersteht.

Genau diese Fähigkeit, behauptet Ghosh, Naturphänomene als eine eigenständige Figur einer Geschichte zu sehen, habe die westliche Literatur mit der Entstehung neuzeitlicher Erzählmodelle und Subjektkonstruktionen verloren. Wir seien erzählerisch blind für jene Art von Geschichten, in denen nicht individuell handelnde Menschen und ihre moralischen Konflikte den Kern des Geschehens ausmachten, sondern Vorgänge in der Natur. Anders als zu Zeiten der "Odyssee" sei die Natur heute nur noch eine Art Hintergrundkulisse für uns als Handelnde und Opfer; Naturkatastrophen stellten lediglich Durchbrechungen unseres zwischenmenschlichen Alltags dar und gelten damit als das der Handlung gegenüber Äußere und Unwahrscheinliche.

Wer kann Akteur eines Theaterabends sein?

Mit dem Sachbuch "Die Welt ohne uns" veröffentlichte der amerikanische Wissenschaftsjournalist Alan Weisman 2007 ein spannendes Gedankenexperiment. Was wäre, wenn die Menschheit von einen Tag auf den anderen plötzlich vom Planeten verschwunden wäre? Was würde aus unseren Städten, Bauwerken und Hinterlassenschaften, aus den Landschaften und der Tier- und Pflanzenwelt? Meinen Kollegen Aljoscha Begrich und mich hat an diesem Gedankenexperiment die paradoxe Frage gereizt, wie eigentlich ein Theater über eine Welt ohne den Menschen aussehen müsste. Paradox, weil Theater primär Menschenkunst ist, also das Medium der Darstellung die Menschen selbst sind. Aber wie wäre es, wenn die Pflanzen selbst die Protagonisten sein könnten? Daraus entstand ein fünfjähriges botanisches Langzeittheater "Die Welt ohne uns" am Staatstheater Hannover unter Intendant Lars-Ole Walburg.

Zusammen mit dem Studiengang Gartenbauwissenschaft wurde auf einem leerstehenden Kasernengelände ein Garten angelegt, der im Laufe des Projektes verwildert. Für das Publikum wurde ein Container aufgestellt, durch eine Glasscheibe konnten sie das Geschehen im Garten verfolgen. In insgesamt neun Folgen haben wir gemeinsam mit Gastkünstler*innen den fiktiven Zeitraum von einer Millionen Jahre durchgespielt. Die ästhetischen Formen reichten von einem interaktiven Gartenfest über ein Hörspiel und ein Multimediaspektakel bis zum Figurentheater.

Pflanzen als Protagonisten im Theater? Wie soll das funktionieren? Damit eine Pflanze im Zentrum eines Bühnengeschehens stehen könnte, schienen uns drei Eigenschaften notwendig:

  1. Die Fähigkeit, zu handeln, d.h. komplexer als in simplen Reiz-Reaktionsmustern agieren zu können.
  2. Individualität.
  3. Die Möglichkeit, ein Publikum emotional zu affizieren.

Können Pflanzen handeln?

Im Vorfeld haben wir mit Botaniker*innen und Pflanzenphysiolog*innen gesprochen. Können Pflanzen handeln? Interagieren sie? Kommunizieren sie? Spielen sie Theater?

Tabakpflanzen zum Beispiel ...

  • wehren sich aktiv und koordiniert gegen Fraßfeinde. Bei Schädlingsbefall produzieren sie einen Botenstoff, mit dem die Pflanzen, ähnlich in einem Nervensystem, kommunizieren. Die Wurzel produziert daraufhin Nikotin, das in den Blättern eingelagert wird und die Schädlinge fernhält.

  • werden von benachbarten Pflanzen, z.B. Akazien, abgehört. Sobald sie von Fraßfeinden angegriffen werden, produzieren auch die benachbarten Akazien Abwehrstoffe.

  • täuschen Mottenweibchen, die auf der Suche nach einer Brutablagestätte sind, indem sie so tun, als wären ihre Blätter schon besetzt.

In der Summe schienen uns das Formen von Verhalten, Kommunikation und Handlung zu sein, die nahe genug am Theater sind. Die Frage für unser Projekt lautete also: Wie können wir diese Handlungen, die üblicherweise für den Menschen nicht wahrnehmbar sind, sichtbar machen? Und ist es möglich, dass unsere Zuschauer*innen beginnen, unsere Protagonisten als Individuen mit einer individuellen Geschichte wahrzunehmen?

Gefühle für eine Pflanze?

Zum Auftakt des Projekts haben wir im Schauspielhaus eine Lecture Performance gestaltet. Wir hatten eine Basilikumpflanze, mit der wir allerhand Experimente durchgeführt haben, etwa überprüft, ob es stimmt, dass Pflanzen tatsächlich besser bei klassischer Musik als bei Heavy Metal wachsen, oder in einem Crashtest getestet, ob Darwin recht hatte mit seiner These vom "survival of the fittest". Die Philosophin Angela Kallhoff brachte in Talk-Elementen Aspekte der Pflanzenethik ein. In der letzten Szene schließlich haben wir die Basilikumpflanze in einer Mikrowelle zu den Klängen von Brahms' "Deutschem Requiem" binnen Sekunden verdorren lassen.

DieWeltohneuns 560 Katrin Ribbe uDas botanische Langzeittheaterprojekt "Die Welt ohne uns" von Tobias Rausch und lunatiks produktion am Schauspiel Hannover 2010 bis 2015 © Katrin Ribbe

Die Resonanz des Publikums auf dieses letzte Experiment hat uns verblüfft. Zahlreiche Zuschauer*innen kamen anschließend zu uns und ließen uns wissen, dass sie es nicht in Ordnung fanden, was wir zum Schluss mit der Basilikumpflanze angestellt hätten. Sie waren tatsächlich emotional erregt, empört und betroffen.

Wenn es möglich ist, dass uns das Schicksal einer Basilikumpflanze, die wir für eine leckere Pasta mit Pesto selbstverständlich kleinhacken, dermaßen emotional affiziert, dann sollte es doch möglich sein, eine Pflanze zur Identifikationsfigur in einem Theaterstück zu machen. Oder?

Mir scheinen bei der Frage der Identifikation drei grundsätzliche Gefahren benennbar zu sein, die in verschiedener Gestalt immer wieder auftauchten.

Gefahr 1: Yogeshwarisierung

Viele Probleme in der Rezeption von Pflanzen als Darsteller liegen in den anderen Zeit- und Größendimensionen, in denen pflanzliche Ereignisse geschehen. Ihre Kommunikationssignale sind für uns unhörbar. Ein entscheidender Teil des Lebens der Pflanze findet unter der Erde statt. Wenn man diese Prozesse sichtbar machen will, neigt man dazu, Mittel wie Zeitraffer, mikroskopische Vergrößerung, Grafiken und Animationen zur Versinnbildlichung zu Hilfe zu nehmen. All diese Mittel führen allerdings dazu, dass sich das Zeigen im Charakter ändert. Plötzlich erhält es den Gestus des Demonstrierenden und Erklärenden. Wir sehen nicht mehr die Pflanze selbst, sondern wir sehen ihre lehrreiche Aufbereitung. Gewissermaßen den zu Theater gewordenen Wissenschaftsjournalisten. So als würden wir "Romeo & Julia" zu einem Lehrfilm der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über die Gefahren pubertärer Liebe machen.

Dadurch ist eine Szene nicht mehr dramatisch, sondern didaktisch. Die Pflanzen sind nicht mehr Charaktere in einem Stück, sondern Beispiele zur Demonstration einer Tatsache. Die Dramaturgie folgt ganz anderen Gesetzmäßigkeiten, nämlich nicht mehr den Spannungsbögen einer Erzählung von Akteur*innen, sondern denjenigen des Verstehens von Zusammenhängen. Dafür braucht es aber kein Theater.

OderBruch 280 Arno Declair x"Oder Bruch" von Tobias Rausch am Deutschen Theater Berlin 2012 © Arno Declair

Gefahr 2: Infantilisierung

Als Gegenreaktion könnte man nun versuchen, die originär theatralen Mittel zu stärken. Also die Figurenzeichnung der Pflanzen, die Dramatik der Handlung, die Konflikthaftigkeit der Kommunikation. Was dabei herauskommt, ist eine Art von Puppentheater für 3-Jährige, bei dem sich Pflanzen über den letzten Tropfen Wasser streiten. Das mag in der ironischen oder trashigen Brechung unterhaltsam und vielleicht auch dramatisch reizvoll sein. Aber letztlich geht die Andersartigkeit des pflanzlichen Lebens verloren, sie werden zu – unglücklicherweise auch noch sehr simplen – Abbildern unserer selbst. Das ist vielleicht der treffende Kern des Anthropomorphisierungsvorwurfs, dem man sich natürlich immer aussetzt, sobald man Theater mit Pflanzen macht: Wenn man Pflanzen in Kategorien menschlicher Existenz darstellt, dann misst man ihre Eigenschaften auch an denen menschlichen Verhaltens; was im Ergebnis die Eigentümlichkeit des botanischen Existierens auf ein sehr schlichtes menschliches, infantiles Schnittmuster reduziert. Und dieses wird weder den Pflanzen noch den Zuschauer*innen gerecht – und nebenbei, den Ansprüchen eines deutschen Stadttheaterschauspielers auch nicht.

Gefahr 3: Primat der Theatermittel

Um die Eigentümlichkeit der Pflanzen in ihrer Ferne trotzdem erfahrbar zu machen, könnte man nun tief in den Werkzeugkasten der theatralen Effektmaschine greifen. Die im Sonnenlicht doch sehr banal dastehende Fingerhutpflanze wird durch Einsatz der Nebelmaschine, mit Gegenlicht, Beamerprojektion und Soundkulisse mit Bedeutsamkeit aufgeblasen. Dem Publikum jagt ein Schauer über den Rücken. Ja, vielleicht schaut es zum ersten Mal voller Ernsthaftigkeit und Konzentration eine Fingerhutpflanze an. Was es dann jedoch sieht, sind primär die Effekte der Mittel, die genauso zu erzielen wären, wenn unser Hauptdarsteller keine Pflanze, sondern ein Urinal oder das Telefonbuch von Hannover wäre. Diese Beliebigkeit ist verräterisch, denn zeigt sie doch nur, dass die eigentliche Aufgabe verpasst wurde – eine gute Geschichte mit Mitteln des Theaters zu erzählen.

Das Problem mit der Situation

Die Frage, wie ein Theater mit Pflanzen aussehen könnte, hat "Die Welt ohne uns" nicht befriedigend beantwortet. Aber das Projekt hat uns in seinem Scheitern eine Menge darüber gezeigt, welche Wahrnehmungsgrenzen wir im Theater haben und wie hoch die Hürden sind, eine Bühne jenseits des Menschen zu etablieren.

Die Erfahrungen bei Projekten wie "SCHICHT C – Eine Stadt und die Energie" oder auch "Oder Bruch" zum Oder-Hochwasser 1997 (uraufgeführt am Deutschen Theater Berlin 2012) nährten den Verdacht, dass Naturereignisse mit theatralen Mitteln immer wieder (nur) in konkreten Einzelschicksalen erzählbar werden.

Wie lassen sich dagegen statistische Häufungen erzählen? Oder die Verschiebung von Parametern bei Temperaturen, Luftfeuchtigkeit oder Höhenwinden? Wie die komplexen Ursache-Wirkungskorrelationen zwischen der Emission von Treibhausgasen, Abschmelzen der Polkappen und Verschiebung der Klimazonen? Wie der Einfluss von Flussbegradigungen und Landnutzung?

Was ich auf der Bühne zeigen kann (und die Betonung liegt auf zeigen), sind Situationen. Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen räumlichen und zeitlichen Horizont darstellen, innerhalb dessen etwas geschieht. Wenn die Ursachen und die Folgen von Handlungen tausende Kilometer voneinander entfernt liegen, innerhalb eines jahrzehntelangen Prozesses geschehen und in ihrem Konnex nur durch wissenschaftliche Abstraktion herzustellen sind, dann unterläuft das die Möglichkeiten von theatralen Situationen. Im klassischen Drama tritt an diese Stelle der Botenbericht oder der "Deus ex machina", also ein innerhalb der Handlung plötzliches und unmotiviertes Auftreten einer Gottheit oder einer anderen äußeren Kraft. Kurzum, das die Situation beeinflussende Ereignis wird in einen Raum außerhalb der Szene und auch außerhalb der Kausalität der Handlung verlagert.

Welt Klimakonferenz 560 RiminiProtokoll xKlimapolitik als Diskurstheater: "Welt-Klimakonferenz" von Rimini Protokoll am Deutschen Schauspielhaus Hamburg 2014 © Benno Tobler

Die grundlegende Situation auf einer Bühne besteht darin, dass Schauspieler*innen einem Publikum gegenüberstehen. In den vergangenen 15 – 20 Jahren hat sich eine Vielzahl neuer Formate entwickelt, wie diese Grundsituation genutzt werden kann – als Diskursraum, als partizipative Interaktion, als Plattform aktivistischer Intervention und so weiter. In diesem Raum lässt sich vieles, wenn nicht sogar alles, sagen, erklären, diskutieren.

Natürlich ist es – ähnlich wie bei den "Physikern“ von Dürrenmatt – möglich, die global bedrohlichen Folgen menschlichen Handelns als Diskussion zwischen Wissenschaftler*innen auf die Bühne zu bringen. Oder wie in "Welt-Klimakonferenz" von Rimini Protokoll die Verfahren der Klimaverhandlungen zwischen Staaten. In diesem Augenblick bringe ich einen Diskurs auf die Bühne, ich zeige das Sprechen über eine Sache, beispielsweise den Konflikt zwischen Wissenschaftler*innen und Politik, ihre unterschiedliche Haltungen, ihre Sym- und Antipathien, ihre Profilneurosen etc. Oder die strukturellen Zwänge, in denen wir agieren. Aber ich zeige nicht die Sache selbst. Wie kann ich also zeigen und nicht nur sagen?

Wie nun also?

Wie lässt sich eine Flut, der Klimawandel, das Leben von Pflanzen, eine Schneekatastrophe – oder, um Beispiele aus anderen Projekten zu bringen: die ökologische Entwicklung der Magerrasen auf der Schwäbischen Alb, die Ausbeutung der Meere für die Fischindustrie oder das Bienensterben – auf die Bühne bringen? Wie lässt sich Natur auf die Bühne bringen?

Die Frage, die mich umtreibt, lautet, ob meine eigenen Schwierigkeiten im Umgang mit Natur auf der Bühne auf ein tieferliegendes Problem deuten. Eines, das in der Wurzel unserer künstlerischen Darstellungsfähigkeiten liegt. In den Bedingungen, wen oder was wir als dramatischen Akteur zu akzeptieren in der Lage sind. In der Wurzel unseres Verhältnisses zur Natur und unserer Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen und zu verstehen.

 

TobiasRausch 180 Sebastian Hoppe uTobias Rausch, geboren 1972 in Frankfurt am Main, ist freier Theaterregisseur und Autor. Er studierte Philosophie, Biologie und Literaturwissenschaften und promovierte am Lehrstuhl für Kulturphilosophie und Philosophische Anthropologie der Berliner Humboldt-Universität. 2001 gründete er das auf Rechercheprojekte spezialisierte Theater- und Performancekollektiv lunatiks produktion. Seit 2019 ist er Leiter der Bürger:Bühne am Staatsschauspiel Dresden.

(Foto: Sebastian Hoppe)

 

Der Aufsatz ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Tobias Rausch am Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) hielt.

Gemeinsam mit Ruth Feindl veröffentlichte Tobias Rausch auf nachtkritik.de 2016 den Essay: Recherchetheater – Von jetzt an ist alles Material. Weitere Arbeiten von Tobias Rausch finden Sie im Lexikoneintrag auf nachtkritik.de.

Am 30. Oktober 2019 ist Tobias Rausch als Mitinitiator und Panelist auf der Veranstaltung "Klima trifft Theater" in der Heinrich Böll Stiftung Berlin.

 

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Kommentare  
Klima und Theater: Danke!
Danke für diesen bewundernswert konkreten Text!Er stößt das Fenster
ganz weit auf in eine ganz ehrliche Diskussion über die Möglichkeiten des Theaters. Danke, dass Sie nicht sonntagsredenmäßig abstrakt geblieben sind, sondern das abstrakte Problem an sehr praktischen dramaturgischen Problemen aufgerissen haben. Hoffentlich steigen viele andere Künstler*innen auf diesem Niveau in die Diskussion ein, auf diese Diskussion würde ich mich freuen.
Staging Nature: Einwände
Für eine Diskussion:

1. Pflanzen kann man als Mensch ganz üblicherweise hören, dafür muss man sich nur auf Stille konzentrieren.

2. Man kann Pflanzen auch ganz leicht sehen und unterscheiden, dafür muss man sich nur in Ökosystemen aufhalten und sich auf die eigene Beobachtung konzentrieren.

3. Wenn es da an Stille oder Ökosystemen, in denen man sich aufhalten kann, mangelt, kann man als Theater sich - mit oder ohne ZuschauerInnen - abreißen und als Theater auf dem Ex-Theatergelände einen Garten pflanzen. Nicht einen von Stadt-Theater eingehegten, sondern als Theater einen statt Stadt-Theater pflanzen.

4. "Romeo und Julia" wird vom heutigen Theater schon länger eher als "Lehrfilm der Bundeszentrale usw." infantilisiert gemacht.

5. Wenn man Pflanzen "in Kategorien menschlicher Existenz darstellt, reduziert" man im Ergebnis nicht "die Eigentümlichkeiten des botanischen Existierens auf ein sehr schlichtes menschliches, infantiles Schnittmuster", sondern reduziert das menschliche Existieren infantil auf ein Schnittmuster. Vielleicht auf eines, aus dem man denkt, Pflanzen handarbeiten zu können... So eine Haltung wird in der Tat Ansprüchen erwachsener ZuschauerInnen weniger bis gar nicht gerecht. Aber oft genug leider voll und ganz den Ansprüchen von Theatermachern, wie es (hoffentlich nur) scheint.

6. Die Geschichte einer Fingerhutpflanze erzählt man am besten dadurch, dass eine Figur mit wie immer gearteten Herzbeschwerden an ihrem Genuss, also an dem Verzehr der Pflanze ganz oder in Teilen, genesen oder verstorben ist.

7. Ein Botenbericht auf der Bühne findet eindeutig nicht a u ß e r h a l b der Szene statt. Er ist einfach ein probates dramaturgisches Mittel, etwas von außen, von Ferne oder von Vergangenheit oder Zukunft in die Szene hineinzutragen. - Nachrichten und Medientätigkeit findet ja auch nicht außerhalb der Welt statt, nur weil sie Inhalte von Ferne, aus Gestern oder spekulative von Morgen transportieren...

Sonst habe ich aber keine Einwände gegen den Rausch-Text, über die man diskutieren könnte, wenn man es untheatralisch etwas konkreter angehen wollte mit dem Klima, Menschen und Pflanzen am und im Theater.
Staging Nature: seltsame Biosphäre
Einge Anmerkungen dazu, mit der offenen Frage, was Theater sein könnte:

"Die Dramaturgie folgt ganz anderen Gesetzmäßigkeiten, nämlich nicht mehr den Spannungsbögen einer Erzählung von Akteur*innen, sondern denjenigen des Verstehens von Zusammenhängen. Dafür braucht es aber kein Theater." - da gab es mal Bertolt Brecht, der das Demonstrierende sehr wohl als die eigentliche Grundform von Theater ansah.

"Was dabei herauskommt, ist eine Art von Puppentheater für 3-Jährige, bei dem sich Pflanzen über den letzten Tropfen Wasser streiten." - aber ist dies Verhalten nicht auch sehr nah an weltpolitischer und klimapolitischen Realität? Wenn man mit vollem Elan und hypernaiver Überidentifikation, und ernsthafter Mimisis-Mimikri-Freude dieses Kindertheater für 2 Stunden durchzieht, würden sich so einige Prozesse offenbaren, denke ich. (Aber der durchschnittliche Stadttheaterschauspieler könnte rebellieren, das stimmt).

"Wenn die Ursachen und die Folgen von Handlungen tausende Kilometer voneinander entfernt liegen, innerhalb eines jahrzehntelangen Prozesses geschehen und in ihrem Konnex nur durch wissenschaftliche Abstraktion herzustellen sind, dann unterläuft das die Möglichkeiten von theatralen Situationen." - andersherum nutzen Klimaforscher, um überhaupt rechnen zu können, sogenannte "Klimaszenarien", also greifen auf Mittel des Theaters zurück. Gleichzeitig äußert sich der Klimawandel dramatisch laut Klimaforschern in plötzlichen Kippmomenten, nicht nur in Langzeitprozessen.

Außerdem: Theater ist ja zunächst auch erstmal ein Raum, der Publikum und Bühne umgreifend, eine eigene Atmosphäre erzeugt, eine Art Gegenatmosphäre, im Theater kann man erleben und verstehen, wie diese entsteht. Katharsis ist dabei eine alte Technik, um Temperamente zu regulieren. Und (anders als in der bildenden Kunst) ist mit der Anwesenheit des Publikums immer die Frage nach Aktivität und Passivität von Kollektiven präsent, auch ein enorm wichtiger Klimafaktor. Betrachtet man die seltsame Biosphäre Theater, sollten sich hier Möglichkeiten ergeben, neue Klimasensibilitäten zu erspüren.
Theater und Klima: es gibt Stücke!
"Wie lässt sich eine Flut, der Klimawandel, das Leben von Pflanzen, eine Schneekatastrophe – oder, um Beispiele aus anderen Projekten zu bringen: die ökologische Entwicklung der Magerrasen auf der Schwäbischen Alb, die Ausbeutung der Meere für die Fischindustrie oder das Bienensterben – auf die Bühne bringen? Wie lässt sich Natur auf die Bühne bringen?"

Unter anderem auch, indem Autor*innen Stücke schreiben - zum Beispiel Lucy Kirkwoods "Die Kinder" - die unfassbar klug, menschlich, humorvoll und spannend genau diese Themen verhandeln. Und Theater diese Stücke dann aufführen. (Auch wenn das old fashioned scheinen mag.)
Theater und Klima: Transdisziplinarität
Überhaupt auch sehr spannend, Biologie und Theater zusammenzubringen und miteinander zu denken. Besonders in den Geisteswissenschaften fehlt es oft daran, über die Grenzen der eigenen Disziplin(en) hinauszudenken. Zumal häufig kaum die Möglichkeit besteht, sie im Studium mit bspw. Naturwissenschaften zu kombinieren.
Staging Nature: Studium
JEDES Studium kann man mit allem anderen Studium kombinieren, wenn man nicht darauf besteht, Abschlüsse oder Nachweise für sein Studium beleghaft ausgestellt zu bekommen.
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