BlutKriegNazisKommunismus

von Esther Slevogt

Berlin, 17. Oktober 2019. Eine rasende Collage wird auf den enormen Bühnenbau projiziert, den Andreas Achenbach für Claudia Bauers Heiner-Müller-Adaption "Germania" auf die Drehbühne der Volksbühne gesetzt hat: von der einen Seite eine Art Hallenfassade mit vereinzelten Fensteröffnungen. Wenn er sich dreht, wird ein verschachteltes Raumsystem sichtbar, mit Heiner Müllers sprichwörtlich gewordenen Neubau-"Fickzellen" etwa, Toiletten und einer Bar. Im Verlauf des Abends werden sich darin immer wieder kammerspielhafte Szenen aus Müllers beiden collagenhaften Deutschland-Dramen "Germania Tod in Berlin" und "Germania 3. Gespenster am Toten Mann" ereignen und von der Livekamera in Übergröße auf die Fassade übertragen.

Bilderbogen des Schreckens

Das erste "Germania"-Stück ist noch aus der Sicht der Teilung geschrieben: ein Versuch, in mythisch aufgeladenen Bildern ideengeschichtlich nachzuvollziehen, wie die beiden hässlichen Nachkriegsrepubliken BRD und DDR wurden, was sie sind. "Germania 3" entstand nach der Wende und Müller hat das Stück nicht vollendet. Er unternimmt darin, den Absturz der Geschichte in die Banalität, den der Epochenwechsel der Jahre 1989/90 für ihn auch bedeutete, als Verlustgeschichte in Bilder zu fassen. Dies impliziert auch Müllers Ohnmachtserklärung als Autor im Angesicht der neuen Verhältnisse.

Germania4 560 JulianRoeder uDas Haus Germania: (oben) Emma Rönnebeck, Amal Keller, Sebastian Grünewald; (unten) Orchester, Männerchor © Julian Röder

Claudia Bauer hat diese beiden Stücke auseinandergenommen und für ihren Abend "Germania" an der Berliner Volksbühne neu zusammengesetzt. Und so beginnt alles mit dieser rasenden Collage, in der Rebecca Riedel in einem Stil irgendwo zwischen John Heartfield und Jonathan Meese Motive aus der deutschen Geschichte zu einem martialischen Bilderbogen des Schreckens verarbeitet hat. Kriege, Chaos, Soldaten mit Stahlhelmen. Stadtschloss und Palast der Republik blitzen auf. Stalin, Hitler, archaische Szenen aus den Nibelungen (wobei man in Siegfried manchmal den niederländischen Rechtsradikalen Geert Wilders zu erkennen glaubt). Ein Orchester spielt Wagnereskes, das aber frisch von Mark Scheibe für diesen Abend komponiert wurde, der den Abend mit einem vielschichtigen Soundtrack unterlegt. Denn die Inszenierung kleckert nicht, sondern öffnet mit Live-Orchester auf der Bühne, Männerchor, Puppenspiel und Live-Video den ganz großen Instrumentenkoffer des Theaters.

Spuren der deutschen Misere

Gleich zu Anfang singen drei Sängerinnen in roten Abendroben die Szene "Siegfried eine Jüdin aus Polen" aus "Germania 3". Darin hat Heiner Müller assoziativ einen Bogen vom mythischen Germanenhelden Siegfried, den Hagen heimtückisch ermordete, und der von rechten Freicorps ebenso heimtückisch ermordeten linken Politikerin Rosa Luxemburg  im Januar 1919 geschlagen – zwei Schlüsselereignisse mit apokalyptischen Folgen im deutsch-deutschen Bürgerkrieg. Diese gespiegelte Denkfigur ist für Müllers Arbeitsweise (und speziell die Germania-Stücke) typisch, mit der er sich an die Spuren der deutschen Misere und der deutschen Teilung durch die Jahrtausende heftet. Wie das alles anfing mit den feindlichen deutschen Brüdern und Schwestern, und warum es den Deutschen nie gelang, ihre Geschichte zum Glück zu wenden. Diese Deutschen, die Einheit und Freiheit seit Napoleon immer bloß als Fremdherrschaft und neuen Terror erlebten.

Germania3 560 JulianRoeder uHier wurde im Führerbunker gerade das Conterganwolfskind BRD geboren:  Amal Keller, Zenghao Yang, Sebastian Grünewald, Friederike Harmsen, Rowan Hellier, Narine Yeghiyan © Julian Röder

Wahrscheinlich wäre es wichtig gewesen, schon hier, also ganz am Anfang, Müllers ja nicht selbsterklärendes Bild von Siegfried-Rosa-Luxemburg für die jetzt Lebenden und Theaterschauenden zu entschlüsseln und im Heute zu verorten. Statt Müllers, oft in Historienschwulst abgleitender Metaphorik zu erliegen. Bilder also systematisch zu analysieren und fürs Jetzt zu befragen, statt neue Bilder darüberzulegen. In der "Siegfried"-Szene aber ist es schon schwer, überhaupt den gesungenen Text zu verstehen. So, wie  auch später Germania-Figuren (wie der Arbeiter Hilse) fürs Heute gar nicht mehr entschlüsselbar sind.

Stalingrad als Puppentheater

Dabei gibt es viele gute Gründe, gerade jetzt Müllers Stücke wieder zu spielen: wo allenthalben die Gespenster der deutschen Vergangenheit sich aus dem Morast wieder erheben. Währenddessen leben wir in der ewigen Gegenwart unserer Timelines, wo das Geschichtsbewusstsein höchstens noch von einem Shitstorm bis zum nächsten reicht – (eine Agonie, die Müller in einem berühmten Gespräch mit Alexander Kluge schon prognostiziert hat, auf das der Abend auch einmal anspielt). Jemand, die*der in diesen, für historische Zusammenhänge so blind geworden Zeiten nochmal mit einer Tiefenbohrung große Linien freilegt, wäre also dringend nötig.

Germania1 560 JulianRoeder uSebastian Grünewald, Emma Rönnebeck, Mathis Reinhardt, Lina Mareike Wolfram, Malick Bauer,
Katja Gaudard, Zenghao Yang, Sebastian Ryser, Amal Keller, Peter Jordan, Paula Kober © Julian Röder

In der Volksbühne fängt Claudia Bauer ja auch erst einmal gut an, mit eklektizistischer Wucht und komödiantischer Schärfe. Aber bald verliert sich der Abend in einem immer zäher fließenden Malstrom der Bilder, der kaum seine Tonlage wechselt. Wir treffen Hitler und Stalin als abziehbildhafte geschichtsnotorische Bösewichte – wobei Katja Gaudards fragile wie grotesk verfeinerte Hitlerdarstellung durchaus auch starke Momente hat. Überhaupt sind viele einzelne Szenen von großer Intensität und Bildmacht: wenn da zum Beispiel im Puppenspiel die Stalingrad-Szene entsteht, in der zwei klappergebissige abgebrühte und hungernde Skelett-Soldaten sich feixend einem jungen nähern, mit der Absicht, ihn zu verspeisen: ein fettes, leckeres Kleinkind mit Stahlhelm und Wehrmachtsuniform. Auf der Bühne steht eine ganze Riege toller Schauspieler*innen: angeführt von Peter Jordan, Katja Gaudard, Paula Kober und Sebastian Grünewald.

Es blitzt also immer wieder auf, was der Abend hätte werden können – wenn Bauer dem Stoff analytischer zu Leibe gerückt wäre, statt sich von (s)einer HitlerStalinBlutKriegNaziKommunismusHeinerMüller-Seligkeit an den Rand der Agonie manövrieren zu lassen.

Germania
nach Heiner Müller
Regie: Claudia Bauer, Bühne Andreas Achenbach, Kostüme: Patricia Talacko, Komposition und Musikalische Leitung: Mark Scheibe, Korrepetition: Hans-Jürgen Osmers, Video: Rebecca Riedel, Beleuchtung: Hans-Hermann Schulze, Live-Kamera: Nicolas Krell, Soundeffekte und Soundscapes: Roman Kanonik, Dramaturgie: Stephan Wetzel.
Mit: Malick Bauer, Katja Gaudard, Sebastian Grünewald, Peter Jordan, Amal Keller, Paula Kober, Mathis Reinhard, Emma Rönnebeck.
Puppenspieler*innen: Sebastian Ryser, Lina Mareike Wolfram, Zenghao Yang.
Sängerinnen: Friedericke Harmsen, Rowan Heller, Narine Yeghiyan.
Männerchor: Matthias Bade, Stefan Bailleu, Holger Bentert, Christoff Hoff, Galil Jamal, Caspar James, Manuel Klein, Peter Krumow, Alexander Lust, Djordje Papke, Jens Pokora, Till Schulze, Helge Witt.
Orchester: Sascha Friedl / Avner Geiger, Antje Thierbach / Özge Inci, Jens Thoben / Julius von Engelbach, Damir Bacikin, Halleyn Polo, Samuel Stoll, Elena Kakaliagou, Morris Kliphuis, Finn Vesper, Johannes Lauer, Daniel Eichholz, Anna Viechtl, Magdalena Zimmerer, Anna Maria Steinkogler, Hans-Jürgen Osmers, Wijchiech Garbowski, Olga Holdorff, Hayley Wolfe / Mia Bodet, Magda Makowska / Michael Yokas / Mari Sawada, Catherine Aglibuth / Cecilia Ferron / Marjin Seiffert, Miriam Götting, / Nikolaus Schlierf, Zoé Cartier / Junko Fujii, Natalie Plöger / Daniel Kamien.
Premiere am 17. Oktober 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Mangel an Mut und Ausdruckswillen" ist aus Sicht von Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (19.10.2019) nicht das Problem dieser Inszenierung, sondern "ihre unaufgeräumte gedankliche und dramaturgische Kanalisation". Dass nun Heiner Müller gespielt werde, "der erste und oberste unter den Hausgeistern der Castorf-Volksbühne", und dass das Ganze in einem zweistöckigen Leichtbaucontainer à la Bert Neumann stattfindet (Bühne: Andreas Auerbach), auf dessen Wellblechrückwand die allgemein bleibende Hysterie in Videogroßaufnahme mit den Augen rollt", reißt bei diesem Kritiker "alle vernarbten Volksbühnen-Trennungswunden wieder auf".

"Es ist bemerkenswert, dass sich Bauer der Herausforderung stellt, mit diesen "Germania"-Stücken weiträumig über die Gegenwart zu erzählen", schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (19.10.2019) "Denn Müllers von historischem Bewusstsein und symbolistischen Verdichtungen getragene Texte klingen für heutige, tendenziell auf Gegenwart gepolte Ohren ziemlich fremd." Damit gelingt der Regisseurin aus Sicht der Kritikerin "einerseits (...) eine weitgehende Entpathetisierung". Gemessen an vielen anderen Müller-Abenden klinge "Germania" in der Volksbühne vergleichsweise heutig. "Der Preis dafür besteht allerdings darin, dass dieser Sound kaum Differenzierung kennt. So rauscht der Abend als düster-groteske Historien-Schlaglichtabfolge über die Volksbühne. Mit hohem Regieideen-Aufkommen, aber ohne neuen Erkenntniswert."

"Bauers Regie ersetzt gedankliche Klarheit und nähere Beschäftigung mit dem Stoff durch die Freude an großzügig aufgefahrenen Effekten", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (19.10.2019). In "Bauers Oberflächenregie" bleiben von Müllers blutigen Grotesken aus Sicht dieses Kritikers "nur harmlose Grand-Guignol-Nummern mit Schlenkern zur trashigen Ausstattungsrevue übrig. Hitler und Stalin, kenntlich an den unterschiedlichen Bärten, liegen zusammen in der Badewanne und kippen einander aus Benzinkanistern Blut über die Köpfe wie in der alten Harald-Schmidt-Show. Das sind so die Höhepunkte."

"Clau­dia Bau­er hat den lan­gen Atem und die nö­ti­ge sze­ni­sche Phan­ta­sie für die künst­le­ri­schen An­sprü­che die­ser Schreckens­chro­nik", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19. 10.2019. "Mit der Erwei­te­rung zur zir­zen­si­schen Mu­sik­tra­gö­die lässt sie die­se noch dis­tan­zier­ter und ab­grün­di­ger er­schei­nen, um sie dem Pu­bli­kum mög­lichst klar und dif­fe­ren­ziert vor­zu­füh­ren. Aber sie do­ziert nicht, sie amü­siert und pro­vo­ziert lie­ber. So ge­lingt es ihr, Hei­ner Mül­lers His­to­ri­en­dra­men als Herausfor­de­rung für das Thea­ter wie­der­zu­be­le­ben: staub­frei und an­re­gend."

Claudia Bauer habe die Texte der beiden Müller-Stücke geplündert, "sich Fragmente und Szenen herausgesucht, sie neu gemischt, mit Witz und Leichtsinn und manchmal kindischem Übermut in große Szene gesetzt", schreibt Bernd Noack auf Spiegel Online (18.10.2019). Das sei "so komisch wie öde, so bunt wie platt, so wirr wie pompös, irgendwo zwischen Commedia dell'arte und Stand-up hängend, zwischen Gedankenschwere und Quatsch." In bester DDR-Manier serviere "die gebürtige Bayerin ihren Kessel Buntes, in dem das Süppchen aus allen möglichen theatralischen Zutaten dampft und brodelt und endlich überkocht. Serviert wird das Menü dann heiß-kalt, will sagen: so richtig entscheiden, welche thematische Geschmacksrichtung sie da eigentlich anbietet, kann sich Claudia Bauer nicht." 

"Vielleicht ist dem schwierigen, sperrigen Denker und Dramatiker, der gerade in Erinnerung an Mauerfall und Wende vor 30 Jahren vielfach reanimiert wird, nur so überhaupt auf den Bühnen von heute beizukommen", so Ute Büsing im Inforadio vom RBB (18.10.2019) – "mit einem überbordenden spielerischen Ansatz, der von all den klugen abgründigen Gedankenschnipseln so viel wie möglich in Bilder, Chöre, Performances und Schauspieleinlagen zu übersetzen versucht. Rundum gelingen kann das – wie dieses insgesamt zwar bildmächtige, aber historisch-materialistisch gesehen eher harmlose Zombie-Potpourri von Claudia Bauer - wahrscheinlich gar nicht."

"Müllers Sprache hatte einen Hang zum Orakel, entdeckte das Faschistische, das Deutschtümelnde in vielen Attitüden des Alltags", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (21.10.2019). "Das schien lange eine archäologische Arbeit, ein Wühlen im verborgen Gehaltenen. Inzwischen aber liegt viel davon, etwa Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit wieder breit und bräsig an der Oberfläche. Dazu findet die Inszenierung kein Verhältnis, und das ist eine verpasste Chance."

 

Kommentare  
Germania, Berlin: langatmig
Mit einer kurzen Pause schleppt sich diese Geschichts-Revue mit mäßigem Unterhaltungswert und geringem Erkenntnisgewinn drei Stunden dahin. Claudia Bauer, die vor einem Jahr als Favoritin für die zukünftige Volksbühnen-Intendanz gehandelt wurde, enttäuscht bei dieser zu langatmigen Arbeit. Seltene Lichtblicke eines dramatugisch holprigen und inhaltlich beliebigen Comic-Abends sind die beiden Szenen, bei denen Puppenspiel-Student*innen der HfS Ernst Busch ihr Können zeigen dürfen, die auch Esther Slevogt besonders hervorhebt. Die kurzen Passagen im Kessel von Stalingrad in der ersten Hälfte und das Gespräch von Walter Ulbricht und Ernst Thälmann über den Mauerbau in der zweiten Hälfte sind nicht nur Schlüsselstellen in Heiner Müllers Text, sondern auch die raren überzeugenden Momente eines zu langen Abends.

Besonders schade ist, dass eine Andeutung aus dem Programmheft nicht eingelöst wurde. Mich ließ aufhorchen, dass in der dort abgedruckten Chronologie der geschichtlichen Ereignisse seit Tacitus und Arminius auch die peinlichen Altherren-Witze von Ex-Volksbühnen-Chef Frank Castorf aus einem SZ-Interview über die Frauen-Fußball-WM auftauchen. Würde es Claudia Bauer tatsächlich wagen, die Sprüche des Hausgotts aufs Korn zu nehmen? Leider Fehlanzeige!

Sie beließ es es dabei, das gesamte Ensemble in Cheerleader-artige Kleidchen mit großen Trikot-Nummern zu stecken. Diese Idee hing aber wie so vieles andere an diesem Müller-Abend in der Luft. Von der archaischen Wucht der „Philoktet“-Inszenierung, die vor wenigen Tagen am DT Berlin Premiere hatte, blieb dieser „Germania“-Abend weit entfernt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/17/germania-claudia-bauer-volksbuhne-kritik/
Germania, Berlin: in den Untergang
Bei Claudia Bauer wird die deutsche Geschichte zu dem, was sie durchaus auch war: einem Albtraum. Aber einem, der weniger schrecklich ist als lächerlich, weniger bedrohlich als absurd, weniger tödlich als bizarr. Bei dem die Dämonen bunte nummerierte Kleidchen tragen und ihre zirzensische Herkunft nie ablegen. Wenn gegen Ende sich alle in einer Kneipe versammeln und besaufen, die Aufbruchstimmung der frühen DDR eins wird mit der Last der Nazi-Geschichte und der Perversion der Mauer-Jahre mag man das als revisionistisch oder beliebig empfinden – zumindest ist es ganz nah bei Heiner Müller. Ebenso darf kritisiert werden, dass sich der Abend im Tonfall und Gestus – mit den Live-Videos, die Brüllattacken, der zunehmen atemlosen Hast, dem einer abgespeckten Version einer Neumann- oder Denić-Konstruktion ähnelnden Bühnenbild – streckenweise und mit zunehmender Dauer ein wenig sehr stark an Hausgott Frank Castorf orientiert und zuweilen beinahe epigional wirkt. Dem Versuch, aus Müllers widersprüchlichen, oft opaken und interpretationsresistenten Konvoluten ein Theater zu machen, dass seine Weltsicht verkörpert wie hinterfragt, entspricht diese Ästhetik durchaus. Und dass der Abend es am Ende nicht vermag, ein wirkliches Sinnangebot zu unterbreiten, liegt in der Natur der Sache.

Denn es ist ja gerade der Sinn von Geschichte, die Möglichkeit, ihr Bedeutung zu verleihen oder gar aus ihr zu lernen, den Müller mehr als alles andere verneint. Und gerade das verleiht Geschichte bei Müller immer ein Element des Grotesken, des Absurden, gar des Lächerlichen, der sich meist hinter seiner harschen, unerbittlichen, gewalttätig reduzierten Sprache verbuírgt. Diese Ebene sucht und findet Claudia Bauer in ihrer Inszenierung. Sie baut aus Müllers Deutschland oder Deutschländern eine düster dystopische Geisterbahn, die das Spielerische einer solchen Konstruktion nie verliert. Der Albtraum ist ein gespielter, ist Zirkus, ist Theater. Und arbeitet sich doch an einem ganz realen Abgrund ab. Den Bauer zu erkunden nicht weiter interessiert. Das kann man ihr und dem Abend vorwerfen: Oder man liest ihn als theatrale Übersetzung einen Wahnwitzes, den zu erklären wollen das Scheitern immer einschließt. So umfasst die Müllersche Todessehnsucht auch das Theater, das bei ihm ohnehin immer ein scheiterndes ist. In Claudia Bauers Händen spielt es sich in den Untergang mit allem, was es hat. Und erweist sich damit als resistent und am Ende gar triumphierend. Geschlossener Vorhang, offene Fragen. Schlag nach bei Brecht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/10/18/deutschland-eine-geisterbahn/
Germania, Berlin: analysieren?
Hallo Herr Krieger !
Nicht schlecht beobachtet , das habe ich ähnlich empfunden .
Liebe Frau Slevogt, man muss Müller „analysieren" ? Das wäre mir neu ! Ihm wahrscheinlich auch. Man muss ihn doch eher hinstellen. Die Sprache spricht für sich. Er bringt es auf den Punkt. Da ist kein „Geheimnis". Das ist es ja . Er stellt es hin. Und so muss man ihn auch hinstellen. Man muss eine Form finden, auf der der Text läuft. Das ist dann eben Geschmacksache. Wenn Sie ihn „analysieren" würden, was würden Sie meinen zu finden ? Das fände ich interessant .
Was der Planet für uns /
Das sind wir /für
Viren / Bakterien
Können Sie das für mich mal analysieren ?
Gruß
Germania, Berlin: Komplexität vortäuschen
Heiner Müllers Text ist ja sprach-gewaltig, ein Text, dessen Verfallsdatum jedoch in der Vergangenheit liegt. Hitler, Stalin, Ulbricht, Luxemburg etc. sind nicht unsere Zeitgenossen, Weltkriege, Mauer, Sozialismus passe. Der Text ist ein Zeitdokument (wie vieles von Botho Strauß, Volker Braun, Gerhild Reinshagen etc.). Aus dieser Warte interessant.

Was Bauer macht, ist, den ganzen Szenen ohne Handlung, ohne Spannung, mit eher allegorischen Figuren, eine Musik hinzuzufügen, die noch dazu mikrophonverstärkt ist und nur Stilzitate enthält und mit Livebildern Komplexität vorzutäuschen. Die ständige Aufgeregtheit und Hektik von Bauer (egal ob es wie zuletzt um Moliere oder Schiller ging) ist schnell anstrengend und langweilig. Dieses Stilmittel ist bei Müller besonders fatal, da der Text für sich steht und keinen Effektüberzug benötigt. Es gibt aber so viel Neues und Gutes (Romane, Filme, Serien), ich muss diese Texte gerade jetzt nicht (nochmal) lesen (oder „sehen“).
Germania, Berlin: nicht mehr zeitgemäß?
#4
Sie meinen , wenn ich das richtig lese , dass diese Autoren und ihre Werke nicht mehr zeitgemäß sind ?
Gruß
Germania, Berlin: Nach Heilbronn!
Eine starke Inszenierung von Heiner Müllers "Germania 3 Gespenster am Toten Mann" von Axel Vornam ist gerade am Theater Heilbronn zu sehen. Sprach- und bildgewaltig, klug, stringent und mit einem erstklassigen Ensemble. Man kann nur alle Heiner-Müller-Fans auffordern, nach Heilbronn zu fahren und sich diesen Abend anzuschauen.
Germania, Berlin: Im letzten Jahrhundert
Axel Vornam ist ein versierter Müller-Regisseur.
Schon 2002 in Schleswig liess er in der Provinz Medea Landschaft mit Argonauten aufleben.
Klassisch, sprachlich, orchestriert.
Inhalt?
Wenn schon Provinz (und die ist oft besser, als die sogenannten Metropolen) dann 1998 Hamletmaschine in Aalen. 360 Grad Bühne von Christopher Hussmann, eigene Komposition von Edgar Mann und emotional erarbeitet. Ein einmaliges Ereignis.
Im letzten Jahrhundert ging noch was.
Germania, Berlin: zeitgemäß?
#5
Sorry für die späte Antwort.
Ja. Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Es wäre schön, wenn heute noch Stücke von Gerlind Reinshagen oder Dorst/Ehler oder Friederike Roth gespielt würden. Oder Strauss. Aber ich befürchte, dass die Spannung heute nicht mehr da wäre.
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