Ein Hauch von Kafka

von Christian Rakow

Berlin, 18. Oktober 2019. Futureland ist eine steinerne Insel mit Hochhäusern, Magnetschwebebahnen und einem zentral aufragenden Wolkenkratzer, der entfernt an den Berliner Fernsehturm erinnert. In 3D-Animationen, geboren am Computer, breitet sich diese Betoninsel der Seligen vor unseren Augen aus. Wer sie aber bewohnen will, trifft auf digitalisiert sprechende Bildschirmcharaktere, die Asylverfahren einleiten, Schulstunden geben und Bleiberechts-Interviews anberaumen.

Gesichter und Schicksale

In einer so simplen wie eindrücklichen Bühnenmetapher öffnet Lola Arias das Spielfeld für ihren Gorki-Abend mit geflüchteten Jugendlichen: "Futureland". Wir blicken in ein "Second Life", das sich in abstrakten und architektonisch kühlen Projektionen aus der Spielbox-Bühne von Dominic Huber erhebt (mit 3D-Video-Animationen von Luis August Krawen und Videos von Mikko Gaestel). Und davor sehen wir die acht jungen Menschen, die allem, was aus dieser zukunftssatten Digitalwelt heraus im Siri-Sprech erfragt oder diktiert wird, ihr eigenes Schicksal entgegenhalten: Mamadou Allou Diallo, Ahmad Azrati, Fabiya Bhuiyan, Mohamed Haj Younis, Bashar Kanan, Sagal Odowa, May Saada und Sarah Safi.

Futureland1 560 ute langkafel maifoto uWas erwartet sie in Futureland? Gibt's dort überhaupt Zukunft für sie?  © Ute Langkafel | Maifoto
Ohne Eltern sind sie nach Deutschland gekommen, aus Guinea, Afghanistan, Syrien, Somalia, Bangladesch. Teils sind sie verwaist, teilweise vorgeschickt in der Hoffnung auf Familiennachzug. Der 18. Geburtstag türmt sich bleiern vor ihnen auf, denn mit der Volljährigkeit droht die Abschiebung. Dazwischen stehen lange, quälende Interviews beim Bundesamt für Migration. Mit ungewissem Ausgang: "Es kann Monate oder Jahre dauern. Es gibt keine Möglichkeit, die Entscheidung der Kommission vorauszusagen", heißt es einmal. Ein Hauch von Kafka umweht ihre Asylverfahren.

Die politische Realität hinter diesem Abend buchstabiert sich täglich aus. Gerade ist die Türkei in den kurdischen Teil Syriens einmarschiert, Gorki-Intendantin Shermin Langhoff gehört zu den Erstunterzeichner*innen eines internationalen Protestbriefs gegen die Türkeideals und die Migrationspolitik der EU, der vor der Premiere die Runde macht. Kriege, der Klimanotstand, die globale Ungleichverteilung von Wohlstand bringen die Menschen in immer größerer Zahl dazu, ihre Heimat zu verlassen. All das bildet sich in Statistiken ab. Aber Statistiken kennen kein individuelles Geschehen. Hier setzt Lola Arias' Theater an. Es zeigt in kleinen, geschickt arrangierten Berichten und Performancesplittern Gesichter und Schicksale jenseits des Formalismus der Behörden, Menschen mit Ambitionen, Glückserwartungen, Sorgen, Ängsten.

Poppige Songs und Tanzeinlagen

Lola Arias' Team ist ein echter Casting-Coup gelungen: So eigen und kraftvoll sieht man nicht-professionelle Spieler*innen in Dokumentartheaterabenden nicht oft. Sarah Safi etwa, die in Afghanistan auf einer Mädchenschule war, bekennt lässig, dass sie es in der hiesigen "Willkommensklasse" schrecklich fand "mit Jungen im gleichen Raum zu sitzen". Ihren ganz eigenen Humor im Umgang mit Kopftuch- und Geschlechterverhältnissen spielt sie aus, wenn sie im Videotelefonat in der Rolle der muslimischen Mutter den kleinen Mohamed an die Kandare nimmt, ob die Einreisepapiere denn nun auf den Weg gebracht seien. Mohamed – ganz Pubertierender – möchte eigentlich lieber Video-Games zocken, darf sich jetzt aber unter anderem anhören, wie der sechsjährige Bruder daheim zu rauchen anfängt, um als "Mann" zu gelten.

Futureland2 560 ute langkafel maifoto uWandern am Abgrund: Ahmad Azrati  © Ute Langkafel | Maifoto

In wohltuend lakonischen Episoden bringt der Abend seine Dramaturgie voran: von der Einreise in "Futureland" mit allen Integrationsforderungen über knappe biographische Einblendungen zu den Herkunfts- und Familienverhältnissen (mit der soghaften Geschichte einer geplanten Zwangsverheiratung und Emanzipation von May Saada) bis zu den Zukunftserwartungen der Spieler*innen. Poppige Songs von Sagal Odowa und Mamadou Allou Diallo, Rap von Bashar Kanan und eine so dynamische wie coole Tanzeinlage von Fabiya Bhuiyan zu Computeranimationen lockern das Erzählwerk auf. Überall bleibt der Pop entspannt, nur kurz angerissen, keine große Show, kein Ding. Und gerade deshalb mitreißend. Szenenapplaus schwillt an.

Unbeirrter Optimismus

Behutsam und andeutungsvoll bleibt der Abend (etwa in der dezidiert unpathetisch gehaltenen Fluchtgeschichte von Ahmad Azrati), aber leichtgewichtig ist er nicht. Das kafkaeske Motiv des als schicksalhaft empfundenen behördlichen Wirkens zieht sich konsequent durch; man ahnt, keine Fehler machen zu dürfen – aber welche? Der 18. Geburtstag ist ein Tunnel, die Volljährigkeitsfeier von Sagal Odowa endet in Niedergeschlagenheit. Erinnerungen an ihre somalische Familie, die vor den Al-Shabaab-Milizen floh, drängen herauf. Sagal wollte ihre Mutter und Geschwister, die in Ägypten festsitzen, nach Deutschland nachholen: "Wir haben es nicht geschafft." Der Atem stockt.

"Futureland" ist ein erzählerisches, musikalisches, berührend humanes und im Kern unbeirrt optimistisches Stück für Jugendliche und alle sonst, die wissen wollen, was Wörter wie "Geflüchtete" oder "Migranten" oder "Asylbewerber" und dergleichen an Erfahrungswelt deckeln. In einem der schönsten Dialoge des Abends unterhalten sich die Musliminnen Sarah Safi und Sagal Odowa darüber, was wohl "haram" ist, also quasi Teufelswerk: "Schwein, Alkohol, Sex ist haram", sagt Safi. Und ob Theater wohl auch "haram" ist? "Theater ist haram, aber klein klein haram." Das stimmt ganz sicher: Ein bisschen teuflisch und sehr, sehr menschlich – das ist Theater.

 

Futureland
von Lola Arias
Regie: Lola Arias, Bühne: Dominic Huber, Musik: Santiago Blaum, Video: Mikko Gaestel, 3D Video-Animationen: Luis August Krawen, Choreografie: Colette Sadler, Kostüme: Tutia Schaad, Dramaturgie: Johanna Höhmann, Florian Malzacher, Recherche/Casting: Hannah Baumann, Produktionsleitung: Dag Lohde, Künstlerische Mitarbeit: Bibiana Picado Mendes. 
Mit: Mamadou Allou Diallo, Ahmad Azrati, Fabiya Bhuiyan, Mohamed Haj Younis, Bashar Kanan, Sagal Odowa, May Saada, Sarah Safi.
Premiere am 18. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Eine Koproduktion des Maxim Gorki Theaters Berlin mit der Ruhrtriennale

www.gorki.de
www.ruhrtriennale.de

 

Die Videospielewelt der Inszenierung ist laut Aussage von Lola Arias im Programmzettel von dem Survival-Game PubG (Playerunknown's Battleground) inspiriert.


Kritikenrundschau

Für Tobi Müller in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (18.10.2019) ist diese Arbeit "sehr toll gemacht". Der "geniale Trick dieses Abends" sei, dass er die Perspektive der Jugendlichen in der Computerspielwelt einnimmt. Die Geschichten der Jugendlichen seien hart und real, würden "aber nie obszön ausgestellt". Es sind Jugendliche, "die Krisenfestigkeit von ihnen ist ganz enorm". Besonders hat dem Kritiker gefallen, wie Lola Arias es schaffe, die Geschichten und die Spielerinnen zusammenzuführen und "sie als Gruppe zu inszenieren".

"Es ist schon deshalb ein so wichtiger wie dringlicher Abend, weil junge Geflüchtete in den Medien und sozialen Netzen noch immer fast ausschließlich als potenzielle Straftäter, schummelbereite Sozialschmarotzer oder mindestens als untragbare Kostenverursacher vorkommen", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (online 19.10.2019). Lola Arias "wählt einen sehr klugen Weg, um die Lebenssituation ihrer Protagonistinnen und Protagonisten erfahrbar zu machen. Im Vordergrund stehen nicht die Schicksale und Leidenswege – obwohl sie präsent sind –, sondern die Aufnahmeprozeduren und Bürokratie-Parcours, die Geflüchtete durchlaufen."

"Die Regisseurin Lola Arias hat für ihr neues Projekt am Gorki beeindruckende junge Menschen gefunden, die Einblicke in ihre Erfahrungen geben", schreibt Inga Dreyer in der taz (21.10.2019). Es sei eine "bestechende Idee, das Stück im Setting eines Computerspiels zu platzieren". Lola Arias habe die Geschichten der Jugendlichen "zu einem rasanten, witzigen und bewegenden Stück verwoben, das einen angesichts der Präsentation der Jugendlichen voller Rührung und Bewunderung zurücklässt".

Über einen "außergewöhnlichen, auch ungewöhnlich widersprüchlichen Abend über den Mut und die Zumutungen für jugendliche Migranten" schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (21.10.2019). Die "große Schwäche des Abends" liegt für die Kritikerin in dem "aseptischen PC-Gefängnis", denn "es gibt einfach kein Außen, keine atmende Reflexion, kein spürbares Leben jenseits der abgedichteten Projektionen – sei es der Idealwelt der Kinder, sei es der idealen Aktienwelt des Staatsapparats – die aufeinander reiben". Es gäbe leider kein "ungehemmtes Agieren der Jugendlichen untereinander"; die Performances wirke wie "alles abgezirkelt, als wären sie schon selbst halb Avatare".

 

Kommentare  
Futureland, Berlin: Nichts krass Neues
Dieses Dokutheaterstück ist ganz auf Jugendliche und Schulklassen zugeschnitten: Lola Arias lässt geduldete junge Flüchtlinge von ihrem Alltag, ihren Hoffnungen und Ängsten erzählen. Sie berichten von Befragungen und zum Teil als demütigend empfundendenen Untersuchungen in den Ankunftszentren erlebten, wo es darum ging, ihr genaues Alter festzustellen. Gegenseitig spielen sie sich mit verteilten Rollen ihre Befragungs-Prozeduren in den Asylverfahren, ihre Gespräche mit ihren Betreuern oder Telefon-Anrufe bei Verwandten und Eltern vor.

„Krass Neues“ erfährt man an diesem 90minütigen Abend nicht, wie eine Zuschauerin beim Verlassen des Gorki Containers bemerkte. Zeitungleser*innen dürften die meisten Fakten bekannt sein. Der Unterschied: an diesem Abend erfährt man sie aus erster Hand.

Ungewöhnlich ist die Art und Weise, wie die ernsten Themen präsentiert werden: nicht als bedrückendes, staubtrockenes Schwarzbrot-Dokumentartheater, sondern spielfreudig mit kleinen Tanz-Einlagen, eingestreuten Songs, Computer-Animationen und Avataren, die für die Instanzen der kühlen Bürokratie stehen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/05/futureland-gorki-container-theater-kritik/
Futureland, Berlin: leicht und bewegend
Es ist die große Stärke des Abends, dass er die Spielsituation nicht nur als Setting wählt, sondern auch mit Leben zu erfüllen weiß. Was auch an den acht Darstellenden liegt, denen jeglichen Selbstmitleid fremd ist. Auch wenn die Angst ein ständiger Begleiter ist: Kaum auszuhalten die Szene von Sagals 18. Geburtstag, als sie eingestehen muss, dass der Versuch, die Familie nachzuholen, gescheitert ist, und sie selbst in die Ungewissheit gehen muss, ohne den Schutz der Minderjährigkeit, ohne Vormund oder Betreuer. Volljährigkeit und Familiennachzug sind ohnehin zwei Kernthemen dieser Inszenierung. Etwa wenn Bashar seine Familie in Empfang nimmt, sie in Kreisen über die Bühne führt und von ihrer Desillusionierung in einem Land spricht, das mit ihnen nichts anzufangen weiß. Traurigkeit, Verzweiflung und Optimismus liegen stets nah bei einander. Aber sie werden alle mit einem Lächeln, mit der Unerschütterlichkeit der Hoffnung ertragen. Es ist ein Spiel, dieses Leben, und es musss gewonnen werden.

Also spielen sie. Im Leben – etwa in der Anhörung – und auf der Bühne. Was „Haram“ sei, also nach islamischem Glauben verboten, wird einmal gefragt, und ob das Theater nicht dazugehöre. Ja schon, sagt Sarah Safi, aber nur „klein klein Haram“. Hier ist es Befreiung, Hör- und Sichtbarmachung. Ohne Pathos, ohne Zeigefinger, weil es pures Spiel ist. Wo das Videospiel Illusion schafft, holt das Theater die Realität zurück, verbindet beide,, die Hoffnung zu gewinnen mit der Wirklichkeit der sich täglich auftürmenden Hindernisse. Am Ende stehen die acht Avatare aufgereiht da, bereit loszulaufen. Ihre Vorbilder schauen ihnen zu, die Arme um die Schultern der oder des Anderen. Sie bleiben stehen und laufen zugleich zu auf die Verheißungen von Futureland. Die Illusion bleiben. Oder auch nicht. Ein unterhaltsamer, spielerischer, leichter und bewegender Abend. Lauft weiter, bis ihr ankommt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/11/06/spiel-mit-grenzen/
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