Sechs Koffer - Thalia Theater Hamburg
Verwandtschaft unter Verdacht
von Katrin Ullmann
Hamburg, 19. Oktober 2019. Die einen haben Leichen im Keller, die anderen hüten Schätze auf dem Dachboden. Jede Familie birgt ein Geheimnis, möglichst sorgsam. So offenbar auch die Familie von Maxim Biller. Er, der Autor, ist ein bekennender Geheimnisse-Hasser und hat wohl deshalb darüber ein Buch geschrieben. "Sechs Koffer" heißt es. Aus sechs verschiedenen Perspektiven erzählt darin ein junger Mann jüdisch-russischer Abstammung von einem Verrat. Das Opfer war der Großvater des inzwischen in Berlin lebenden Erzählers. 1960 wurde dieser in der Sowjetunion hingerichtet. Unter Verdacht steht die eigene Verwandtschaft.
Suche der Enkelgeneration
Billers Roman wurde in der Presse weitflächig gefeiert und 2018 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Als "spannend wie ein Kriminalroman" preist ihn Kiepenheuer und Witsch auf der Website an. Mich selbst hat er, offen gesagt, in seiner ausufernden Geschwätzigkeit und mit seinen jungenhaften Sexfantasien, eher ermüdet. Umso erstaunlicher ist, was Regisseurin Elsa-Sopie Jach aus der Vorlage macht. Für die Textfassung hat sie – gemeinsam mit dem Dramaturgen Matthias Günther – den Roman filetiert.
Entsprechend puristisch ist die Inszenierung, die sie im Thalia in der Gaußstraße als Uraufführung zeigt. Ohne sich vom eigentlichen Text wegzubewegen, gelingt Jach ein kluger Zugriff, der auf eigenwilliger Art und Weise die Allgemeingültigkeit dieses Familienthemas unterstreicht.
Puristisch mit Akzenten
Nicht mehr als zwei neonfarbene Torbögen stehen auf der Bühne. Im Laufe des Abends werden sie immer wieder verschoben und auseinandergefaltet. Das Bühnenbild von Marlene Lockemann erinnert an einen flexiblen Stahlskelettbau, der jede Menge leuchtenden Zirkusglamour abbekommen hat, und ist mal Café, mal Wohnung, mal Brücke über der Limmat. Schrille Neonfarben wechseln sich in der Illumination ab, je nach Ort, je nach Verdacht, je nach Familienmitglied.
Die Familie selbst ist in schräge 70er-Jahre-Kostüme gekleidet: Samten-glänzende Hosen in Blassgrün kombiniert die Kostümbildnerin Aleksandra Pavlović mit rosa-glitzernden Blousonjacken, purpurne Pumphosen mit silbernen Blusen. Mit trashigem Glamour wird nicht gespart an diesem Abend, auch nicht mit Lidschatten für alle Beteiligten. Diese Familie erinnert an eine längst insolvente Varieté-Compagnie irgendwo aus dem Osten, deren Mitglieder unbeirrt, mit großer Ernsthaftigkeit und noch größeren Gesten ihre ganz eigene Show abziehen.
Briefe, Geheimdienstakten und Moskau 1960
Etwa wenn Bekim Latifi als Ich-Erzähler (die Besetzungen wechseln im Laufe des Abends) von seiner mühsamen Recherche in Zürich erzählt. Wo er als 15-Jähriger seinen Onkel Dima (Tim Porath) besucht, argwöhnisch dessen Gespräche belauscht, natürlich viel zu viele Fragen stellt, dessen Geheimdienstakte findet und seinen anderen Onkel Lev anruft. Latifi erzählt diese Ereignisse mit staunender Bedächtigkeit. Langsam, merkwürdig, manchmal schlangenmenschartig bewegt er sich dabei über die Bühne, seine Augen schielen und rollen bedeutungsvoll. Seine expressionistische Performance erinnert mehr an das Klischee eines osteuropäischen Magiers, als an einen zu neugierigen und vorlauten Teenager, der in Familiengeheimnissen wühlt.
Natürlich werden alle seine Verdächtigungen abgewiegelt, Antworten auf seine Fragen verschluckt oder vernuschelt. Ähnlich artifiziell ist der Auftritt von Marie Rosa Tietjen, die den langen Liebesbrief der Ex-Geliebten Natalia wiedergibt. Immer wieder schweift der Brief ab und wirft am Ende mehr Fragen auf, als dass er Antworten gibt. Tietjen scheint während ihres Vortrags einer verabredeten Choreografie zu folgen. Puppenhaft, fast ferngesteuert schleicht sie durch den Raum, ist mit übergroßen Gesten leidend, fragend und irritierend manieristisch, so als wäre sie gerade einem Stummfilm entkommen.
Kitschige Eiskunstlaufkostüme
Später folgt eine Schlittschuh-Einlage mit kitschigen Eiskunstlaufkleidern für alle. In aller Ruhe. Ohne Grund. Just out of the Blue. Vermutlich sind es aber genau diese be- und verfremdenden Mittel, die Billers Familien-Introspektion in der Regie von Elsa-Sophie Jach zu einem interessanten Abend machen und zu einer allgemeingültigen Aussage verhelfen. Jach bedient sich einer recht eigenwilligen Ästhetik, angesiedelt irgendwo zwischen André-Heller-Zauber, Chansonsabenden und mutwilligem Expressionismus. Damit löst sie die Erzählung allerdings deutlich von der Biller-Familie, macht sie größer und gültiger: Neid, Liebe und Verrat inklusive.
Auf die von einer Moderatorin gestellte Frage, wer denn nun die Schuld am Tod des Großvaters habe, lässt Biller am Ende des Romans seine Schwester Jelena antworten: "Das geht niemanden etwas an. Das verstehen Sie doch, oder?" In Jachs Inszenierung sind diese Sätze am Schluss aus dem Off zu hören. Das nur beinah gelüftete Geheimniskästchen wird schmunzelnd wieder geschlossen. Auf den tatsächlich letzten Satz des Romans – "und dann erzählte ihr Jelena, wie es wirklich gewesen war." – verzichtet Jach. Klug.
Sechs Koffer
von Maxim Biller
Regie: Elsa-Sophie Jach, Bühne: Marlene Lockemann, Kostüme: Aleksandra Pavlović, Dramaturgie: Matthias Günther, Musik: Max Kühn, Lisa Florentine Schmalz, Video: Leonie Kellein.
Mit: Marie Jung, Bekim Latifi, Tim Porath,Lisa Florentine Schmalz, Paul Schröder, Marie Rosa Tietjen.
Premiere am 19. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
Die junge Regisseurin Elsa-Sophie Jach breite den Stoff ruhig und eindringlich aus, heißt es in der Hamburger Morgenpost (21.10.2019) unter dem Kürzel 'kam'. Man müsse sich geduldig auf die Personen und ihre Zusammenhänge einlassen. "In einem variablen Bühnenbild, in dem eine Hausstruktur neonfarben leuchtet, und mit atmosphärischer Live-Musik gelingen ihr und den sechs Darstellern viele schöne, sogar poetische Momente."
Ein eindeutig etwas seltsamer Abend, so Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (21.10.2019). Die Theaterfassung von Maxim Billers Roman werde zum psychedelischen Abend mit schrägen Gestalten.
In dem "extrem variablen Bühnenbild" finde Regisseurin Elsa-Sophie Jach "eine sportlich-unterhaltende Lösung für das Problem so vieler Romanadaptionen, die eben zentral aus Prosa bestehen und nicht wie Stücke aus Dialogen und deswegen oft zu ödem Aufsagetheater an der Rampe neigen. Ihre Inszenierung ist eine Choreografie, ein Textturnen im Neongerüst, bei dem selbst zu lange Monologe keine echten Durchhänger bilden", berichtet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (24.10.2019).
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