Der rechte Krake

von Willibald Spatz

Memmingen, 26. Oktober 2019. Es muss die Hölle gewesen sein, in den 90er Jahren in eine Familie hineingeboren zu werden, in der sich alle als "stramme Nationalsozialisten" bezeichneten. Heidi Benneckenstein berichtet in ihrer Biographie "Ein deutsches Mädchen" jedenfalls nur von scheußlichen Kindheitserinnerungen: der alte Schulranzen, mit dem sie zur Schule gehen musste. Der Vater, der ihr im Kindergarten verbot, den Engel im Krippenspiel zu spielen, weil "wir mit Religion nichts am Hut haben". Der Vater besaß auch eine ungeheure Phantasie beim Ausdenken neuer Strafen. Er ließ sein Mädchen ewig lang in seinem Arbeitszimmer stramm stehen, während er am Schreibtisch arbeitete.

Sitzen und Saufen

"Meine Fäuste sind geballt. Wut lässt meine Schultern verkrampfen. Ich beiße mir mit den Zähnen auf die Unterlippe. Meine Halsschlagader pulsiert. Ich schlucke Tränen hinunter. Aber ich halte das aus, ich gebe nicht nach." Am schlimmsten müssen aber die Pfingstlager der "Heimattreuen Deutschen Jugend" gewesen sein, die Heidi Benneckenstein jedes Jahr besuchen musste. Dort wurden sie von klein auf militärisch gedrillt, nationalsozialistisch gehirngewaschen und nachts mit Schweineköpfen traktiert.

Dt Maedchen 1 560 Forster uAltdeutscher Schulranzen, keine Perspektive: Elisabeth Hütter, Tim Weckenbrock @ Forster

Heidi Benneckenstein Aussteigerbiographie "Ein deutsche Mädchen" erschien 2017 und wurde gleich ein Bestseller. Mirko Böttcher hat daraus nun fürs Landestheater Schwaben eine geschickt aufs Wesentliche eingedampfte Theaterfassung erstellt. Er braucht nur zwei Schauspieler und 70 Minuten. Mit dieser Länge und seiner schnellen, kurzweiligen Inszenierung sind eindeutig Schulklassen als potenzielles Publikum angesprochen.

Elisabeth Hütter übernimmt Heidi Benneckenstein. Sie spricht den Originaltext aus dem Buch als eine nach außen hin harte, aber innerlich äußerst verletzliche und unsichere Jugendliche. Daneben spielt Tim Weckenbrock alle männlichen Rollen. Zuerst den stramm deutschen Vater, später dann Heidis ersten Freund aus Bautzen, den Sänger einer Rechtsrockband. Sie besucht ihn in den Sommerferien. Sechs Wochen lang fällt ihnen nichts anderes ein als in die Kneipe zu gehen, "grüne Wiese" zu trinken und ab und zu nach Tschechien zu fahren und Kippen zu kaufen. Der Umgang in der Szene ist geprägt von stumpfem Herumsitzen und viel Alkohol: "Parolen sprühen, Sticker kleben, Zecken klatschen, Punks verprügeln."

Vergangenheit in Kisten verstaut

Heidi fühlt sich darin nie wirklich wohl, schafft aber lange nicht den Absprung, obwohl sogar ihre Familie zerbricht und sie bei der Mutter in Passau wohnt und mit dem Vater nur noch wenig Kontakt hat. Im Buch bezeichnet sie den Rechtsradikalismus als einen "Kraken", der immer wieder seine Arme nach ihr ausstreckt.

Das Bühnenbild von Marie Wildmann besteht aus einer Wand aus Aufbewahrungslösungen, in denen die Vergangenheit gut verstaut, aber jederzeit und praktisch wieder hervorholbar ist. Aus den Kisten lässt sich die Einrichtung eines Jugendzimmers oder ein Hindernisparcours im Pfingstlager herstellen. Schließlich kann man auch die Wohnung von Felix nachbauen. Hier finden konspirative und versoffene Treffen von Neonazis statt.

Dt Maedchen 2 560 Forster uModularer Vergangenheits-Stauraum im Bühnenbild von Marie Wildmann @ Forster

Tim Weckenbrock spielt in einer der gelungensten Szenen abwechselnd gleich vier Jungnazis, die sich ihre Ideologien an der Kopf werfen und mit jedem Schluck aus der Bierflasche noch doofer werden. Mittendrin sitzt Heidi und findet es irgendwie cool, dabei zu sein und irgendwie dumm, sich dieses Geschwätz anhören zu müssen. Jener Felix ist ein rechter Liedermacher und schließlich ihre große Liebe. Mit ihm hat sie inzwischen ein Kind und mit ihm ist sie verheiratet. Gemeinsam haben sie den Weg aus der rechten Szene geschafft, vorher musste er aber noch mal verprügelt und ins Gefängnis gesteckt werden. Erst als er einen Kameraden an die Polizei verrät, werden sie von den anderen fallen gelassen. Sie mussten umziehen und die Telefonnummer wechseln, um nicht tätlich angegriffen zu werden.

Insofern ist Heidi Benneckensteins Schritt an die Öffentlichkeit mutig. Harmlos ist die rechte Bewegung in diesem Land auf keinen Fall. Dieser sehenswerten und pointierten Aufführung wünscht man tatsächlich viel Publikum in der kleinen Studiobühne unter dem Dach des Memminger Theaters, weil sie oft schneller auf den Punkt kommt als ihre Buchvorlage und so einen guten Einstieg ins Thema Rechtradikalismus bei jungen Zuschauer*innen schaffen wird.

 

Ein deutsches Mädchen
nach der gleichnamigen Autobiografie von Heidi Benneckenstein
Uraufführung
Regie: Mirko Böttcher, Bühne & Kostüme: Marie Wildmann, Musik: Alexandra Holtsch, Dramaturgie: Anne Verena Freybott.
Mit: Elisabeth Hütter, Tim Weckenbrock.
Premiere am 26. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.landestheater-schwaben.de


Kritikenrundschau

In der Inszenierung des Benneckenstein-Buches "interessiert eher die Binnenschau, die Frage, wie in einer rechten Sozialisation die Organisationen bei der Persönlichkeitsbildung ineinandergreifen und zu einem inhumanen und intoleranten Weltbild führen", schreit Manfred Jahnke für die Deutsche Bühne online (27.10.2019). "Was darüber hinaus versucht wird, ist, die zweifelsohne subjektive Geschichte zu verobjektivieren, anhand des Einzelfalls die gesellschaftliche Entwicklung aufzuzeigen. Das gelingt dem Regisseur Mirko Böttcher, weil er zwei exzellente Schauspieler zur Verfügung hat."

Fulminant und bwegend findet Harald Holstein in der Memminger Zeitung (28.10.2019) die Inszenierung. "Der geschickte Wechsel von lebendigen Spielszenen, persönlichen Einblicken und informativen Einschüben über die viel zu lange im Dunkeln gebliebenen radikalen Absichten und Strukturen in der Neonazi-Szene, macht diese etwas über einstündige, mit vielen Bravos begeistert aufgenommene Inszenierung zu einem der wichtigsten Abende in dieser Spielzeit."

 

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