Die Geometrie des Ausstoßens

von Christian Muggenthaler

Memmingen, 1. November 2019. Man kann einen Menschen, der stets in der Mitte der Gesellschaft gestanden war, recht schnell zum Außenseiter machen. Ganz einfach dadurch, indem sich alle anderen von ihm wegstellen. Diese Geometrie der Menschenverachtung funktioniert erstaunlich unkompliziert, weil viele, die sich wegstellen, zugleich das beruhigende Gefühl haben dürfen, ihrerseits weiterhin zur Gemeinschaft zu gehören. Sie stehen ja weiterhin beieinander. Zum Nachdenken über die eigene Rolle innerhalb einer Gesellschaft gehört deswegen immer auch, sich über die eigene Position in ihr Rechenschaft zu geben. Es klappt nicht, keine zu haben.

Mensch, Unmensch, Nicht-Mensch

Dass derlei Gedankenspiele über die eigene Position auf dem Mühlebrett der Gesellschaft keineswegs abstrakt sind, beweist die Memminger Inszenierung von "Der Reisende" durch Kathrin Mädler, Leiterin des dortigen Landestheaters Schwaben. In dieser Geschichte irrt der Jude Otto Silbermann nach der Pogromnacht im November 1938 ziellos durch das Deutsche Reich, das ihm Heimat und bürgerliche Existenz und damit Lebensgrundlage und schlussendlich das Leben nimmt. Das Stück basiert auf dem zeitgenössischen gleichnamigen Roman von Ulrich Alexander Boschwitz, der darin Exil und Vertreibung thematisiert hat: Silbermann kommt nicht mehr hinaus aus dem Land, das ihn nicht mehr will. Aus dem Menschen soll darüber, dass er zum Unmenschen umtituliert wird, schlussendlich ein Nicht-Mensch werden.

Reisende 2 560 c Monika Forster uWer stellt sich weg? Agnes Decker, Franziska Roth, Tobias Loth, André Stuchlik, Klaus Philipp © Monika Forster

Das geht ganz leicht. Beunruhigend leicht. In Mädlers Inszenierung, die die Geschichte dieses Exils ohne Ziel, dieser flipperkugelartigen Bahnreise kreuz und quer durchs Nazi-Land mitten hinein in die pure Verzweiflung nie aus dem Blick verliert, wird das konsequent deutlich: Weil sich die Figuren eben stets zu Silbermann positionieren, Stellung zu ihm nehmen, als ablehnender Menschenwall, oft chorisch sprechend, als ihn überwölbende Macht in kalter Diktion, als den Abgewiesenen Abweisende, als vor dem Flüchtling Flüchtende. Eine Inszenierung wie auf einem Spielbrett. Ideologie oder Herdentrieb oder Angst oder Gleichgültigkeit: Menschen folgen gern dem Magnetismus der ungebremsten Macht, die als Treibstoff Hass und Ausgrenzung benötigt. Sie stellen sich um und dumm. Wie Silbermann in dieser Geschichte ungläubig staunend erkennen muss, dass er dieser Treibstoff ist, macht der Memminger Theaterabend berührend – und die Berührten quälend – deutlich.

Hadernde und Hundertprozentige

Denn dieser Irrsinn des Vernichtens eines Menschen durch den Entzug von Solidarität und gesellschaftlicher Zugehörigkeit ist ja nichts historisch Abgeschlossenes, sondern steter Bestandteil eines von paranoiden Politikströmungen gewollten Ausgrenzungsprozesses, zu dem eine deutliche Gegenposition unbedingt notwendig ist, damit er eben nicht funktioniert. Durch ein rasiermesserscharfes Licht, durch dramatische, gehetzte Musik (von Cico Beck), durch das allmähliche Entstehen eines bühnenfüllenden atemberaubenden Schlussbilds aus Ballonseide, durch die von Gesichts-Bandagen und Blond-Perücken entstellten Gesichter (Bühne und Kostüme: Mareike Delaquis-Porschka), durch ein ständiges Verrücken der Figuren in diesem verrückten Gesellschaftsspiel wird in einer hoch konzentrierten, ungebremsten, zweistündigen Bühnen-Schussfahrt gezeigt, was jedem einzelnen sonst blühen kann.

Reisende 4 560 c Monika Forster uBallonseide als Barriere: Das Ensemble im Bühnenbild von Mareike Delaquis-Porschka © Monika Forster

Von den Spielern verlangt diese Schussfahrt durch die Positionen eine starke Präsenz und Körperspannung. Alle sind immer da. Alle wechseln Rollen, alle sind auch mal Erzähler, sind Hadernde und Hundertprozentige, sind mal ob der eigenen Unmoral zerknautscht wie die Anzüge, die sie tragen, und mal körperlich sich fast verbiegende Fähnlein im Wind des Wandels. Sie sind die Kläffer, die jetzt endlich mal beißen dürfen, und Menschen, die aufatmen, weil sie zu ihrem Glück Arier sind und/oder Parteibuch haben. Alles positioniert sich rund um Klaus Philipp, der als Otto Silbermann die Drangsale des plötzlich Verfolgten in einer Art durchmacht, die dann auch sehr nahe geht. Und der trotz allem zum Schluss sein wahres Ich erkennt, weil er alle Sicherheit des Wir verloren hat.

In der scheinbar zunehmenden Präsenz von Antisemitismus und Rassismus ist es notwendig zu zeigen, auf welchen Mechanismen sie basieren. Damit erreicht man ganz bestimmt keine Antisemiten und Rassisten, kann aber dennoch helfen, eine Gesellschaft zu imprägnieren vor einem Rücksturz in die Barbarei. Wie einfach das gehen kann, das zeigen diese Inszenierung und der zugrundeliegende Roman deutlich. Der Autor hatte selbst eine weltweite Flüchtlings-Irrfahrt unternehmen müssen. 1942 wurde ein Schiff, mit dem er reiste, von der deutschen Marine versenkt. Er wurde 27.

 

Der Reisende
Nach dem Roman von Ulrich Alexander Boschwitz
Regie: Kathrin Mädler, Bühne und Kostüme: Mareike Delaquis-Porschka, Musik: Cico Beck, Dramaturgie: Anne Verena Freybott.
Mit: Klaus Philipp, Agnes Decker, David Lau, Tobias Loth, Franziska Roth, André Stuchlik.
Premiere am 1. November 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater-schwaben.de

 

Kritikenrundschau

"Dramaturgin Anne Verena Freybott hat den Roman klug bearbeitet", schreibt Michael Dumler in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (4.11.2019). Das Bühnenbild findet der Kritiker "geradezu sensationell", die inszenierung insgesamt "packend".

"Die kluge Kathrin Mädler" gehe den Stoff analytisch an, "trocken und ohne jeden pathetischen Bibber", schreibt Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (4.11.2019). "Klaus Philipp gibt den Silbermann denn auch mit schmerzender Nüchternheit. Wie auch die anderen, gesichtslosen Prototypen gleich, unterkühlt darstellen, wie der Mensch im Zweifelsfall funktioniert." Schön sei das nicht. "Mädlers Gefühlsaskese aber verstärkt die Empathie des Zuschauers, auch, weil er angehalten ist, die Metaebene des Stückes mit zu bedenken." So werde Geschichte weitergedacht "von der Pogromnacht bis zum Anschlag in Halle an Jom Kippur", so Fischer. "Den genialen Bildkommentar dazu schuf Mareike Dalquis-Porschka. Denn das braune Stoff-Dings bläht sich immer mehr auf zum zähnefletschenden Monster. Die schlafenden Hunde nämlich sind längst wieder wach. Am lautesten grölen die Feinde der Demokratie, zum Verwechseln ähnlich denen am 9. November 1938. Geschichte, wiederholt sie sich wirklich nicht?"

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