Anna Seghers reloaded

von Matthias Schmidt

Dresden, 8. November 2019. "Die 'Montreal' soll untergegangen sein zwischen Dakar und Martinique." Mit diesem, dem ersten Satz des Romans von Anna Seghers, beginnt auch seine Dresdner Bühnenfassung. Gleich sechsmal spricht Seidler ihn, der Ich-Erzähler, schaut dabei ins Publikum und fährt fort, von den Hoffnungen, den Wirrungen der deutschen Flüchtlinge im Marseille der frühen 40er Jahre zu erzählen. Er fragt ins Publikum, "Sie finden das alles ziemlich gleichgültig? Sie langweilen sich?" Ganz sicher tut das in diesem Moment niemand, zu offensichtlich ist die historische Parallele der untergegangenen "Montreal" zu den Booten im Mittelmeer.

In den Köpfen arbeiten

Ein bisschen erwächst die Spannung weitergehend aus der Frage, was das Team um Regisseur Data Tavadze aus dieser Analogie machen würde, denn mutmaßlich ist sie der Grund dafür, den Roman aus dem Jahr 1943 heute für die Bühne einzurichten. Pegida-Sprech-Chöre? Höcke-Zitate? Wir haben das oft gesehen in jüngster Zeit, dass das Offensichtliche zusätzlich beglaubigt wird. So wie in Nachrichtenbeiträgen im Fernsehen gerne eine Ampel gezeigt wird, wenn der Sprecher beispielsweise sagt: "grünes Licht für das Gute-KiTa-Gesetz". Die Antwort ist simpel: die Dresdner Inszenierung lässt die Seghers-Geschichte in den Köpfen der Zuschauer arbeiten, während auf der Bühne kein Wort, kein Bild, kein Video – nichts – direkt in die Jetztzeit verlinkt.

transit 560 fotosebastianhoppe u Henriette Hölzel, Ahmad Mesgarha, Moritz Kienemann und Mona und Maggie  © Sebastian Hoppe

Sobald das klar war, hatte die Inszenierung gewonnen und die Frage, ob es wirklich sein muss, schon wieder einen Roman von einer Bühne herunter zu erzählen – ohne echte Dialoge und Handlungsorte, aus einem symbolischen, dunklen Raum heraus - in den Hintergrund gedrängt. Denn die Geschichte – übrigens von Seghers genau so erzählt, den Leser direkt ansprechend – erreicht ihre Qualität eben auch bei Anna Seghers dadurch, dass sie, im Gegensatz zu anderen Werken der Autorin, ohne politische Ideologie auskommt. Sie ist einfach stark. Ein Liebesdrama, das vor dem Hintergrund einer unfreiwilligen "Völkerwanderung" stattfindet. Vielleicht gerade deshalb ist "Transit" einer von wenigen Romanen von Anna Seghers, die noch rezipiert, bearbeitet, besprochen werden. Heinrich Böll nannte ihn einst den besten aller Anna-Seghers-Romane, "mit somnambuler Sicherheit geschrieben, fast makellos".

Lauter kleine Teufelskreise

Es sind Sätze wie dieser, den Böll gemeint haben muss und die den Abend so eindringlich machen: "Meine Eltern leben sicher noch, jetzt sind es ja wir Jungen, die sterben." Die ihn sagt, ist Marie, um die sich alles dreht. Sie sucht verzweifelt ihren Mann, ohne den sie kein Visum und vor allem kein Transit nach Südamerika bekommt. Sie liebt zwar längst einen anderen, der wiederum längst hätte abgereist sein können. Würde er nicht auf sie warten. Maries Mann, der Schriftsteller Weidel, hat sich beim Einmarsch der Deutschen umgebracht, wovon sie nichts weiß. Seidler, der Ich-Erzähler, weiß es: er hat Weidels Identität angenommen. Um seinerseits Europa verlassen zu können. Dann verliebt er sich in Marie, und aus lauter kleinen Teufelskreisen wird ein erstaunlicher Plot.

transit 560a fotosebastianhoppe u Henriette Hölzel, Ahmad Mesgarha, Moritz Kienemann © Sebastian Hoppe

Nicht alle kleinen Flucht-Dramen, aber erstaunlich viele für die 90 Minuten, erzählen die 3 Schauspieler in Dresden, dabei immer wieder die schräge Bühne hinaufrennend und hinunterrutschend. Was vielleicht nicht unbedingt hätte sein müssen, aber ansonsten hatten sie halt wenig zu spielen auf der völlig leeren Bühne, links und rechts sowie am Horizont begrenzt von kahlen, schwarzen Wänden. Henriette Hölzel ist die Marie, der man, so sehr Henriette Hölzels Strahlen und ihre wirklich tolle Gesangseinlage faszinieren mögen, ihre Verliebtheit in die insgesamt drei Herren nicht ganz abzunehmen vermag. Ihre Verzweiflung wohl. Schon beim Einlass schaute sie, vor den Sitzreihen stehend, jedem Mann, der reinkam, intensiv in die Augen, ihren eigenen suchend. Moritz Kienemann hingegen als Seidler, der Erzähler, ist umwerfend. Im rechten Maß resigniert, im rechten verschlagen. Ungeheure Grimassen schneidend. So hätte er das ganze Stück im Monolog bewältigt. Ahmad Mesgarha wechselt die Rollen, ganz vielseitiger Teamplayer, bis hin zur amüsanten Travestie mit Hundedressur.

Liebeskummer mal Reue im Quadrat

Die Inszenierung ist voller Kleinigkeiten, die große Effekte erzielen. Stille, unterbrochen von Wasser-Tropfen in einen Blecheimer. Kleidungsstücke, die sie an die schwarzen Wände hängen wollen, die aber immer wieder herunter fallen - die Unmöglichkeit, in der Fremde heimisch zu werden? Das vergebliche Suchen nach Halt? Was auch immer, das Konzept geht auf. Wenn man "Transit" machen will, dann kann man das durchaus so machen. Kompakt, viele historische Details des Romans weg- und Ambiente und Bezüge zum Heute der Phantasie des Publikums überlassend. Eine stimmungsschwere, gelungene Produktion.

Am Ende schließt sich der Rahmen. Seidler sagt noch einmal diesen Satz: "Die "Montreal" soll untergegangen sein zwischen Dakar und Martinique …" Dieses Mal aber wissen wir, dass Marie und ihr Geliebter an Bord waren, er selbst aber an Land geblieben ist. Liebeskummer mal Reue im Quadrat, was für eine Geschichte!

 

Transit
Nach dem Roman von Anna Seghers, in einer Spielfassung von Julia Weinreich
Regie: Data Tavadze. Bühne: Kathrin Frosch. Kostüme: Julia Plickat. Musik: Nika Pasuri. Licht: Olivia Walter. Dramaturgie: Julia Weinreich. Mit: Moritz Kienemann, Henriette Hölzel, Ahmad Mesgarha und den Hunden Mona und Maggie.
Premiere am 8. November am Staatsschauspiel Dreaden
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

 

Kritikenrundschau

"Allein durch die ständigen Raumverschiebungen des Dreiecks der wichtigsten drei Romanfiguren und durch deren nuancenreiches Spiel entstehen reichlich eineinhalb Stunden Dauerspannung", schreibt Michael Bartsch von den Dresdner Neuesten Nachrichten (11.11.2019). Das sei eine Meisterleistung des Regisseurs, der eine fesselnde Inszenierung erarbeitet habe.

"Es ist das Eine – und völlig legitim –, einen Text ohne Aktualisierung auf die Bühne zu bringen. (…) Aber es ist schon irritierend, wenn die einzige Ebene, an der man die Zuschauerinnen und Zuschauer heute packen könnte, so konsequent weggelassen wird", wundert sich Johanna Lemke von der Sächsischen Zeitung (11.11.2019) über das Fehlen eines Bezugs zur gegenwärtigen Flucht-Thematik. Die Textfassung sei zudem "völlig undramatisch". "Ein Spannungsbogen, psychologische Brüche, Ironie oder doppelte Ebenen fehlen dieser Inszenierung fast völlig."

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