Existenzielle Erschütterung

von Martin Krumbholz

Köln, 15. November 2019. Regieanweisungen spielen selten eine so bemerkenswerte Rolle wie in Luk Percevals Inszenierung von Eugene O’Neills Meisterwerk "Eines langen Tages Reise in die Nacht". Sie sind ja fast so etwas wie ein Stück im Stück oder ein Roman im Stück, mit dem O’Neill die Atmosphäre im Haus der Schauspielerfamilie Tyrone und die Psychologie der fünf Personen akribisch umkreist – vom ewig tutenden Nebelhorn bis zu des jüngeren Sohn Edmunds Hustenanfällen. Percevals entscheidender Kunstgriff legt diesen Code in den Mund der Spielerin des Dienstmädchens Cathleen (Maria Shulga), die – ansonsten funktionslos – das trübe familiäre Geschehen beobachtet und scheinbar emotionslos kommentiert. Das epische und zugleich hyperrealistische Moment des Dramas findet so eine plausible, dabei beklemmende, fast gespenstische Entsprechung, noch subtil verstärkt durch den englischen Akzent der Spielerin.

Untote, die durch sterile Räume geistern

Der große Guckkasten, den Philip Bußmann auf die Cinemascope-Bühne des Depot 1 gestemmt hat, enthält fünf nebeneinander liegende, kaum möblierte Zimmer – eines für jede Figur. Es gibt zwischen ihnen keine Durchgänge: Auch wenn die Spieler sich gelegentlich in einem der Räume treffen, gleichen diese sterilen Isolierzellen – ein bewusst gesetzter Kontrast zu der plüschigen "Bruchbude", wie sie der Autor in seinem Kommentar beschreibt. Denn es geht in der "Reise in die Nacht" nicht nur um Drogen, Krebs (statt Tbc) und Alkohol. Es geht um menschliche Abgründe, um die tiefste Einsamkeit und panische Verzweiflung. Der Vater James ist ein gescheiterter Schauspieler, der auf der Höhe seiner Karriere ein schlechtes Stück gekauft und damit seinen Ruf ruiniert hat. Die Mutter Mary ist morphiumsüchtig und nach einem Klinikaufenthalt rückfällig. Der ältere Sohn Jamie ist arbeitsloser Schauspieler und Alkoholiker wie sein Vater, der jüngere Edmund leidet keineswegs an einer "Sommergrippe", wie die Mutter meint, sondern an Krebs, und trinken tut er ebenfalls.

Eines langen Tages 2 560 KrafftAngerer uEiner langen Reihe Räume taghelles, umbarmherzig kaltes Licht © Krafft Angerer

Luk Perceval inszeniert auf der Basis einiger weniger dramaturgischer Entscheidungen grandioses Schauspielertheater. Wie Untote geistern die vier Hauptfiguren durch die Räume, treffen aufeinander, klammern sich eine Weile aneinander und lassen sich wieder los. Ihre Gespräche kreisen um Illusionen, die jeder durchschaut und an denen man dennoch festhält. Man möchte sich lieben und liebt sich tatsächlich, aber der Hass ist stärker. Astrid Meyerfeldt spielt den rabiaten Narzissmus, den suizidalen Furor der Mary mit atemberaubender Energie. Das "Nervenbündel", das sie ist, muss sie gar nicht illustrieren: Wenn sie sich in die Haare greift oder ihre Hände "auf dem Tisch flattern", erfährt man dies aus dem eingesprochenen Kommentar; indem die Regie den Naturalismus der Szene aushebelt, richtet sich der Blick umso entschiedener auf den wie mit einem Seziermesser bloßgelegten existenziellen Kern.

Ein Abend wie eine Partitur

André Jung als James Tyrone, verglichen mit seiner Frau behäbig, statisch wirkend, meist auf dem einzigen vorhandenen Sessel sitzend, larmoyant und cholerisch zugleich, an sich selbst, an seinem notorischen Geiz verzweifelnd, ist ebenfalls eine Wucht. James ist gewöhnlich untätig und sondert umso mehr Text ab, beliebig verfügbare Module, die sich wiederholen wie die stereotypen Lebenslügen seiner Gattin, die einst Nonne oder Pianistin hätte werden wollen. Es ist nun das Dienstmädchen, das rechts außen am Klavier sitzt und die manisch-obsessiven Dialoge der In-die-Nacht-Reisenden mit minimalistischen Akkorden unterlegt.

Eines langen Tages 3 560 KrafftAngerer uUntote in ihren Isolierzellen: Maria Shulga, Seán McDonagh, André Jung, Astrid Meyerfeldt und Nikolay Sidorenko © Krafft Angerer

Nach einer Stunde geht ein heftiger Regenguss nieder, schiebt sich wie ein fluider Vorhang vor die Szene. Dann ist Pause; anschließend nimmt der Gang der Ereignisse die entscheidende Wendung. Edmund erfährt seine Krebsdiagnose. Nikolay Sidorenko spielt den Jüngsten, in dem man ein Selbstporträt des Autors gefunden hat, mit einer beinahe stoisch wirkenden Zurückhaltung; dass es in ihm brodelt, spürt man permanent. Auch das Brüderpaar ist antithetisch angelegt: Seán McDonagh als Jamie oszilliert zwischen beißendem Sarkasmus und purer Wut.

Perceval hat den dreistündigen Abend wie eine Partitur inszeniert, deren Klimax unausweichlich ist. Dem Arsenal der Phrasen – "Du kannst ja nichts dafür" – entspricht wie eine Basslinie das luzide Regime der Blicke – "Er weicht ihrem Blick aus" –, das in dieser Komposition der Kommentatorin anvertraut ist. Mit der erschütternden Exegese eines Meisterwerks zeigt das Theater unmissverständlich, was es kann.

 

Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O’Neill, Deutsch von Michael Walter
Regie: Luk Perceval, Bühne: Philip Bußmann, Kostüme: Katharina Beth, Musikalische und akustische Beratung: Karsten Süßmilch, Lichtdesign: Mark van Denesse, Dramaturgie: Lea Goebel, Tontechnik: Oliver Foth, Christoph Priebe.
Mit: Astrid Meyerfeldt, André Jung, Seán McDonagh, Nikolay Sidorenko, Maria Shulga.
Premiere am 15. November 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

"Die Schau­spie­ler von Per­ce­vals In­sze­nie­rung be­fin­den sich in ver­schie­de­nen Zim­mern, ob­wohl sich die Per­so­nen der Hand­lung im sel­ben Raum auf­hal­ten", erklärt Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.11.2019). Damit erweise sich "die Zim­mer­flucht als Pro­jek­ti­on: Das mo­na­di­sche Sys­tem, das die in­ne­re Ord­nung die­ses Fa­mi­li­en­le­bens ist, wird ins Sicht­ba­re ge­stülpt". Auf ihrer "lan­gen Rei­se vom Tag in die Nacht ma­chen die Ty­ro­nes die Er­fah­rung, wie tief man doch sin­ken kann, oh­ne den tiefs­ten Punkt zu er­rei­chen." Dabei lasse das "stan­dar­di­sier­te Ne­ben­ein­an­der der fünf Con­tai­ner auf der Büh­ne an die Ka­bi­nen ei­nes Oze­an­damp­fers den­ken". Regisseur Perceval und Bühnenbildner Bußmann sei so "die Ver­wand­lung ei­ner klas­si­schen Tra­gö­die in ei­nen gra­fi­schen Ro­man" geglückt.

Regisseur Luk Perceval habe die Tyrones "im Depot 1 des Schauspiel Köln in fünf kahle Zimmer gesperrt", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (18.11.2019), "hell erleuchtete weiße Räume, aufgereiht wie Split-Screens auf der Cinemascope-Leinwand". Gerade in der zweiten Hälfte des Abends gehe "die Fahrt immer tiefer ins Herz der Finsternis". Die Schauspieler drängen "ins Dickicht menschlicher Verwerfungen vor", es seien "grandios-intime Szenen" zu bewundern. Es sei, so der Rezensent, ein "phänomenaler Abend", an dem das Ensemble den Klassiker "zum Singen gebracht" habe.

Fein aktualisiere Perceval das Stück "zum Psychogramm einer von Drogen zerstören Familie von heute in ihrer kranken Selbstbezogenheit", so Dorothea Marcus im WDR (18.11.2019). "Eine präzise, erschreckende Studie."

"Perceval zeichnet ein privates Abbild der polternden Gesellschaft, wo Zorn, Lüge und Selbstbetrug die Interessen maskieren und die Eitelkeit als größte Sucht vernünftige Lösungen unmöglich macht", schreibt Till Briegleb in der SZ (19.11.2019). "Diese Inszenierung stellt einen Spiegel der Beziehungsfähigkeit auf, die jedem, der diesem Zerfall zusieht, die Frage übergibt, ab wann schamhafte Lügen zu menschlichem Elend werden."

Kommentare  
Eines langen Tages Reise..., Köln: was fürs Auge
Ich mag althergebrachte naturalistische Inszenierungen gar nicht. Mittlerweile geht es mir jedoch auf die Nerven, Inszenierungen zu sehen, die auf jegliche Requisiten verzichten. Was z.B. bei Stefan Bachmanns Geschichten aus dem Wienerwald schlüssig war, passt zu diesem Stück gar nicht.
Viele Regisseure/innen scheinen zu vergessen, dass auch das Auge des Zuschauers befriedigt werden möchte und nicht nur der Intellekt.
Vorbildhaft z.B. die Inszenierung Carmen in der Oper Köln, inszeniert von Lydia Steier.
Eines langen Tages Reise, Köln: Ein Appell
Hallo Theaterleute !
Guck mal ! Ein Zuschauer ! Ein echter wie es scheint ! Jemand der auch was für das Auge möchte . Ich finde das legitim . Jetzt bin ich gespannt wie man ihm hier im Blog begegnet . Könnt und wollt Ihr dieses Argument ernst nehmen ? Ich fange mal an : Ich finde den Einwand gut und fordere ebenfalls : Mehr fürs Auge !
Gruß
Eines langen Tages ..., Köln: langweilig
Also, ich sass in der Premiere und bin von den Reaktionen der Kritiker mehr als überrascht. Ich bin an sich ein grosser Fan der Arbeiten von Perceval, aber für mich ging hier das Raumkonzept überhaupt nicht auf. André Jung ist als einziger durchgehend in der Lage, in diesem schwierigen Bühnenbild zu den Kollegen eine Spannung aufzubauen, Astrid Meyerfeld gelingen im wesentlichen die Szenen, in denen sie mit Jung in einem Raum agieren kann. Durch den Mikroporteinsatz und die von der Bühnenlösung erzwungenen Distanzen ist das Ganze über weite Strecken eine Art Hörspiel in einer Rauminstallation. Und damit kommen die Darsteller sehr unterschiedlich gut zurecht. Ich wünsche mir auch keine naturalistische Inszenierung, aber wenn ich mich erinnere, wieviel Spannung zwischen den Menschen zu spüren war in der damals auch sehr abstrakten Lösung von Michael Thalheimer am Thalia Theater, dann findet im Vergleich in dieser Version in Köln zwischen den vier Personen doch recht wenig statt und es wird sehr trist und langweilig. Und das empfanden wohl ausser mir auch noch einige andere Zuschauer so, denn nach der Pause waren doch einige Plätze frei geworden...
Eines langen Tages..., Köln: wunderbar durchdacht
Was für eine wunderbar durchdachte, darstellerisch reiche & konzentrierte Inszenierung! Mir hat hier überhaupt nichts gefehlt, ganz im Gegenteil: Der Verzicht auf jedes visuell schmückende, illustrierende Beiwerk machte für mich die Verfasstheit der Figuren umso deutlicher (einzig der mehrmalige Garderobenwechsel von "Mary" mag hier noch als "schmückend" erscheinen - was aber wiederum ihre Persönlichkeit charakterisiert). Und um kurz auf Peter (den Foristen zuvor) einzugehen: Ich kenne die Thalheimer-Inszenierung nicht & bin sicher, dass sie eine interessante Lesart geliefert hat. Vielleicht aber doch eine andere als die von Luk Perceval. Dass es sich um "eine Art Hörspiel in einer Rauminstallation" handelt, kann ich überhaupt nicht finden. Zum einen hätte ich ausgesprochen ungern auf die körperlich-darstellerische Ebene des feinen Ensembles verzichtet, zum anderen entspricht die durch das Bühnenbild vorgegebene eingeschränkte Interaktion zwischen den Akteuren m.E. genau der konsequenten Interpretation des (im übrigen großartigen) Stücks. Denn zwischen diesen Personen findet keine Kommunikation (im Sinne von wirklichem Austausch) mehr statt. Durch ein Geflecht von Abhängigkeiten, Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen heillos aneinander gekettet, dienen sie sich gegenseitig nur noch wechselseitig als Stichwortgeber oder Resonanzraum ihres eigenen endlos aufgeführten inneren Dramas. Denn "schuld" sind sowieso immer die anderen - auf die man deshalb auch zwingend angewiesen ist. Und wo doch mal ein kurzer Moment der Nähe aufzublitzen scheint, wird dieser sofort wieder unter gegenseitigen Vorwürfen begraben. Hier sitzen zwar alle im gleichen Gefängnis aus (Selbst-)Sucht, Selbsthass und Selbstmitleid, aber jeder in seiner eigenen Zelle. Diese fatale Mechanik legt die Inszenierung nuanciert - und streckenweise durchaus quälend - frei, mit "langweilig" hatte das für mich aber gar nichts zu tun. Deshalb: Unbedingt sehenswert!
Eines langen Tages..., Köln: Furchtbar
Die Inszenierung ist eine Zumutung für die Zuschauer.
Ewig lange langweilige Dialoge mit einem finish, das der überzogenen Darstellung die Krone aufsetzt. Die Durch die Regieanweisungen reduzierten schauspielerischen Tätigkeiten sind dann noch nicht mal besonders gut gesprochen, teilweise so überzogen gespielt, dass sie unverständlich waren.
Für mich als Zuschauer furchtbar und ich wäre, wenn ich alleine dort gewesen wäre, aufgestanden und demonstrativ gegangen.
Eines langen Tages ..., Köln: lohnend
Endlich wieder einmal eine Inszenierung,in der der regisseur das stück nicht als Steinbruch für die ideologisch verbrämte Zeitkritik mißbraucht,sondern den authentischen Text des Dichters-Schriftstellers achtet und dem Publikum zur eigenen Wertung überläßt.Die schauspieler-Innen sind adäquat gut und bringen O`Neil zur Geltung,wie es ihm gebührt.Zwei Anmerkungen 1 das manchmal unmotivierte Gebrüll ist nicht verständnisfördernd,sondern einfach überflüssig 2 Katherine hingegen ist nahezu unverständlich:ein leises Gemurmel gegen die Wand mit dem Rücken zum Publikum.Sie muß dringend an ihrem Verständnis arbeiten.Sonst insgesamt. unbedingt anschauen,selbst wenn die Problematik etwas aus der zeit gefallen ist.Es lonht sich wirklich!!
Eines langen Tages, Köln: optisch gut, aber blutleer
Tolles Bühnenbild, gute optische Inszenierung. Das Stück selber aber unfassbar langatmig und anstrengend. Blasse Sohndarsteller und belanglose ausgedehnte Konflikte (es gibt einen Lieblingssohn und der Vater ist geizig und Mutter konnte nicht Pianistin werden) nerviges Geschrei, Gewälze und Gestöhne. Einzig die Mutter spielt grossartige Szenen, am Anfang auch Tyrone. Dann viel Gerede, blutleer und mit einigen Textschwächen.
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