Unsichtbare Verstrickungen

von Falk Schreiber

Kiel, 15. November 2019. "Rosmersholm war immer ein Ort des Anstands und der Ordnung", grollt Rektor Kroll. Doch man versteht nicht, weswegen Felix Zimmers Kroll diese Feststellung im Kieler Schauspielhaus mit schneidender Schärfe trifft, weil: Der zum rechten Eiferer mutierte Rektor mag zwar überall eine "linksversiffte" Verlotterung wittern. Auf dem Gut seines alten Freundes und Schwagers Johannes Rosmer (Marko Gebbert) aber ist bei Licht betrachtet alles im Lot. Mehr Ordnung als im massivholzvertäfelten Arbeitszimmer Rosmers geht eigentlich nicht, und Anstand, naja: Man kann es unpassend finden, dass nur kurz nach dem Suizid von Rosmers Frau Beata deren ehemalige Pflegerin Rebekka frühmorgens im weiten Herrenhemd und ohne Hose durch die Räume schleicht. Andererseits trägt Agnes Richter als Rebekka das Hemd so selbstverständlich, dass ihr Outfit mehr vertraute Intimität transportiert als dass es tatsächlich ein sexuelles Zeichen wäre. Nein, da sieht Kroll Gespenster: Ordnung und Anstand weilen weiterhin in Rosmersholm.

Gegen den Strich

Der Kieler Intendant Daniel Karasek ist als Regisseur ebenfalls ein Freund der Ordnung: weniger ein künstlerischer Visionär, sondern ein Theatermacher, der aufmerksam in ein Stück hineinhorcht. In den vergangenen Wochen wurde überraschend häufig in Henrik Ibsens zuvor selten gespieltes "Rosmersholm" hineingehört, in Wien und in Bremen etwa.

Rosmersholm 1 560 OlafStruck uAgnes Richter als Rebekka, Marko Gebbert als Rosmer und Felix Zimmer als Kroll in "Rosmersholm " © Olaf Struck

So ernst wie Karasek nahmen allerdings weder Elmar Goerden noch Armin Petras die Vorlage, vielleicht auch zu Recht: Es kommt nicht von ungefähr, dass das Stück danach schreit, gegen den Strich gelesen zu werden. Die Handlung ist symbolisch überfrachtet, erstickt gegen Ende in einer kaum nachvollziehbaren Sexualmetaphorik. Aber Gegen-den-Strich-Lesen, das ist Karaseks Sache nicht. Der will hier etwas entdecken, das aus dem 19. Jahrhundert Ibsens bis ins Kiel des Jahres 2019 herüberstrahlt.

Tagespolitische Restspuren

Und er entdeckt: den Konflikt zwischen Konservatismus und Liberalismus. Rebekka hat nämlich in Rosmers Kopf Ideen von Selbstbestimmung und Emanzipation gepflanzt, worauf der ehemalige Pastor sich erstens von seinem Glauben entfremdet und dann von Freund Kroll. Da funktioniert die Aktualisierung tatsächlich – man kann sich Kroll als AfD-Funktionär vorstellen, der hofft, den alten Freund aus Junge-Union-Tagen auf seine Seite zu ziehen und entsetzt feststellt, dass der durch den Einfluss seiner neuen Freundin schwarz-grüne Sympathien entwickelt.

Sie funktioniert sogar zu gut, mit anderen Worten: Sie zieht die Inszenierung auf eine recht platte Ebene. Die auch nicht vielschichtiger wird, wenn die bei Ibsen in der Opposition befindlichen Konservativen hier zur Regierungspartei gemacht werden – tatsächlich ist es für das Verhältnis zwischen den Freunden egal, wer gerade regiert oder nicht, Rosmersholm bleibt eine von der Tagespolitik abgeschlossene Welt. Dass Imanuel Humm den linken Journalisten Mortensgård als schmierigen Politjongleur zeichnet, der sich weniger für die Wahrheit interessiert als für deren mediale Wirkung, bleibt dabei auch nur eine Fußnote.

Fosses Geister der Vergangenheit

Interessanter aber ist die Beziehung zwischen Rebekka und Rosmer. Hier geht das Stück ans Eingemachte, berührt tatsächlich moralische Fragen zu Augenhöhe, zu Partnerschaft, zu Freundschaft und zu Liebe. Fragen, die sich gar nicht mehr so leicht beantworten lassen. Ibsen rettet sich vor diesen Fragen in eine seltsam konstruierte Erklärung, die Rebekkas Herkunft in zwielichtigem Licht erscheinen lässt, eine Erklärung, die auch in Karaseks Inszenierung kurz erwähnt wird, dann aber keine weitere Rolle mehr spielt.

Stattdessen liest der Regisseur diesen Strang von "Rosmersholm" mit Ibsens Landmann Jon Fosse (dessen Roman "Der andere Name" im Programmheft ebenso zitiert wird wie ein langes, älteres Fosse-Porträt Peter Kümmels aus der Zeit) als Verstricktsein von Paaren in ein unsichtbares Netz aus Beziehungen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart drängen. Was einen Idealismus relativiert, der auf Selbstbestimmung und freie Entscheidungen der Menschen setzt – die selbstbestimmte Entscheidung, mit der Rebekka und Rosmer am Ende ihren Verstrickungen entkommen wollen, wirkt jedenfalls einerseits herzerwärmend, andererseits aber auch ziemlich gewollt.

Sensibel gelesen

Das kluge, sensible Lesen von "Rosmersholm", das Karasek hier praktiziert, ist inhaltlich tatsächlich ein Gewinn. Als Theater aber bleibt es verhältnismäßig uninteressant: Die Bühne Claudia Spielmanns ist selbst dann ein Musterbeispiel für Ordnung, als sie im dritten Akt durch ein Schnittblumenmassaker verwüstet wird. Die Figuren stehen und sitzen starr in dieser wohlgeordneten Szenerie und tauschen Argumente aus. Und die Musik Zacharias Preens zitiert vor allem neoklassische Motive, Piano, Cello, Akkordeon, zaghafte Elektronik. Musik, bei der man sich bis zum Ende nicht sicher ist, ob sie einfach sehnsüchtiges Sentiment sein will, rückwärtsgewandt oder vielleicht doch auf eine etwas unzeitgemäße Weise zeitgenössisch. Was diese so kluge wie irgendwie langweilige Inszenierung ziemlich auf den Punkt bringt.

Rosmersholm
von Henrik Ibsen, Deutsch von Elisabeth Plessen
Regie: Daniel Karasek, Bühne und Kostüme: Claudia Spielmann, Musik: Zacharias Preen, Dramaturgie: Jens Paulsen.
Mit: Marko Gebbert, Agnes Richter, Felix Zimmer, Werner Klockow, Imanuel Humm, Claudia Macht
Premiere am 15. November 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-kiel.de

 

Kritikenrundschau

"Lebhaft schillern die Figuren, allesamt verstrickt in ihre unklaren Identitäten", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (18.11.2019). Daniel Karasek lasse "der fernen Nähe der Protagonisten Raum" und das Stück so "locker durchschnurren" wie eine Yasmina-Reza-Komödie. "Wenn es denn an etwas fehlt, dann an ein paar Brüchen auf dem Schicksalsweg von Rosmer und Rebekka."

Werktreu, gewissenhaft und beflissen sei die Inszenierung, schreibt Sabine Christiani von der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (19.11.2019). "Marko Gebbert zeigt Rosmer als sympathischen Mann und Zuhörer, der gleichzeitig ein schwacher Typ und Zauderer ist."

 

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