Die Nacht der von Neil Young Getöteten - Thalia Theater Hamburg
Zwischen Fröschen und Kojoten
von Katrin Ullmann
Hamburg, 16. November 2019. Unberechenbar und rastlos ist seine Musik, fern von Trends und Verkaufszahlen entstehen seine Songs. Fans und Kritiker irritiert er bis heute durch drastische Stilwechsel: der kanadische Sänger, Gitarrist und Songwriter Neil Young. Einer seiner größten Fans ist sicherlich Navid Kermani.
Durchs Hören einverleibt
Der Schriftsteller, vielfach ausgezeichnet, schrieb 2002 mit "Das Buch der von Neil Young Getöteten" eine philosophische Erzählung über den Musiker und dessen Werk. Es ist eine mehr als 100-seitige Reise durch den Kosmos des Kultmusikers, eine verehrungsvolle und extrem kenntnisreiche dazu. Eine, die nicht nur Akkorde und Texte analysiert, sondern dem Menschen hinter der Musik nahekommt, den er sich durchs Hören einverleibt hat.
Lichtung im dunklen Mischwald: auf der Bühne von Evi Bauer © Armin Smailovic
"Früher glaubte ich, daß man Neil Young immer braucht, aber inzwischen denke ich, man kommt die ersten paar Tage auch ohne ihn über die Runden", schreibt Kermani gleich zu Beginn seines Essays. Die Musik Neil Youngs habe nicht nur seine an Koliken leidende neugeborene Tochter beruhigt, sondern sie erzähle alles über das Leben, über das Werden und Vergehen, über das Paradies, die Vertreibung daraus und die Sehnsucht des Menschen nach Wiederkehr. Das klingt ziemlich pathetisch, liest sich aber durchaus liebevoll und heiter, ein bisschen mystisch und schwermütig natürlich auch.
Songs zwischen Moos und Mondlicht
Diese Adjektive beschreiben genauso gut den Abend, den Sebastian Nübling am Thalia Theater dazu geschaffen hat. "Die Nacht der von Neil Young Getöteten" spielt in einem dunklen Mischwald im Mondlicht – schließlich handeln knapp 30 Neil-Young-Songs vom Mond. Dicht bewachsen ist Evi Bauers großartiger Wald. Verdammt hohe Bäume, Büsche, Moos und Tannen wachsen da aus der sich stetig rotierenden Drehbühne. Hinter den Bäumen entdeckt man eine Bank, eine Straßenlaterne, einen Mülleimer, ein Schlagzeug, eine Heimorgel. Dort kauert ein Darsteller, sägt einer an der Rinde, lehnt eine E-Gitarre an der Birke. Im Unterholz ducken sich Fuchs und Ente, und natürlich steht auch irgendwo ein Kinderwagen; schließlich gilt es ja vorrangig, ein kreischendes Baby zu beruhigen. Mit der Musik von Neil Young. Das ist zumindest der Ausgangspunkt – im Buch und auf der Bühne.
Mitten im Dunkel: eine Handvoll Neil-Young-Besessener © Armin Smailovic
In regelmäßigen Abständen gruppieren sich die Schauspieler (Felix Knopp, Thomas Niehaus, Merlin Sandmeyer, Gabriela Maria Schmeide, Maja Schöne, Cathérine Seifert) mit der Musikerin Carolina Bigge – sie hat gemeinsam mit Lars Wittershagen die musikalische Leitung inne – um den Kinderwagen und singen. Öfter aber singen, stehen, gehen sie irgendwo durch den Wald, ducken sich unter Ästen und Zweigen und finden sich in der mittigen, für den Zuschauer kaum einsehbaren Lichtung ein, klettern auf Bäume und auf Bänke.
Sie interpretieren "Old man look at my life", "Tonight's the night", "Down by the river", "Oh Mother", "Last Trip To Tulsa", "Heart of Gold" und noch viele Neil-Young-Songs mehr. Mal solo, mal a cappella, mal von einem halben Dutzend E-Gitarren begleitet, mal von flirrenden Synthesizer-Sounds, mal von einer Trompete und auch mal von einem Cello. Und egal in welchem Arrangement: Die Musik ist grandios! Sie ist zärtlich, friedlich, elegisch, verzweifelt, und ja, vielleicht ist sie auch "handtuchweiche Mädchenmusik", wie es sich der Riesenfan Kermani einst vorwerfen lassen musste.
Entrückte, skurrile Bilder
Zwischen den Songs sprechen die Schauspieler Neil-Young-Texte auf Deutsch, die im besten Fall wie anekdotische Alpträume klingen, nehmen einzelne Fäden des Kermani-Texts auf (meist gibt Felix Knopp den erregten Ich-Erzähler), joggen durch den Wald, hacken Bäume oder jaulen wie Kojoten. Sieht man von ein paar unbeholfenen, allzu witzig gemeinten Szenen ab, gelingt Sebastian Nübling ein (etwas zu lang geratener) Abend voll stiller Hingabe – wenn man das an einem musikalischen Theaterabend überhaupt so sagen kann. Still im Sinne von konzentriert.
Nübling inszeniert nur nebenbei, und angenehm fern von der Bühnenrampe, ein Konzert. Was er vor allem schafft, sind entrückte, skurrile Bilder einer Handvoll Neil-Young-Besessener, die sich in uramerikanischen Provinz- und Holzfälleroutfits (Kostüme: Pascale Martin) auf einer versteckten Waldlichtung gefunden haben. Zwischen Fröschen und Kojoten. Mitten im Dunkel, im Nebel und unter raschelnden Blättern. Und mitten in der Musik von Neil Young.
Die Nacht der von Neil Young Getöteten
Ein musikalischer Trip von Navid Kermani
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Evi Bauer, Kostüme: Pascale Martin, Dramaturgie: Julia Lochte, Musikalische Leitung: Carolina Bigge, Lars Wittershagen.
Mit: Carolina Bigge, Felix Knopp, Thomas Niehaus, Merlin Sandmeyer, Gabriela Maria Schmeide, Maja Schöne, Cathérine Seifert. Premiere am 16. November 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
"Eine musikalische Begegnung der ganz ungewöhnlichen Art" hat Michael Laages erlebt und sagt im Deutschlandfunk Kultur Fazit (16.11.2019): "Youngs melancholische Sehnsüchte wie nach verlorenen Paradiesen sind ja vollkommen von heute. Gerade hat der Sänger eine neue CD vorgelegt – die Beschwörung durch Sebastian Nübling und das Ensemble auf dem Hamburger Hexentanzplatz ist ein mindestens genau so überzeugendes Ereignis."
Den "tapferen, aussichtslosen Versuch einer Performance, die dem Titel (...) gerecht wird", hat Stefan Grund für die Welt (18.11.2019) gesehen, mit genau sieben guten Minuten ("Von 21.40 Uhr bis 21.47 Uhr war der Abend ein Ereignis") mit dem Young-Song "Out Of The Blue" – aber "die restlichen 128 Minuten waren verlorene Liebesmüh – mit Blick auf das Buch mit seiner mittelprächtigen Bekenntnisprosa wie mit Ohr auf das Werk Neil Youngs."
"Jede und jeder aus dem fantastischen Ensemble findet einen eigenen Zugang zu Neil Young", lobt Katja Weise vom NDR (18.11.2019). Der Abend sei "ein eindrücklicher Trip, eine ungewöhnliche Hommage an einen Musiker und ein bisschen auch an einen Autor". Die Texte von Young und Kermani griffen ineinander und so entstehe – unterstützt von dem Bühnenbild – eine ganz eigene Welt.
Navid Kermani habe mit seinem "Neil Young"-Buch eine "Anbetung geschrieben", berichtet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (21.11.2019). Nüblings Inszenierung müsse "ihr Material extrem skurril vergrößern, um diesen Liederabend mit Textstrecken aus Kermanis Romantikvorlesung zu einer Show" für die große Bühne zu machen. Der Abend bleibe "ein sehr redliches Bemühen mit vielen Bildern, Absurditäten und Kniefällen, mit Gänsehautmomenten und Leerlauf. Eine Huldigung von größter Sympathie, ohne Zweifel, ohne Gehässigkeit".
Nüblings Inszenierung sei eine Verneigung vor Kermanis Schreiben und vor Youngs Musik, so Peter Kümmel in der Zeit (21.11.2019) "Das siebenköpfige Ensemble schafft es mit komödiantischem Talent und großer Musikalität, aus der Dreh- eine Wunderwaldbühne, ein Neil-Young-Universum zu machen: Sie bringen – sprechend – Kermani und – singend und Gitarre, Mundharmonika, elektrisches Cello und Harmonium spielend – Neil Young auf eine Weise zu Gehör, die nichts Peinliches hat."
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