Der Schoß ist fruchtbar noch

von Sascha Westphal

Paderborn, 16. November 2019. Es gibt Berührungspunkte. Das lässt sich nicht leugnen. Manche der politischen Phänomene und Entwicklungen der vergangenen Jahre wecken tatsächlich fatale Erinnerungen an die späten 1920er und frühen 30er Jahre. Und so wirkt auch die Geschichte von dem zu lange zögernden Lehrer, die Ödön von Horváth in seinem 1938 veröffentlichten Roman "Jugend ohne Gott" erzählt, heute auf erschreckende Weise gegenwärtig. Man denke an die Netz-Portale der AfD, auf denen Schüler und ihre Eltern ihnen unliebsame Lehrer denunzieren können. Von derartigen Versuchen, Schulen und Lehrer unter Druck zu setzen, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Verweigerung der Horváthschen Schüler, sich von einem Lehrer unterrichten zu lassen, der den rassistischen Äußerungen eines seiner Zöglinge widersprochen hat.

Sechs Spieler proben Horváth

Eben diesem Gedankengang folgt nun Katharina Kreuzhage, die Intendantin des Paderborner Theaters, die schon vor gut einem Jahr mit einer im damaligen Spielzeitbuch veröffentlichten Graphik den Zorn der AfD auf sich gezogen hat. Ihre Romanadaption situiert "Jugend ohne Gott" konsequent in unserer Zeit. Um zugleich so nahe wie möglich an dem Roman zu bleiben, hat sie eine Metaebene eingezogen. Ihre Inszenierung spielt nicht in einer kleinen Stadt oder auf einem Zeltplatz im Wald. Sie findet auf einer schmucklosen Probebühne eines Theaters statt.

Sechs Schauspieler versammeln sich um einen Tisch und sprechen reihum die ersten Sätze des Romans. Sie steigen als Erzähler in diese Probe ein, um dann recht schnell in ihre Rollen zu rutschen, wobei die genaue Verteilung offen scheint. Auch der Lehrer ist schnell gefunden. David Lukowczyk nimmt sie nach einem kurzen Zögern bereitwillig an. Von diesem Moment an steht er immer ein wenig abseits. Er ist Teil des Geschehens und bleibt doch der distanzierte Beobachter, der nichts wirklich an sich herankommen lässt.

JugendOhneGott 3 560 Meinschaefer uDas Paderborner Ensemble spielt auf einer betont schmucklos gehaltenen Probebühne (Entwurf: Ariane Scherpf)
© Meinschäfer

Die inszenierte Probensituation verleiht der an sich schon parabelhaften Erzählung Horváths einen deutlichen Zug ins Abstrakte. Katharina Kreuzhages Ensemble muss weitgehend ohne Requisiten oder andere Hilfsmittel auskommen. Die Atmosphäre im Klassenzimmer und später im Wald, wo die 13-, 14-jährigen Gymnasiasten von einem "Coach" gedrillt werden sollen, beschwören sie allein mit Worten herauf. Selbst das Spiel der sechs Darsteller, denen sich später noch die Schauspielerin Claudia Sutter in der Rolle der obdachlosen Jugendlichen Eva anschließt, hat etwas Distanziertes. Sie gehen nicht in ihren Figuren auf. Sie ergründen nicht deren Psychologie, sondern betonen ihre allegorischen Züge.

So ist Tim Tölke als Schüler N., der durch rassistische Äußerungen über People of Color die Handlung ins Rollen bringt, der klassische Bully. Ein leicht übergewichtiger Junge, der mit seiner Physis und seiner Bereitschaft zu Gewalt die anderen Schüler hinter sich versammelt. Und wie so viele, die andere bedrohen und mobben, entpuppt auch er sich in der Konfrontation mit dem rebellischen Einzelgänger Z. schon bald als Schwächling.

Analytische Distanz

Die Feindschaft zwischen N. und Z., Z.'s Beziehung zu der im Wald lebenden Eva, der er zufällig begegnet und in die er sich auf den ersten Blick verliebt, und schließlich der Mord an N., den der Lehrer vielleicht hätte verhindern können, all das erzählt Katharina Kreuzhage in ihrer Bearbeitung nach. Aber selbst in den Augenblicken, in denen die unterschwelligen Aggressionen der Horváthschen Figuren hervorbrechen und sich entweder in Sex oder Gewalt entladen, bleibt der Blick der Inszenierung ein analytischer. Das melodramatische Element des Romans hat in diesem Gedankenexperiment keinen Platz.

JugendOhneGott 4 560 Meinschaefer uKlassenfahrt am Vorabend des Faschismus: Tim Tölke, Daniel Minetti, Robin Berenz, David Lukowczyk und Alexander Wilß spielen Horváth © Meinschäfer

Erschreckend und bedrohlich sind die an Reden von AfD-Politikern angelehnten Äußerungen von N.s Vater, der auch von Tim Tölke gespielt wird. Kreuzhages Inszenierung folgt ganz Brechts Diktum: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!"

Zudem fordert sie im Sinne von Kants kategorischem Imperativ, dass wir die Wahrheit, das Recht und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit fortwährend über unser subjektives Empfinden stellen. Deswegen erweitert sie den Roman in einer Szene um eine juristisch-ethische Diskussion über den ehemaligen stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner, der dem Entführer des Bankierssohns Jakob von Metzler Folter angedroht hatte, um den Aufenthaltsort des Jungen schnellstmöglich in Erfahrung zu bringen.

JugendOhneGott 1 560 Meinschaefer uJugend ohne Obdach: Claudia Sutter als Eva aus dem Walde mit Carsten Faseler. Im Hintergrund: Alexander Wilß
© Meinschäfer

Die Linien, die Katharina Kreuzhage anhand des Romans von den frühen 30er Jahren in die heutige Zeit zieht, sind wie der Daschner-Einschub manchmal erhellend und manchmal purer Agitprop. Dass der von Robin Berenz angemessen emotionslos gespielte Schüler T., der bei Horváth zum eigentlichen Stellvertreter der Jugend ohne Gott wird, im Gespräch mit dem Lehrer ausgerechnet Björn Höcke zitiert und verkündet, dass er "eine interessante politische Person in diesem Lande" werden könnte, hat etwas von einem politischen und historischen Kurzschluss.

Diese Art der beinahe kabarettistischen Gleichsetzung wird letzten Endes weder dem Roman noch Kreuzhages eigenem, weitaus komplexeren Konzept gerecht. Denn gerade die Szenen, in denen der Lehrer mit rechtsextremen Parolen und Gewaltphantasien überschüttet wird, wie sie heute nicht nur im Netz allgegenwärtig sind, zeigen in aller Deutlichkeit, dass es heute wie damals nicht nur um einzelne Personen oder eine Partei geht. Entscheidender sind die gesellschaftlichen Haltungen, die zum Nährboden für diese Personen oder Parteien werden.

 

Jugend ohne Gott
nach dem Roman von Ödön von Horváth
Bearbeitung von Katharina Kreuzhage
Regie: Katharina Kreuzhage, Bühne: Ariane Scherpf, Kostüme: Matthias Strahm, Musik: Alexander Wilß, Dramaturgie: Daniel Thierjung.
Mit: David Lukowczyk, Alexander Wilß, Claudia Sutter, Tim Tölke, Robin Berenz, Carsten Faseler, Daniel Minetti.
Premiere am 16. November 2019
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theater-paderborn.de

 

Kritikenrundschau

"Die Bearbeitung in Paderborn setzt ganz aufs Wort, auf Nachdenklichkeit statt Unterhaltung", schreibt Dietmar Kemper im Westfalen-Blatt (18.11.2019). "Gewöhnungsbedürftig ist, dass die Darsteller protokollartig das erzählen und ankündigen, was sie gerade tun und der Zuschauer sieht. Gewöhnungsbedürftig ist auch das karge Bühnenbild, das aus einem langen Tisch, ein paar Stühlen und einem Verschlag besteht. Spätestens als die Handlung vom Klassenraum ins Zeltlager wechselt, wünscht man sich eine andere Dekoration", so Kemper: "So muss der Zuschauer aus Andeutungen sich selbst ein Bild zusammensetzen."

"Diese Inszenierung ist ein Schlag ins Gesicht. Ein Theaterabend, der einen schlucken lässt, zeigt er doch, welche Parallelen es von den 1930er Jahren zur Gegenwart gibt", schreibt Holger Kosbab in der Neuen Westfälischen (18.11.19). Aus einem überzeugenden Ensemble steche David Lukowczyk etwas heraus. "Er füllt die Rolle mit subtiler Ambivalenz."

 

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