Seid ihr eigentlich glücklich?

von Sarah Heppekausen

Duisburg, 16. November 2019. Sie haben sich aufgereiht wie Zugvögel, V-förmig, auf der Stelle laufend bewegen sie sich dorthin, wo sie bessere Lebensbedingungen erwarten. "Wir brauchen keine Götter, die wir verehren dürfen. Keinen Jesus, keine Unternehmen, keine Flatrates und Heilversprechen, keinen Buddha und Allah, keine Sonderangebote und Pseudo-Vergebungen. Uns geht es gut, wenn wir beisammen sind. Niemand erklärt uns, wie wir zu sein haben", rufen sie vorwurfsvoll dem Publikum entgegen. Es sind Jugendliche, Fast-Erwachsene, die Um-die-20-Jährigen, die Autor Simon Paul Schneider in seinem Stück "Rattenkinder" für den Jugendclub des Duisburger Theaters aufbegehren lässt.

Ein Rattenfänger namens Echo

Aber es sind nicht die demonstrierenden Jungen, die sich direkt einmischen ins politische Geschehen. Es sind Frustrierte, Verzweifelte, die bei der älteren Generation keine Antworten mehr finden auf ihre Fragen, die etwa so lauten: Wie stellt man einen Bleistift her? Oder: Seid ihr eigentlich glücklich? Der einen droht die Abschiebung, dem anderen der Jugendknast oder die Pflegefamilie. Sie finden einen anderen Weg des Protests, den Rückzug in eine "Siedlung, erbaut aus den Trümmern einer zum Scheitern verurteilten Idee". Denn da fängt sie jemand auf, genannt Echo, ein Rattenfänger in Fellweste und mit schwarz gemalten Balken über den Augen.

Rattenkinder5 560 SaschaKreklau uWer nicht genügend Opfer bringt, muss damit rechnen, von Guru Echo (Emma Stratmann), Bibi (Ferit Albayrak) und den anderen verstoßen zu werden. © Sascha Kreklau

Simon Paul Schneider ist nicht nur Autor des Stücks, er inszenierte es auch und gestaltete das Bühnenbild. Schneider arbeitete schon als Krankenpfleger, Maler und Lackierer. Er studierte Bühnen- und Kostümbild und auch Regie. Nahezu ungeplant landete er 2014 im Frankfurter Autorenstudio (eigentlich hatte er sich fürs Regiestudio beworben). Jetzt leitet er zusammen mit Katharina Binder das im Frühjahr neu gegründete Theater Grand Guignol in Braunschweig. Dort kombinieren sie emotionales Erzähltheater mit Kasperle-Figuren. Schneiders Theaterlust lässt sich hier wie dort entsprechend so benennen: Er will Geschichten erzählen, Geschichten mit groteskem Gruselfaktor.

Dorfgemeinschaft des verführenden Idealismus

Es nebelt, blitzt und donnergrummelt im Duisburger Foyer III. Und zu den in tarnenden Schwarz- und Grünfarben gekleideten Rattenkindern spricht eine "Stimme, die aus den Feldern kam". Zu sehen sind grünfunkelnde Augen hinter einem Vorhang, zu hören ist eine elektronisch verzerrte Stimme. Theatertrash, der zum Ende noch übertroffen wird von einem kunstblutüberströmten Mädchen, das sich selbst den Schädel einschlägt. Makaber und gekünstelt schauerlich geht's zu in dieser Dorfgemeinschaft des verführenden Idealismus, die sich gerne mal an Gruppentanz und Pillen berauscht.

Rattenkinder4 560 SaschaKreklau uDie "Rattenkinder" in ihrem neuen Zuhause. © Sascha Kreklau

Und dann wird’s auch noch komödiantisch. Katharina Böhrke als Mutter Brandt, deren Kinder Theo und Fanny gerade dabei sind, sich raus aus dem bürgerlichen, vom Sicherheitsdienst bewachten Haus-mit-Garten-Leben und rein in diese Selbstdenker- und Selbstversorger-Gemeinschaft zu bewegen, gluckst sich durchs eigentlich bittere Gespräch am Familientisch. Aus einem sprachlich prägnant formulierten Generationenkonflikt zwischen Alltagsphrasen, Überforderung und Liebesverlust wird auf der Bühne leider eine Lachnummer.

Grusel-Graus

Der Autor Schneider betrachtet Gesellschaftsmechanismen mit scharfem Blick, lässt aber vieles auch angedeutet bis unausgesprochen, verharrt im Rätselhaften. So spürt er kaputten Strukturen und angegriffenen Menschenseelen nach. Der Regisseur Schneider bebildert reichlich, spielt mit Effekten. Er buchstabiert visuell aus, was sein Text als Metapher zur freien Assoziation in den Raum stellt oder als Leerstelle offen lässt. Da hängen zum Beispiel ein paar dürre, allenfalls mal raschelnde Maisstauden an den Bühnenraumsäulen, während im Stück nur sinnbildlich die Rede von "vertrockneten Resten einer Gesellschaft" ist, "von denen die Fliegen wie Ascheregen von unten nach oben in den Himmel stieben".

Der Abend überzeugt dann, wenn die Inszenierung so düster-verstörend bleibt wie der Text. Darauf lassen sich auch die jungen Schauspieler*innen ein, die in ihrer Ernsthaftigkeit überzeugen. Es ist ja ihre Generation! Und dann bleibt auch Raum für Komik – die angespielte, nicht die überzeichnete –, die Schneider bei aller Mystik niemals fremd ist. Vielleicht liegt's an der spielerischen Lust am Grausen.

 

Rattenkinder
von Simon Paul Schneider
Regie und Bühne: Simon Paul Schneider, Regie-Mitarbeit: Katharina Binder, Kostüme: Christina Hillinger, Musikalische Leitung: Wolfgang Völkl, Choreografie: Kama Frankl-Groß, Dramaturgie: Michael Steindl, Florian Götz, Theaterpädagogik: Katharina Böhrke.
Mit: Vanessa Kuhnen, Caroline Blümer, Katharina Böhrke, Axel Holst, Emma Stratmann, Kats Schlia, Danielle Melina Python, Anna Bollmann, Leoni Gaitanis, Maxi Maria Remy, Ferit Albayrak, Wolfgang Müller.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-duisburg.de

 

Kritikenrundschau

Jonas Schlömer von der WAZ (18.11.2019)  empfiehlt die Inszenierung ausdrücklich, die aus seiner Sicht den Spielort "das kleine Foyer III zum größten Saal im Stadttheater" macht." Sehr "düster und metaphorisch" deckt das surreale Schauspiel für den Krittiker "gleich mehrere Themenfelder ab: Die Vergänglichkeit, die Orientierungslosigkeit der Generation Y, eine Coming-of-Age-Geschichte und sogar verbotene Liebe, die eigentlich gar nicht verboten ist."

 

 

 

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