Sakrales im American Diner

von Elena Philipp

Berlin, 21. November 2019. "Holy. Holy. Holy." Seinen Hut Bogart-like gen Gesicht gekippt, im grauen Anzug, tritt Sir Henry auf. Spendet der Szenerie ein "Holy" hier, ein "Holy" dort, auch mal ein "Howly", als segne er die Bühneneinfälle von Christian Friedländer – den pastellfarbenen Milchbar-Brunnen, die betongesäulte Bauruine, den dreizackigen Berg aus schiefergrauen Papp-Polygonen. Dem Predigerton zum Trotz bleibt Sir Henry papieren wie ein Paragraphenreiter, die Aktentasche in der einen Hand, einen Hefter in der anderen. Keine himmelhoch-höllentief haltlose Hymne, sondern eine ironische Inventur: Ist das David Martons inszenatorischer Zugriff auf Allen Ginsbergs ikonisches Beat-Gedicht "Howl"?

Türkis färbt sich der Rundhorizont

Nun, genähert hat sich Marton Ginsbergs Ode an den luziden Irrsinn, an drogeninduzierte Ekstase und ihre düsteren, inkriminierten Begleiterscheinungen – "Howl" ist Ginsbergs Freund Carl Solomon gewidmet, der als Autor über seine traumatischen Psychiatrie-Erfahrungen schrieb, und beginnt mit den ikonischen Zeilen "I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked" – einmal mehr mit den Mitteln seines Mentors Marthaler. Musiktheatral.

howl 560 DavidBaltzer uLeuchtender Sopran versus dumpfes Blockwarttum (Yuka Yanagihara und Hendrik Arnst) © David Baltzer
Silvia Rieger, Expertin für konkrete Vorgänge, kurbelt die Action an, indem sie, langbeinig auf einem rampennahen Backsteinpodest drapiert, Kaffee in einer Mühle mahlt und – Lachen im Publikum – damit die Drehbühne in Fahrt zu setzen scheint. Türkis färbt sich der Rundhorizont und das Kreisen der Kurbel wird zum Takt für die J.-S.-Bach-Anverwandlung, in welche die nach und nach auftretenden zwölf Mitglieder des hoch musikalischen Marton-Ensembles einstimmen, am Klavier, an der Pauke, mit Trompete, Saxophon, Querflöte und Stimme.

Rausch der Referenzen

Akkordfolgen reduziert Marton dabei zu Patterns, die, mit sich steigernder Dynamik, minimal-music-mäßig repetiert werden – das Hämmern in die Tasten ein Gleichnis für die hochfrequenten Zustände des Rauschs. Ginsbergs Trompete des Jüngsten Gerichts wiederum klingt bei Paul Brody sehnsuchtsvoll jazzig, und Jan Czajkowski wechselt sich an den Tastaturen der zahlreichen Klaviere mit Marie Goyette ab, als teilten sie sich ein Paar Hände.

howl 560a DavidBaltzer ujpgPauken in der Bauruine: Detail der Bühne von Christian Friedländer © David Baltzer

Musikalisch war's das dann auch schon mit der Transferleistung von Literatur in Bühnengeschehen. Bach und seine doppelt konnotierte Abwandlung gen Sakralmusik und Jazz zieht sich durch den mit nicht ganz 90 Minuten schmalen Abend. Szenisch wird ebenfalls zu Ginsberg assoziiert: Theo Trebs ist als Matrose das Zielobjekt männlichen wie weiblichen Begehrens, Jill Emerson gibt als Blondine im grünen Kleid die American Diner Beauty. Hassan Akkouch, für körperlichen Ausdruck zuständig, reckt die Arme einem golden leuchtenden (Stadion-)Licht entgegen, während Thorbjörn Björnsson masturbierend über die Bühne hechtet und, als seine (Engels-)Posaune im Brunnen abgesoffen ist, auf den gelb-schwarz quadratierten Teppich kotzwürgt. Alles Referenzen auf das Gedicht, das nur in Auszügen gesprochen wird.

Absturz in die Melancholie

Neben Sir Henry zitiert auch Hendrik Arnst Ginsberg direkt. Darüber hinaus erfindet er sich einen Text und quält als marschsüchtiger Blockwart-Sheriff die "N****musik" spielenden "Hippies". Sarah Maria Sander wiederum muss die stumme 'Madwoman in the Basement' geben. Mit jeder Drehbühnenrunde darf sie sich im kargen Anstaltszimmer auf der bretternen Berg-Rückseite in einen neue Crazy-Woman-Pose drapieren: auf einem Stahlträger balancierend, die Haare vorm gesenkten Kopf; Leuchter in der Hand, den Brautschleier vorm Gesicht, wie eine katatonisch auf dem Bett erstarrte Schlafsüchtige.

Erwachsen will aus diesen szenischen Einfällen zu "Howl" leider keine Summe aller Teile. Am Schluss kapituliert der Abend vor seiner Vorlage, deren Moloch-Teil Silvia Rieger als drittes Zitat stakkato in den Bühnenhimmel geschrien hat. Mit Pergolesis "Stabat Mater" (in dem bewusst dilettantischen Stimmenchor leuchtet der Sopran von Yuka Yanagihara auf) sinkt die Inszenierung ins Melancholische. Was fehlt? Ginsbergs Wut. Und sein Schmerz. Statt Geheul nur leises Gewinsel.

 

Howl
nach Allen Ginsberg
Regie: David Marton, Bühne: Christian Friedländer, Kostüme: Tabea Braun, Choreografie: Jill Emerson, Licht: Henning Streck, Dramaturgie: Peggy Mädler, Henning Nass
Mit: Hassan Akkouch, Hendrik Arnst, Thorbjörn Björnsson, Paul Brody, Jan Czajkowski, Jill Emerson, Marie Goyette, Silvia Rieger, Sarah Maria Sander, Sir Henry, Theo Trebs, Yuka Yanagihara
Premiere am 21. November 2019
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

Regisseur David Marton nehme "Howl" als "Sprungbrett, um wieder einmal in seine ganz eigene, sehr spezifische Musiktheaterwelt zu gelangen", meint André Mumot im Deutschlandfunk Kultur (online 21.11.2019), der hier einen "Gefühlsjahrmarkt", angesiedelt "in einer Art melancholischem Endzeit-Amerika" gesehen hat. Darin öffneten sich "immer wieder Wunden des Nicht-Dazugehörens, des Nicht-Hineinpassens, des Nicht-Zueinanderkommens." Marton versuche gar nicht erst, Ginsberg nachzuerzählen, sondern zeige einen "subtil an die Vorlage angelehnten Kosmos, ein unerwartet verspieltes Daseinsballett", das sich allerdings "nach einer eindringlichen ersten Hälfte zunehmend in chaotischer Beliebigkeit verliert".

"Ein assoziatives Traumspiel" hat Ute Büsing im RBB (online 22.11.2019) gesehen. Es habe "passagenweise schon etwas Rauschhaftes, wie das ständige Kommen und Gehen auf der nimmermüden Drehbühne hier illustriert" werde. Problematisch wird es für die Rezensentin dort, wo das Politische ins Spiel kommt – wo es um "Rassismus und Homophobie" geht. Das wirke "in diesem geglätteten Gesamtkunstwerk eher wie ein Fremdkörper". Das "Raue und Rüde von Ginsbergs poetischem Geist" könne dieser Abend jedenfalls nicht vermitteln.

"An der Grenze von Gesang und Text, dort, wo das Verstehen aufhört und neu anfängt", sieht Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (22.11.2019) die Musiktheaterkunst von David Marton und die Lyrik von Allen Ginsburg und widmet beiden eine porträthaft einlässliche Schilderung. Seidler beschreibt eindringlich die Töne und Klangfarben dieses Abends, vermeldet das "Bühnengeräusch des Jahres" (hergestellt von Silvia Rieger) und hat insgesamt einen "herrlichen Gesamtkunstwerksduft" geschnuppert. Einziger Einwand: "Schade, dass es nach nicht einmal anderthalb Stunden schon wieder vorbei ist."

"Regisseur David Marton und seine Volksbühnen-Truppe machen aus Ginsbergs überwältigender Rhapsodie einen musikalischem, ja fast tänzerischen, schwebenden Abend von novemberlich-melancholischer Qualität. Man fühlt sich angehoben und davongetragen.” So berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (22.11.2019). Marton habe eine "Übertragung" des Gedichts geschaffen. Er "und seine Musiker-Schauspieler-Performer bewegen sich schlafwandlerisch durch eine Welt, die die irgendwo vor oder nach einer Apokalypse liegt".

Zum "Heulen" findet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.11.2019) diesen Abend. Denn: "David Marton begnügt sich mit einer lärmigen, flachen, selbstgenügsamen Feier der Sinnlosigkeit, anstatt sich mit dem komplex-gehaltvollen Text, der seiner Aufführung den Namen verleiht, auseinanderzusetzen."

Der Abend sei "nicht mehr als eine Aneinanderreihung hübscher Regieeinfälle, den man danach sofort wieder vergisst, so halbgar und nichtssagend, wie er war", findet Anna Fastabend in der Süddeutschen Zeitung (26.11.2019). Statt auf die suggestive Kraft der Sprache zu vertrauen, übersetze Marton sie in eine lose Abfolge von musikalisch unterlegten Bildern. "Der Tiefpunkt des Abends: Als Silvia Rieger sich bei der Anklage des Molochs, sprich des seelenlosen Kapitalismus, die Seele aus dem Leib brüllt."

 

 

Kommentare  
Howl, Berlin: entmystifiziert
Eigentlich ein schöner Abend. Nur zur Unzeit. Man hat das Gefühl, ihn sich nicht leisten zu können, weil da draußen ein vollkommen anderer Film abläuft, in der Realität. Die Drogenprobleme aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts sind heute befremdlich. Niemand hat heute mehr ein experimentelles Verhältnis zu Drogen. Das ist alles völlig entmystifiziert. (...) Und natürlich reicht der Abend nicht an das Gedicht vor Alan Ginsberg heran. Aber hey: Es ist schon cool es ausprobiert zu haben. Eine authentischere Besetzung hätte dem Abend sicherlich gut getan. Aber hinzugehen, lohnt sich alle Male. Denn wahrscheinlich wird sich auch die nächsten siebzig Jahre keine deutsche Bühne mehr mit dem Stoff befassen, der, im übertragenen Sinne, einer ganzen Generation vor über einem halben Jahrhundert die besten Talente gekostet hat. (...)
Howl, Berlin: das Scheitern, bebildert
David Marton bebildert das Scheitern wie das verblassende Gedächtnis an die einstige Hoffnung. Er gibt ihnen Farben und Körper, vor allem aber Klang und Bewegung. Er kreist um das verlorene Zentrum, in einer eklektischen Mischung zwischen Barock und Moderne, Jazz und volkstümlicher Überlieferung. Er kommt nicht an, wie auch, wo er immer nur im Kreis zu laufen vermag. Eine Mediatation versucht er, verwandelt den Wutschrei in eine melancholische Elegie, eine Reflexion über die Möglichkeit des Andersseins, des Abwerfens von Etiketten, wenn – wie hier – aus der Verweigerung von Schubladen längst neue geworden sind, das Unangepasste selbst Etikett ist. Es ist ein liebevoller, aber auch ein skeptischer Blick, den dieser Abend auf seine Vorlage wirft. Ein distanzierter und zugleich überaus intimer. Der lang genug faszinieren kann, um den Abend nicht sofort vergessen werden zu lassen, der eine spezielle Atmosphäre erschafft, die den Zuschauer sich nahe fühlen lässt diesen Geistern, zu denen er gehört. Und der in seiner Natur zu ziellos ist, vielleicht sein muss, um die Spannung zu halten, der sich verliert im hilflosen Moloch-Gebrüll, der kein Ende findet und mehrere verpasst, der sich mit seinen 90 Minuten zieht, als wäre er einer der weniger gelungenen Castorf-Abende. Der am Ende seinen Fixpunkt, den Ginsbergschen Text, aus den Augen verliert, den er nie an sich heranließ, in seiner Distanzierung zu Beginn aber zumindest analytisch beleuchtete. Der Abend taumelt seinem Ende entgegen, wie die Epoche, aus der sein titelgebender Text stammt. Wie sie vergeht er, verschwindet und hinterlässt doch Spuren. Die man sehen muss. Und hören.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/12/14/kreisen-ohne-mitte/
Howl, Berlin: beliebig
Der Abend beschwört Erinnerungen an die Castorf-Ära mit vielen bekannten Gesichtern der damaligen Zeit herauf. Gleich zu Beginn stakst Sir Henry, der musikalische Zeremonienmeister des Hauses, im aus der Zeit gefallenen Humprey Bogart-Look über die Bühne und schleudert ein vielfaches „Holy“ ins Publikum. Silvia Rieger drischt im Stakkato-Ton auf den „Moloch“ ein. Wie bei Castorf wird viel geplanscht und gerannt, Hendrik Arnst tritt als brüllender, rassistisch übergriffiger Sheriff auf, Thorbjörn Björnsson übergibt sich.

In seiner schlurfigen, skurrilen, sich in zahlreichen Anspielungen verlierenden Musiktheaterhaftigkeit tritt die „Howl“-Inszenierung von David Marton zu oft auf der Stelle und bleibt vor allem in den Fußstapfen seines Mentors Christoph Marthaler stecken.

Sehr epigonal, aber auch sehr beliebig wirkt dieser Abend, der sich zäh dahinschleppt und wenig mehr als eine konzertante Fingerübung ist, deren Wirkung trotz des Wohlklangs schnell verpufft.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/15/howl-volksbuhne-kritik/
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