In finsterem Raunen der Unflat

von Frauke Adrians

Berlin, 22. November 2019. Aus Tätern werden Helden, die Opfer werden vergessen. So schreibt sich Kriegsgeschichte, heute wie vor ein paar tausend Jahren bei der Eroberung und Vernichtung Trojas. Ebenfalls heute wie einst in der antiken Sagenwelt: unvorstellbare Greuel auch abseits der Schlachtfelder, Massenmorde, Vergewaltigungen, Kindermord. Die Sieger machen Beute, und zur Beute gehören immer die Frauen der Besiegten. "Ich weiß, ich weiß, ich weiß", sagen die Troerinnen, Hekabe, Kassandra, Andromache, im Chor. "Du erzählst mir nichts, was ich nicht schon gehört habe."

Wucht der Emotionen

Damit benennen sie auch schon das Problem dieses kurzen Abends am Deutschen Theater: Er nimmt sich mehr vor, als er leisten kann. Stephan Kimmigs "Hekabe"-Version "untersucht" – laut Programmflyer – "das Herz der Finsternis", das hier nichts mit Joseph Conrad zu tun hat, sondern als "Hass der Sieger auf die Besiegten" definiert wird. Abgesehen davon, dass eine Theaterbühne generell nicht der beste Ort für Untersuchungen ist: Um die Sieger und ihre Gefühle geht es hier am wenigsten. Im Zentrum stehen die Frauen, die Opfer sind und versuchen, wenigstens noch Rächerinnen zu werden, und sei es nur in der Mythologie.

Hekabe 1 560 c Arno Declair uWorte unvorstellbaren Grauens: Paul Grill, Katharina Matz, Almut Zilcher und Lin Reusse © Arno Declair

Katharina Matz, Almut Zilcher und Linn Reusse teilen die Rollen der trojanischen Frauen untereinander auf – ebenso wie die der Athene, die jede Schuld am Krieg von sich weist – und damit auch die Wucht der Emotionen: das Entsetzen, die Wutschreie, die Trauer, die Schreckensstarre, die Resignation. Den Sarkasmus und ein bisschen fröhlichen Irrsinn braucht das Publikum als Comic Relief zwischen den Schilderungen der Grausamkeiten.

Paktieren mit den Schlächtern

Denn auch wenn die Troerinnen nichts über die zeitlosen Sieger erzählen, was wir nicht schon wüssten: Ihr Leid, so kühl sie es auch in Worte fassen, lässt den Zuschauer nicht kalt, wie könnte es auch anders sein bei diesen Schauspielerinnen. Diverse Männerrollen, sofern die nicht auch noch von den Frauen übernommen werden, spielt Paul Grill. Die stärkste und hoffnungsloseste Szene des Abends entspinnt sich zwischen seinem Agamemnon und Almut Zilchers Hekabe: Die besiegte und versklavte Trojanerin ist bereit, mit dem brutalen Sieger zu paktieren, um wenigstens den Mord an ihrem jüngsten Sohn Polydor zu rächen – und muss entdecken, dass Agamemnon sich längst mit dem Mörder verbündet hat. Für seinen doppelten Verrat findet er eine wohlformulierte Begründung im Regierungspressesprecher-Sound, die so zeitlos ist wie der Verrat selbst. 

Hekabe 2 560 c Arno Declair uMords- und Wutfugen: Paul Grill, Almut Zilcher, Katharina Matz, Linn Reusse und Michael Verhoevec  © Arno Declair

Michael Verhovec untermalt, unterlegt und umsummt das Drama live auf der Bühne mit Electronics, Xylophon und metallenem Schlagwerk; stimmungsvoll, wenn auch nicht obligat fürs Stück. Musikalischen Bauprinzipien gehorcht stellenweise auch das Textarrangement, etwa die alphabetisch sortierte rhythmische Litanei der Opfer- und Täternamen und die von allen Schauspielern vorgetragene Mords- und Wutfuge des Odysseus. Dem Abend den Unter-Untertitel "Ein Konzert" zu geben, wirkt dann aber doch ein bisschen übertrieben, trotz der Notenständer mit dem Dramentext auf der Bühne.

Durst nach Vergeltung

Die Frage, die sich die Regie vorgeblich gestellt hat – "Woher kommt der Hass?" –, beantwortet auch der in sexistischen Vernichtungsfantasien schwelgende Täter-Monolog des Odysseus nicht. Woher wiederum bei den Frauen der Durst nach Vergeltung kommt, nach "Gegenschlachtung", wie es im Text nach Euripides so überdeutlich heißt, das bedarf keiner Untersuchung. Den Rachefrauen – Hekabe verwandelte sich der Sage nach in eine schwarze Hündin, um die Mörder zu verfolgen – bleibt am Ende nur, in finsterem Raunen den Unflat zu wiederholen, der über sie verbreitet wird: "Diese grausamen, grausamen Weiber… der widerlichste Abschaum ist das Weib." Nichts, was wir nicht schon gehört hätten. Aber ein Finale, das frösteln macht.

 

Hekabe – Im Herzen der Finsternis
nach Homer und Euripides 
Uraufführung
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Licht: Robert Grauel, Dramaturgie: John von Düffel, Livemusik: Michael Verhovec 
Mit: Paul Grill, Katharina Matz, Linn Reusse, Almut Zilcher 
Premiere am 22. November 2019 
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de



Kritikenrundschau

Über einen Abend mit einer "Ästhetik zwischen Probebühne und konzertanter Aufführung" berichtet Fabian Wallmeier für rbb|24 (23.11.2019). Durch seine "Zurschaustellung von Künstlichkeit geht der Abend immer wieder auf Distanz zu sich selbst", heißt es. "Doch was Stephan Kimmig mit dieser Anordnung, mit diesem Spiel mit Distanz und Distanz zur Distanz, eigentlich will, bleibt letztlich unklar. Eine kühle, starke Selbstbehauptung der Weiblichkeit in einer von blutigem, tödlichem Machismo mag ihm vorgeschwebt haben, doch so richtig geht das nicht auf."

"Kimmigs Achtzigminüter minimalistisch zu nennen, wäre fast noch übertrieben", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (24.11.2019). Von Notenständern aus "wird im Wesentlichen abendfüllend der Text über die Rampe deklamiert. Hier und da gibt's kurze szenische Einsprengsel wie eine kleine militärische Sportstück-Choreografie." Wie Hekabe vom Opfer "als Rächerin selbst zur Täterin" werde, könnte als "Ambivalenz" durchaus "interessant sein, wird aber im eindeutigen Einheitssound des Abends glatt eingeebnet".

Ausgerechnet die illustrativ atmosphärische Musik lenke bei diesem 'Konzert' von der Essenz ab, friede sie ein im artifiziellen Rahmen, schreibt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (23.11.2019). "Vorgeführt wird in diesem theaterfeindlichen Versuch die − im Programmheft klug kritisierte und beklagte − Machtlosigkeit der Frauen und der Kolonialisierten. Man wohnt frierend einer Zementierung bei, wo ein Ausbruch gut getan hätte."

"Als Konzept ist das alles durchaus konsequent durchdacht und beeindruckend klar durchkomponiert, die Kehrseite allerdings ist, dass uns der Regisseur die Figuren durch die offensive Künstlichkeit der Spielsituation maximal vom Leib hält", berichtet Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (24.11.2019). "Am Anfang funktioniert das noch ganz gut, vielleicht nicht gerade als Konzert, aber doch als puristisches Hörspiel mit Musik über eine zeitlose Gewaltspirale, bei der Hass stets Hass nach sich zieht. Doch immer dort, wo es dramatischer, auch individueller wird und ganz besonders am Schluss, wenn Hekabe doch noch ihren Durchbruch als selbstbestimmte Rächerin hat, fehlt dieser abstrakten, distanzierten Text-Musik-Installation das Theater dann doch sehr."

Wie "die beiden Resteverwerter im Deutschen Theater Berlin", Stephan Kimmig und Dramaturg John von Düffel, nach ihrer gemeinsamen Atriden-Bearbeitung "Ödipus.Stadt" nun noch einmal "das Schlachthaus der antiken Überlieferung" bemühten, "um mitzuteilen, dass wir in Gewaltverhältnissen leben", lade "zum gefälligen Erschrecken“ ein, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (5.12.2019). Die vier Protagonisten blieben bei der von großzügig eingesetzter Emotionsdarbietung begleiteten Präsentation "wenig konturierte, fast austauschbare Thesen- und Textmaterialträger", einzelne Ausbrüche von Schmerzbehauptungen wirkten eher unfreiwillig komisch. Die inhaltliche "Simplifizierung des Materials auf eine didaktisch einwandfreie Mitteilung, die jederzeit garantiert konsensfähig ist", sei "in etwa das Gegenteil des Schreckens- und Irritationspotenzials der Tragödie".

 

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