Ein Kaleidoskop von Projektionen

von Sabine Leucht

München, 22. November 2019. Sie trägt eine lange schwarze Hose, Frack und streng zurückgekämmtes Haar. Und die nächste Prise Ernüchterung ist verbaler Art: "Ich werde mich heute nicht ausziehen", sagt Lulu. Lulu Nr. 1, müsste man sagen, denn in Bastian Krafts Wedekind-Bearbeitung am Münchner Residenztheater gibt es deren drei. Liliane Amuat, die jüngste, zieht sich nicht aus. Juliane Köhler geht nicht vor uns auf die Knie. Und Charlotte Schwab als die älteste wird nicht sterben. Genau genommen wird keine von ihnen etwas dergleichen tun, womit sich die drei gleich zu Beginn aus ihrer Verantwortung stehlen: Dem Bild zu entsprechen, das man (oder "Mann") sich von dieser "Schlange" und männermordenden Femme Fatale macht.

Trotz Befragung bei Altbekanntem

Wedekind mag seine "Monstretragödie" in Opposition zur wilhelminischen Sexualmoral geschrieben haben, ihre Titelfigur bleibt Projektionsfläche von Männerphantasien. Sowohl stückimmanent, weshalb vom alten Goll bis zum jungen Alwa ein Mann um den anderen an der Diskrepanz zwischen imaginierter und realer Frau krepiert. Aber auch für den Zuschauer. Und vor allem zweiteres interessiert Kraft, der seine Lulu’sche Dreieinigkeit immer wieder das Publikum adressieren lässt. Das geht gleich los mit dem ersten Auftritt, in dem Lulu Nr. 1 die möglichen Imaginationen des Publikums zurück ins Parkett spielt: "Natürlich sind Sie frei, sich mich nackt vorzustellen. So wie ich frei bin, mir Sie nackt vorzustellen. Das tue ich übrigens schon die ganze Zeit." Dann geht es ins hautporenfeine Detail – und bald gemeinsam hinein "in die Vorstellung, in die Vorführung, in die Verführung, in die Versuchung".

Lulu 2 560 c Birgit Hupfeld uFrauentrio mit eigener Agenda: Juliane Köhler, Charlotte Schwab, Liliane Amuat @ Birgit Hupfeld 

Kraft ist nicht der erste, der diese Figur drittelt. Seine Lulus aber machen zunächst vor allem das, was Projektionsflächen nicht machen: Reden, sich erklären (in der ersten Person Singular) und damit selbst definieren. Oft diskutieren die drei den Fortgang der Handlung erst einmal aus, stellen dem Publikum Fragen wie "Entspricht das der Vorstellung, die Sie von mir haben?" oder weisen explizit auf stereotype Frauenbilder im kondensierten Text hin. Das wirkt oft etwas umständlich oder auch überdeutlich und redundant. Und weil frau trotz ausführlicher Befragung des Stoffes im Wesentlichen bei den altbekannten Stationen landet, liefert die weibliche Perspektive auf die Männerphantasie keine wesentlich neuen Erkenntnisse. Nur zum Schluss, zum Straßendirnendasein und Opfertod, sagen die Lulus sehr entschieden "Nein", "Cut" und definieren sich kurzerhand zu weiblichen Jack the Rippers um.

Schattenspiele und imaginierte Männer

Die handwerkliche und technische Umsetzung des Ganzen aber macht alle etwaigen inhaltlichen Schwächen wett. Und das, obwohl oder gerade weil sie für Hochglanz-Multimedia-Bastler wie Kraft, seinen Videodesigner Kevin Graber und den Bühnenbildner Peter Baur vergleichsweise simpel anmutet.

Auf der ansonsten nackten Marstall-Bühne steht eine aus neun Paneelen zusammengesetzte Wand, auf die die Auftretenden lange Schatten werfen. Manchmal haben diese verschiedene Farben oder es sind irritierenderweise sechs, obwohl auf der Bühne nur drei Menschen stehen. Mehr und mehr entwickeln die Schatten ihr Eigenleben, treffen auf vorab produzierte Bilder und interagieren miteinander. So schwingt etwa Juliane Köhler mitten auf der Bühne einen Pinsel und verbindet sich im Schattenbild mit einer Staffelei zum Maler Schwarz. Dagegen machen sich die Lulu-im-Pierrot-Kostüm-Schatten selbständig auf den Weg zum Modellstehen, während die leiblichen Lulus vorne an der Rampe miteinander beschäftigt sind.

Lulu 4 560 c Birgit Hupfeld uDie Herren der weiblichen Schöpfung: Liliane Amuat, Charlotte Schwab; auf der Leinwand im Hintergrund: Liliane Amuat, Charlotte Schwab © Birgit Hupfeld 

Was Berührungen, zumal erotische, angeht, genügen sich die Frauen selbst, die Männer sind lediglich Spielmaterial. Und zwar in mehrerlei Hinsicht. Die drei fabelhaften Schauspielerinnen produzieren und sprechen auch Männerschatten, von denen immer mehr in der Projektion zu sehen sind. Dem Making-Of wie den Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen beiden Ebenen auf die Spur zu kommen ist allein schon ein Heidenspaß. Schließlich aber werden die Bilder konkreter, weil die Schatten- nun Film-Bildern weichen. Die Paneele wandern auseinander, das Bild wird segmentiert, und in fast jedem Segment erscheinen Männer. Männer in der Garderobe, die mit Lulu-Stimme darüber räsonieren, ob sie ungeschminkt "echter" sind oder wenn sie eine Rolle spielen. Männer, die gemeinsam eine französische Lolita-Schnulze singen oder sich in Lulus Zimmer verstecken und boulevardkomödienhaft mal hier, mal da hervor- und untertauchen. Alle werden sie von Amuat, Köhler und Schwab imaginiert und gespielt: Der muskelbepackte Rodrigo, der zottelhaarige und altersfleckige Schigolch, der Schwyzerdütsch sprechende Schulbub Hugenberg und all die anderen. Wobei auch die Maskenbildner hier Großartiges leisten und der vorübergehenden Fleischwerdung dieser eher fun- als lustfixierten Frauenphantasien mit wuchtigen Augenbrauen, einer großen Varietät von Bärten und allerlei für Laien Unergründlichem auf die Sprünge helfen. Chapeau!

 

Lulu
von Frank Wedekind in einer Bearbeitung von Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Dagmar Bald, Musik: Arthur Fussy, Licht: Monika Pangerl, Video: Kevin Graber, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt, Maske: Christian Augustin, Lena Kostka.
Mit: Liliane Amuat, Juliane Köhler und Charlotte Schwab.
Premiere am 22. November 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Die Realitätsebenen verwischen zusehends: zwischen dem Videobild von Kevin Graber, das auf der Dramenebene spielt, der Bühne von Peter Baur, die mit dieser Dramenebene interagiert, und dem Zuschauerraum, in dem sich jeder der Theatersituation bewusst ist, zwischen behaupteter, augenscheinlicher und leibhaftiger Identität also", schreibt Teresa Grenzmann in der FAZ (25.11.2019). "Die Münchner Maskenbildner leisten Großartiges, und das Spiel mit dem Spiel wird völlig absurd. Die Grundidee stammt immer noch von Wedekind selbst. Doch Lulu ist nicht länger Projektionsfläche von Männerphantasien."

"Man könnte meinen, dass das anstrengend wird, dieses ständige Deuten, das Unterbrechen, die Vorwegnahme dessen, was der Zuschauer denken wird. Doch Kraft inszeniert mit solcher Leichtigkeit, mit Humor und Selbstironie, dass diese "Lulu" zu keiner Sekunde wie ein hübsch verpacktes Moral-Bonbon schmeckt", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2019). "Ja, es ist ein weiblicher Selbstermächtigungsabend, es ist aber vor allem ein grandioses Spiel mit Erwartungen und Blicken."

"Bis auf ihren grausigen Schluss (hier triumphieren sie über das Todesurteil) ist das wild gemixter Originaltext mit Conferencier-Geplänkel. Auch die gedrittelte Kindfrau ist nicht neu auf der Bühne und Kraft kann ihr keine unbekannten und differenziertere Einsichten in ihr Wesen abgewinnen. Er ist viel zu sehr beschäftigt mit seinen Einfällen, die aus diesem Abend vor allem eine zum Staunen launige Travestieshow machen", schreibt Bernd Noack von Spiegel Online (24.11.2019).

Der "allergrößte Gag dieser fulminanten Neuinszenierung" sei die Leistung der Maskenbildner, schreibt der Donaukurier  (24.11.2019). "Dank Schminke, Perücken, Bärten, Glatzen und der köstlichen Darstellung lächerlichen Machoverhaltens der drei phantastischen Schauspielerinnen sind all die Lulu-Verehrer ins Groteske gesteigert. Toll."

Kommentare  
Lulu, München: beste Momente
In ihren besten Momenten, nämlich immer dann wenn die Spielerinnen aus dem „Lulu“-Plot aussteigen und eine Meta-Ebene einziehen, wird Bastian Krafts „Lulu“ zur intelligenten Reflexion über #metoo, den männlichen Blick, der Frauen zu Lolita-Objekten degradiert, und über die Rolle der Zuschauer*innen im Publikum.

Das klingt auf den ersten Blick verkopfter als es tatsächlich ist, denn Kraft hat nicht nur drei spielfreudige Lulu-Darstellerinnen zur Verfügung, die sich auch gleich noch alle Männer-Rollen teilen. Er setzt auch zur Auflockerung vorproduzierte Drag-Videos von Kevin Graber ein, die raffiniert mit dem Live-Spiel auf der Bühne interagieren.

Oft wird der Diskurs der Spielerinnen auch ironisch gebrochen, wenn zum Beispiel der französische Pop-Hit „Moi … Lolita“ vom Band kommt, während die dreifach Lulu die Reihen abschreitet und taxierende Blicke ins Publikum wirft.

Wann immer der Abend aber die Meta-Ebene verlässt und pur auf Frank Wendekinds „Lulu“ zurückgreift, wird sehr deutlich, wie verstaubt und aus der Zeit gefallen der Text ist, der Ende des 19. Jahrhunderts erschien.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/12/21/lulu-bastian-kraft-marstall-munchen-theater-kritik/
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