Der Kirschgarten - Staatstheater Braunschweig
Auch du, taube Nuss
von Jan Fischer
Braunschweig, 22. November 2019. Irgendwas ist da durchgerauscht, was Großes, in einem Winkel von zehn oder fünfzehn Grad vielleicht. In der Decke des mit Holzrechtecken verkleideten Raumes klafft jedenfalls ein großes Loch, am Boden ebenso. Es ist dieses Loch, durch das in Braunschweig das Personal von Tschechows "Der Kirschgarten" in ihr dem Untergang geweihtes Domizil hinaufklettern wird, frisch aus Paris angekommen. Der greise Diener Firs (Heiner Take) schält sich langsam aus dem Halbdunkel, um die Herrschaften willkommen zu heißen.
Zero-Waste-Sommerfrische
Dagmar Schlingmann, Intendatin des Staatstheater Braunschweig, bringt als Regisseurin Tschechows Klassiker in einer postapokalyptisch wirkenden Welt unter: Da sind die Löcher in Decke und Boden, durch das Loch in der Decke schneit es auch mehrmals. Da sind die wie in einem Traum gefangenen Bewegungen der Figuren, die immer mit sich selbst beschäftigt sind, ständig aneinander vorbei zu reden und zu blicken scheinen. Da ist die bis auf einen Stuhlstapel und eine Tischlampe leere Bühne. Ein Schatten, der wie ein tickender Sekundenzeiger im ersten und im vierten Akt über die Bühne wandert. Da ist, immer wieder, die dräuende Musik.
Tschechows Geschichte eines Generationenwechsels, oder besser: eines Umbruchs alter Werte versucht Dagmar Schlingmann in ihrer Inszenierung Aktuelles abzugewinnen: "Wir posten jeden Dreck in den Äther", lässt sie den Studenten Pjotr Trofimow (Robert Prinzler) sagen, "und draußen geht die Welt zugrunde". Es ist ein langer Monolog, in dem klar wird: In diesem "Kirschgarten" herrschen Klimawandel, Kapitalismus, Neoliberalismus.
Die Umbruchssituation ist keine historische, sie ist hier und jetzt. So figurieren die Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja (Saskia Petzold) und ihr Bruder Leonid Gajew (Tobias Beyer) als eine globale Elite, die ihre eigene Welt sehenden Auges zugrunde richtet. So gerät der Kaufmann Jermolaj Lopachin zum neoliberalen Venture-Kapitalisten, der gerne Zero-Waste-Sommerfrischen auf dem Gelände des Kirschgartens errichten möchte, um damit Gewinn einzufahren. So erscheinen Trofimow und Anja (Larissa Semke) als (mehr oder weniger) jugendliche Aktivisten, die sich gegen die zerfallende Welt ihrer Eltern stellen.
Knochensäge und feines Sezierbesteck
Interessant ist, was das Ensemble aus den Figuren herausholt: Denn die hängen zwar jeweils traumduselig in ihren eigenen Welten herum, die sich nur selten berühren, aktualisieren sie allerdings auch ein wenig: Der eigentlich eher auf der Seite des Fortschritts stehende Lopachin wirkt etwas tumb, so, als verstünde er selbst nicht so ganz, woher sein ganzes Geld eigentlich kommt. Joshua Seelenbinder gibt seinen Jascha als vollendeten Adiletten-und-Adidas-Trainingshosenträger. Getrud Kohl als Warja schafft es, aus einer eher tumben Figur viel Qual herauszuholen. Und Firs, der eigentlich nur ein alter Diener ist, ist bei Heiner Take eine Figur als hätte David Lynch bei der Addams Family Regie geführt.
Größtenteils bleibt Schlingmanns Inszenierung dabei allerdings dicht am Text: Hin und wieder gibt es ein paar Zusätze, um das Drama in die Neuzeit zu holen, ein wenig ist gestrichen. Erstaunlich ist aber, wie wenig Veränderung nötig ist, um den "Kirschgarten" auf diese Art zu aktualisieren. Selbstverständlich: Da wird manchmal mit der Knochensäge gearbeitet, wo Tschechow in seinem Text eher das feine Sezierbesteck hergenommen hat. Der lange Monolog Trofimows rekontextualisiert das Stück zwar komplett – aber eben auch sehr explizit. Der Diener Firs bricht am Ende aus der hölzernen Zeit- und Menschensezieranlage aus und zeigt mit dem Finger auf das Publikum und sagt: "Auch Du, taube Nuss."
Schlingmanns Inszenierung bietet weder formal noch inhaltlich eine radikal neue oder andere Lesart von Tschechows Publikumsliebling. Viel eher ist ihr eine kleine, feine Fingerübung gelungen, die mit wenigen Mitteln eine drohend-düstere Stimmung evoziert, dabei aber nicht vergisst, dass der Text auch lustig ist. So stupst und stößt Schlingmann Tschechow, mal behutsam, mal recht grob, in die Gegenwart.
Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsche Übersetzung von Elina Finkel
Regie: Dagmar Schlingmann, Bühne und Kostüme: Sabine Mader, Musik: Alexandra Holtsch, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Saskia Petzold, Larissa Semke, Gertrud Kohl, Tobias Beyer, Johannes Kienast, Robert Prinzler, Mattias Schamberger, Vanessa Czapla, Heiner Take, Joshua Seelenbinder.
Premiere am 22. November 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Von "starkem Schauspielertheater" spricht Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (25.11.2019). Was die Inszenierung für ihn vor allem sehenswert macht, ist ihr Gespür für die unglücklichen Figuren. Das tröstet den Kritiker auch über einige, aus seiner Sicht überflüssige Aktualisierungen dieser "athmosphärisch gediegenen, auf das Wesentliche konzentierten" Inszenierung hinweg.
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(Vielen Dank, wir haben die Angaben im Besetzungskasten daraufhin ergänzt.
jnm für die Redaktion)