Leichen pflastern seinen Weg zum Ich

von Verena Großkreutz

Heilbronn, 23. November 2019. Was? Gretchen "ist gerichtet"? Fehlt da nicht noch was? Am Heilbronner Theater spart sich Malte Kreutzfeldt Gretchens finale Erlösung durch Gott. Mephisto behält das letzte Wort. Eine "Stimme von oben" meldet sich nicht. Stattdessen fällt von dort ein riesiges weißes Leichentuch herunter und bedeckt den Großteil der Bühne. Das letzte einer Reihe suggestiver, überraschender Bilder, die Kreutzfeldts textlich gestraffte "Faust I"-Inszenierung so stark, so brillant macht.

Gott und Teufel sind verbannt

Eine höhere Gewalt spielt an diesem Abend keine Rolle. Die Wette zwischen Gott und dem Teufel, der "Prolog im Himmel", wurde mit dem "Vorspiel auf dem Theater" ins Foyer verbannt. 10 Minuten vor dem eigentlichen Beginn spielt sich dort ein Komödchen ab: Der Beelzebub erscheint mit kleinen roten Hörnchen, und Gott mit weißem Ansteck-Rauschebart. Ein Erzengel mit Heiligenschein-Haarreif macht ordentlich Lärm mit dem Donnerblech. Witzfiguren. Erinnerungen an eine ferne Zeit. Auf der großen Bühne geht es dann ernst zur Sache. Gott und Teufel sind verbannt.

Faust 560a CandyWelz uGefühl ist alles: Stefan Eichberg als Faust mit Romy Klötzel als Gretchen © Candy Welz

Faust ist nicht allein in seinem Studierzimmer. Eine Menge Leute tummeln sich dort, blättern in Büchern, alle wie Faust in dunklem Anzug und mit Hut auf dem Kopf. Der "Habe nun, ach!"-Monolog zerfällt in einen unruhigen Chor vieler Stimmen. Sprachmusik. Aus der Buchstaben-Ursuppe kristallisiert sich nur langsam der Text heraus, um schließlich in einen ersten klar artikulierten Satz zu münden: "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält!" Mit der Welt ist an diesem Abend Fausts Ich gemeint.

Viele Fauste und ein Zauberschwanz

Immer mehr Fauste, Frauen und Männer, eilen auf die Bühne, angekündigt durch hektisches Türklingeln. Es ist eine große Gruppe, die schließlich Faust spiegelt, als er den Hut hebt. Sie verdünnisiert sich, als sich ein Faust-Doppelgänger der ganz besonderen Art in den Vordergrund schiebt: einer mit einem gelegentlich obszön zur Schau gestellten, blutroten – nennen wir ihn – Zauberschwanz. Er hat ihn sich um den Leib gebunden, mal schlägt er damit das störende Kreidekreuz von Fausts Jackett, mal bohrt er damit in Auerbachs Keller ein Loch in den Boden, um die Studenten nicht mit Wein, sondern mit einer Riesenqualmwolke zu beglücken.

Mephisto ist hier ein Ich Fausts (und nicht wie im Original ein Gegenspieler Gottes). Oliver Firit ist körperlich ein sinnlicher Mephisto. Klar, er verleiht ihm auch böse, ja, zuweilen brutale Züge, aber durchaus auch ängstliche. Trotz starker Sprüche erscheint er nicht unbedingt intellektuell, dafür umtriebig. Was schafft Mephisto nicht alles heran fürs erste Stelldichein Fausts mit Gretchen: einen hübschen Herz-Luftballon, rote Rosen, eine riesige Leiter, auf der Faust – nun in Unterwäsche – fenstert, hinauf zu einem magischen Dreieck, in dem nicht Gottes Auge steckt, sondern die enge Kammer der Angebeteten. Dort oben, in luftiger Höhe, wird Faust später Gretchen schwängern – direkt neben ihrer sterbenden Mutter.

Teuflicher Pakt mit sich selbst

Der teuflische Pakt ist einer mit sich selbst. Faust, den Stefan Eichberg als grübelnden, durchaus liebesfähigen und reflektierten Mann spielt, muss Mephisto als den zerstörerischen Trieb in sich akzeptieren, allein schon wegen der ungeheuren Dynamik, die er in sein Leben bringt. Manchmal verknoten sich ihre Körper, dann schiebt Mephisto seinen Arm unter den Achseln Fausts durch und reicht Gretchen den vermeintlichen Schlaftrunk für die Mutter. Und am Ende, in ihrer Todeszelle, schmiegt sich Gretchen an Mephisto, während Faust auf sie einredet, doch zu fliehen. Romy Klötzel gibt eine beeindruckende Vorstellung als Gretchen, stark in ihrer emotionalen Kraft, mit der sie wahrhaftige Liebe, Verzweiflung, Todesangst zum Ausdruck bringt.

Das Bühnenbild entwarf Regisseur Malte Kreutzfeldt gemeinsam mit Nina Sievers © Candy WelzWölbt sich der Himmel nicht da droben? Das Heilbronner Bühnenbild entwarf Regisseur Malte Kreutzfeldt gemeinsam mit Nina Sievers © Candy Welz

Das Bühnenbild lässt eine düstere Welt erstehen, nutzt die diffuse Weite der Hinterbühne. Eine Art geodätische Kuppel – die Welt, die Mephisto und Faust bereisen und beklettern – dominiert oft den Raum. Die vordere Bühne ist fast leer, schiebt sich ein paar Mal nach oben und legt eine zweite Ebene frei, sehr eindrucksvoll etwa in der Hexenküche-Szene: Hinter Glas, in bläulich eisigen Farben, scheinen Körper mitten in der Bewegung eingefroren zu sein. Sie "tauen" erst auf, als Mephisto die Klappe oben öffnet und hinuntersteigt, Licht und Leben hineinbringt, inklusive eines robusten Quickies mit der Hexe. Der Zaubertrank, den Mephisto aus dieser Unterwelt – dem Unbewussten Fausts? – mitbringt, ist wirkungslos. Er verjüngt Faust nicht, schläfert ihn bloß ein. Faust bleibt, wer er vorher war: ein drahtiger Mittfünfziger. Alles andere entspringt seinem Wunschdenken.

Der Preis der Egozentrik

Malte Kreutzfeldt hat den Szenen leise melancholische Klänge unterlegt, einige Male etwa Samuel Barbers Streicher-Adagio. Es ist ja eine finstere Geschichte. Leichen pflastern Fausts Weg der egozentrischen Ich-Findung. Auch Gretchens Bruder muss dran glauben. Drei Minuten lässt Mephisto den Geschwistern Zeit, sich zu verabschieden. Ein digitaler Zeitmesser zählt unbarmherzig die Sekunden herunter, dann bricht Mephisto dem Mann das Genick.

In Kreutzfeldts Deutung kann sich Faust nicht herausreden, Spielball himmlisch-höllischer Kräfte zu sein. In ihm selbst vollzieht sich der Widerstreit zwischen produktiven, schöpferischen und unproduktiven, destruktiven Kräften. Oder wie es Erich Fromm ausdrücken würde: zwischen biophilen und nekrophilen Eigenschaften, zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung. Das macht Faust so heutig, das macht ihn modern.

 

Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Fassung von Malte Kreutzfeldt
Regie und Musik: Malte Kreutzfeldt, Bühne: Malte Kreutzfeldt, Nina Sievers, Licht: Carsten George, Kostüme: Christine Hielscher, Dramaturgie: Mirjam Meuser.
Mit: Stefan Eichberg, Oliver Firit, Romy Klötzel, Johanna Sembritzki, Frank Lienert-Mondanelli, Sabine Unger, Sven-Marcel Voss, Marek Egert, Ensemble & Statisterie: Bianca Deli, Daniela Drewnick, Lilly Eichberg, Karin Epli, Sofie Grajqevci, Viktoria Grosskinsky, Kerstin Haberling, Bettina Himmelsbach, Andrea Keppler, Mirjam Kuhn, Anna-Sophie Laukhuf, Matilda Martinez, Katarina Mooudi, Ursula Theiss; Roland Epli, Thorsten Kleinert, Jörg Benjamin Müller, Ottokarl Theiss, Robert Zapatka.
Premiere am 23. November 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

Von einer "eigenwilligen Inszenierung", die vor allem durch die schauspielerischen Leistungen und seine Optik begeistert und einem "Abend der eindrucksvollen BIlder", spricht Andreas Sommer in der Heilbronner Stimme (25.11.2019). Nicht alle Regieeinfälle findet der Kritiker überzeugend. Am grundsätzlich positiven Eindruck, den Sommer von diesem "diskussionswürdigen, nie langweiligen Abend" hat, ändert das nichts.

Bemerkenswert und gelungen findet Arnim Bauer von der Ludwigsburgr Kreiszeituung (25.11.2019) die Inszenierung. Tragendes Element ist aus Sicht des Kritikers, dass Faust gegen seine eigenen Dämonen und keine finsteren Mächte von außen kämpft, Dadurch erhält das alte Drama für ihn "tatsächlich eine neue Dimension". Insbesondere die Hauptdarsteller, aber auch das übrige Ensemble werden sehr gelobt. Auch die "aufwändig und opulent gestalteten Bilder", die mal etwas albern dann wieder sehr fantasievoll seien, tragen zum positiven Gesamteindruck des Kritikers bei.

 

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