Beim jüngsten Gericht

von Falk Schreiber

Berlin, 5. Dezember 2019. Eigentlich kann einem nichts besseres passieren als von hier vertrieben zu werden. Ständige Nacht prägt Nehle Balkhausens Bühne, wenn keine Nebelschwaden durch die Dunkelheit ziehen, plätschert Sprühregen, dunkler Ambient dröhnt aus Bert Wredes Synthesizern, und die Mitmenschen sind verschlossen und unfreundlich. Man möchte weg, allein, man kann nicht: "Und wenn I dann aufsteh beim jüngsten Gericht, dann steh I da, und kenn niemand, und mi kennt niemand!", klagt der todkranke Alt-Rott (Josefin Platt).

Exil oder Konfessionswechsel

Weggehen bedeutet, beim jüngsten Gericht ganz hinten in der Reihe zu stehen, Vertreibung heißt ewige Verdammnis, aber die katholische Staatsmacht lässt den Protestanten in dem düsteren Alpental nur die Wahl zwischen Exil und Konfessionswechsel. Letzteres aber ist auch keine Alternative, weil das Bekenntnis in der lutherischen Lehre zentral ist: "Bekenne! Bekenne! schreits durch die ganze Schrift", steht in der Luther-Bibel, der Schwur auf die katholische Lehre käme einem Fehlglauben gleich – ewige Verdammnis auch hier.

GlaubeundHeimat 02 560 foto MatthiasHorn uDunkles Tal: Das Ensemble im Bühnenbild von Nehle Balkhausen © Matthias Horn
Karl Schönherrs 1910 entstandenes Volksstück "Glaube und Heimat" erzählt von den Zillertaler Inklinanten, 427 Protestanten, die im 19. Jahrhundert im Tiroler Zillertal siedelten und 1837 von Kaiser Ferdinand I. zum Exil gezwungen wurden. Der Autor verlegt die Handlung allerdings in eine dunkle Vergangenheit mit Zügen der Gegenreformation – gezeigt wird eine nicht genau definierte Gewaltherrschaft, die keine Scheu hat, Familien auseinanderzureißen und Gegenspieler zu foltern. Michael Thalheimer macht in seiner Inszenierung am Berliner Ensemble im Grunde nichts anderes, als die Ortlosigkeit der Vorlage noch weiterzudrehen: Dass es hier um einen Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten geht, wird gerade mal beiläufig erwähnt, eigentlich soll nur der Nachbar um die Ecke gebracht werden, denn Großgrundbesitzer Englbauer (Tilo Nest) steht schon bereit, den verwaisten Hof zu übernehmen. Thalheimer erzählt diese so grausige wie nachvollziehbare Geschichte schnell, mit Sinn fürs blutige Detail. Alles ist hier böse, der sadistische Rechtsvollstrecker (Ingo Hülsmann) ebenso wie die heimliche Protestantin (Stefanie Reinsperger), die, um jeglichen Verdacht von sich abzulenken, besonders heftigen Hass gegenüber ihren Nachbarn markiert.

Im runden Vaterunserloch

Ein Thalheimer-Horrorkabinett der schönsten Sorte ist das also, lauter gebrochene oder brechende Wesen, die ihren in einer seltsam künstlich wirkenden Mundart geschriebenen Text in die trostlose Umgebung ausspeien. "I hab a viereckige Seel", ätzt Alt-Rott einmal, "die kann no nid aus dem runden Vaterunserloch." So reden sie hier, eine Sprachpraxis, die so kaputt ist wie das dörfliche Zusammenleben. Einziger Sympathieträger ist Christoph Rott, ein Bauer, der weder seinem protestantischen Glauben abschwören will noch sich von seiner Umgebung abwenden – eine Paraderolle für Andreas Döhler, der wie kaum ein anderer Schauspieler den vierschrötigen, einfach gestrickten Typen mit Herz am rechten Fleck verkörpern kann. Nur hat so jemand keine Chance, nicht bei Schönherr, nicht bei Thalheimer (und wahrscheinlich auch nicht in der Realität); selbst als er sich auf das Exil einlässt, spielt die Staatsmacht noch eine fiese Volte aus, die ihm auch diesen Ausweg unerträglich machen muss.

GlaubeundHeimat 09 560 foto MatthiasHorn uTilo Nest, Andreas Döhler, Martin Retzsch, Stefanie Reinsperger, Laura Balzer, Josefin Platt © Matthias Horn
Der in seiner szenischen Wucht und erzählerischen Stringenz beeindruckende Abend bleibt freilich historisch – "Glaube und Heimat" ist einerseits die stimmigste Thalheimer-Arbeit seit langem, sie ist allerdings auch die verstaubteste. Auf der dunklen Bühne dreht sich immer wieder ein riesiger Quader: eine Felswand an einer Bergflanke des Zillertals? Eine Mauer, hinter der die Figuren gefangen sind? Ein großer, dunkler Quader erinnert auch an eine ganz konkrete Architektur: an die Ka'aba in Mekka, das zentrale Heiligtum des Islam. Hier öffnet die Inszenierung tatsächlich einen Bedeutungsrahmen zu einer realen, in ihren gewalttätigen und grausamen Folgen dem hier Geschilderten vergleichbaren Religionsspaltung: der Spaltung zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen.

Aber das ist eine Spur, die die Inszenierung nicht weiter verfolgt, im Gegenteil schreibt Bernhard Schlink für das Programmheft einen Aufsatz, in dem er die Menschheit leichterhand als Vertreibungsspezies skizziert und ohne jegliche Differenzierung Deutsche in Ostpreußen, Palästinenser in Israel und Rohingya in Myanmar gleichsetzt. Wer Aktualisierungen so unbedarft in den Raum stellt, der kann es auch gleich bleiben lassen. Denn was der Abend tatsächlich schafft, ist eine Aktualisierung, die gar keine klaren Bezüge braucht: Jenseits des Themas, wer wen vertreibt, steht die Frage im Raum, was eigentlich aus den Gestalten wird, die hier zur Flucht gezwungen werden. Und wenn man erkennt, dass die Fliehenden diejenigen sind, die am wenigsten für die verfahrene Situation können, dann ist "Glaube und Heimat" überraschend im Europa der Gegenwart angekommen.

Glaube und Heimat
von Karl Schönherr
Regie: Michael Thalheimer, Bühne/Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Andreas Döhler, Stefanie Reinsperger, Josefin Platt, Laura Balzer, Jonathan Kempf, Martin Rentzsch, Kathrin Wehlisch, Tilo Nest, Barbara Schnitzler, Gerrit Jansen, Ingo Hülsmann, Veit Schubert.
Premiere am 5. Dezember 2019
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de



Kritikenrundschau

Von einer "phänomenalen Inszenierung" berichtet Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.12.2019). In seiner Doppelbesprechung mit "Der Henker" am Akademietheater Wien heißt es: "Thalheimer inszeniert die kammerspielartige Volkstragödie hochkonzentriert als bedrohliche Studie über die Grausamkeit des Glaubenskampfes. Ohne einen großen ästhetischen Überbau, so psychologisch feinfühlig wie selten, zeigt er, was es einmal bedeutet hat, sich zu seiner Konfession zu bekennen."

"In aller zynischen Verlässlichkeit finden bei Thalheimer das operettenhafte Posengegockel des amtierenden Bösewichts, das virtuose Auszappeln von Theatertoden und ein paar Ekeleffekte Anwendung", winkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 6.12.2019) ab. "Ein bisschen schwankhaftes Volkstheater mit In-die-Hände-Spucken, Rotz-Abhusten und Schweiß-von-der-Stirn-Wischen gehören ebenso zum Programm." Immerhin gebe es "Räume, die die Schauspieler wieder selbst mit ihrer Kunst füllen können, anstatt dass ihnen die Installationen regielich organisierte Qualen abquetschen."

Für Katrin Bettina Müller von der taz (7.12.2019) "bleibt die Inszenierung im Luftleeren hängen. Die Schauspieler wirken wie verstellt in den kantigen, bäuerlichen Typen, das Pathos wie falsches Theater. Dabei konnte Thalheimer einmal sehr gut die Emotionen schlank und überraschend herausschälen aus Texten, deren Sprache nicht mehr geläufig ist. Jetzt aber pinselt er mit einer Wucht, die den Kern nicht mehr hervordringen lässt."

Die Sprache Schönherrs schaffe hier ein Stück, "dessen tränensatte Tragik und jammerreiches Pathos immer wieder in eine archaische Absurdität und verzweifelte Komik kippt: Sätze wie Axthiebe, verstümmelt, verknappt und abgebrochen, Fragmente des Gedachten und ausgekotzt bisweilen – Männer und Frauen am Rand der Sprachlosigkeit, dem Verstummen näher als dem Schrei nach Hilfe." So beschreibt Bernd Noack für Spiegel Online (6.12.2019) das Drama, das von Thalheimer "nicht interpretiert, nicht hinterfragt und schon gar nicht mit irgendwelchen Verweisen auf Aktualität in die Gegenwart geholt" werde. "Aus der Dunkelheit steigt nur eine Ahnung herauf: längst ist das nicht überwunden, wovon das Stück erzählt."

"Thalheimer ist kein Mann leichter Stoffe und leichtfüßiger Inszenierungen. Das zeigt sich auch hier wieder in aller Konsequenz. Zügig und unerbittlich peitscht der Score voran, dreht sich der Quader weiter, nimmt das Verderben seinen Lauf." So berichtet Fabian Wallmeier für rbb|24 (6.12.2019). Durch die akzentuierte Übertragung ins Hochdeutsche entstehe an diesem Abend eine "Künstlichkeit", die zum einen eine "gewisse Distanz" zum Geschehen garantiere, "zum anderen gewinnt der Text dadurch eine Dringlichkeit, die über seine zeitliche und räumliche Verortung hinausweist."

Karl Schönherrs melodramatisches Stück biete mit jedem Auftritt einen "Frontalangriff auf die Tränendrüsen", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (7.12.2019) und vermutet, dass Michael Thalheimer mit dieser Parabel über Heimat und Vertreibung "geradewegs in die Diskursgegenwart vordringen will". Allerdings tauge das Drama "in seiner Holzschnittartigkeit und seinem schwer zu ertragenden Pathos" eher nicht für die "dramatische Auseinandersetzung mit aktuellen Flüchtenden-Tragödien".

"Dass die Nazis Schönherrs Werke schätzten, war völlig verdient und alles andere als ein Missverständnis. Kein Wunder, das sich der Dramatiker im Alter problemlos mit ihnen arrangieren konnte. Dass ausgerechnet das Berliner Ensemble jetzt sein damaliges Erfolgsstück 'Glaube und Heimat' von 1910 aufführt, ist eine bizarre Spielplanentscheidung", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (9.12.2019). "Natürlich ist der Regisseur Michael Thalheimer auch in dieser wohlig in den schaurigen Freuden der Archaik badenden Inszenierung ein Könner und großer Wirkungstechniker, der mit einem Hochleistungsensemble ohne Umwege auf den Schmerzpunkt, den Konflikt, den Moment größtmöglicher Heftigkeit zusteuert." Thalheimer pflege "seit langem durchaus mit Lust am Abgrund ein düsteres Menschenbild, das unter der Oberfläche der Zivilisation stets die Barbarei und das enthemmte Tier vermutet", so Laudenbach. "Diese Faszination an der Bestialisierung der Menschen geht mit Schönherrs Blut-und-Boden-Dramatik eine ungute Allianz ein. Das Ergebnis ist fatal."

Bei Thalheimer gehe es immer um das Drama der Existenz schlechthin, schreibt Michael Wolf im Freitag (12.12.2019). Erkenntnis sei bei ihm gleichbedeutend mit der Einsicht in den Ursprung des Menschlichen: die Schwäche. "Er ist ein Großmeister des Negativen, der Tristesse und Depression." Umso überraschender komme das Ende dieses Abends. "Indem Rott keine Rache übt, erhebt er sich hier über die Gewalten, die seine Welt bestimmen."

 

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