Mitleid gegen die Wut

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 6. Dezember 2019. Das Geräusch von Bleistift auf Papier. Setzt Stephanie Mohr an den Anfang ihrer Inszenierung von Peter Handkes "Immer noch Sturm". Handke-Schreibutensilien-Fetischismus am Handke-Geburtstag vor Handke-Nobelpreisrede inmitten von Handke-Debatte. "Oh Gott!", soll es Mohr entfahren sein, als die Schwedische Akademie kurz vor Probenbeginn die Entscheidung veröffentlichte. Diese Premiere hat Rampenlicht.

Die den hoh(l)en Ton bändigen

Im "typischen Jaunfeldschritt" wanken die Schauspielenden auf die Bühne. Apfelbaum und Bank fehlen, dafür Mikrofone und Lautsprecher noch und nöcher. Die arkadische Gegend, in die Handke seine 2010 veröffentlichte Familienaufstellung hinein träumt, wird bei Mohr und Bühnenbildner Florian Parbs zu einer Klangkörper-Landschaft. Ein kärntnerisches Jaunfeld nur aus Sprache bzw. aus Sprach-Verstärkern. Das kommt dem anderen Handke-Fetischismus entgegen. "An unserer Sprache sind wir alle Versammelten hier zu erkennen", heißt es gleich. Abgesehen von Passagen auf Slowenisch handelt es sich bei dieser "unserer Sprache" um ein sich vom Deutschlanddeutsch abgrenzendes Österreichisch: "Wer 'Schrank' sagt statt 'Kasten', 'Jacke' statt 'Rock', und 'Kàffe' statt 'Kaffee', der hat schon die Heimat verloren. Und wer Wörter wie 'Preiselbeeren' und 'Frühapfel' in den Mund nimmt, wird nie ein Henker sein".

ImmerNochSturm 1 560 PetraMoser uLauscht beim Sprechen Handkes Sprache: das Linzer Ensemble © Petra Moser 

Esoterische, anti-kosmopolitische, scheinheilige Sätze. Deren Selbstherrlichkeit, wenn Lutz Zeidler sie als Großvater spricht, plötzlich verpufft. Er wettert gegen "Laufen statt Gehen", geballte Fäuste und hochroter Kopf, dieser Großvater meint das alles gar nicht so, der hat Freude an seiner Wut. Das Ensemble bändigt den hohen, hohlen Ton und setzt Fragezeichen, wo keine notiert sind, Ironie, wo keine zu erahnen ist. In zeitlicher Verzögerung zu den ausgesprochenen Regieanweisungen treten die angekündigten Bilder in Überzeichnung auf. Katharina Hofmann kramt als Großmutter ihr Strickzeug wirklich ausgesprochen umständlich hervor. Anna Rieser, soeben mit dem Nestroy als Bester Nachwuchs ausgezeichnet, singt ganze Passagen mehr als dass sie spricht, durchlüftet dadurch penetrante Endreime mit Heiterkeit. Sie spielt die Mutter. Der als "Ich", also als Handke, Christian Higer gegenübersteht.

Apfelevangelisten-Partisan in Rage

Aufmerksam lauscht er den Ausführungen seiner Ahnen, springt mal dazwischen oder schreibt fleißig mit. 1936 war ein gutes Jahr, 1942 ist Krieg. Der Erwachsene begegnet seiner mit ihm schwangeren Mutter und zuckt erschrocken zurück. Als agiles Zentrum der Inszenierung bleibt Higer für die beschreibenden, vorwärts treibenden Passagen sanft und suchend, zwar mit Handke-Brille, aber jedenfalls nicht wie einer, der von Tolstoi kommen will.

ImmerNochSturm 2 560 PetraMoser uDie Umgangsformen werden nach der Pause rauer © Petra Moser

Doch nach der Pause kippt die Stimmung. Der Krieg ist vorbei. Zwei Brüder und eine Schwester tot, die Handke-Mutter auf der Suche nach einem Vater für das mittlerweile geborene Kind. Nur Gregor, der älteste Bruder, der in Maribor an der Obstbauschule zum Apfelevangelisten Gewordene, der Partisan, kehrt heim. "Und dann ist der gute Friede in einen bösen umgeschlagen", muss Higer seinem Kollegen Julian Sigl, plötzlich giftig, das Stichwort liefern. Die beiden sitzen wie die letzten "Mohikaner" auf einem Lautsprecher und sprechen sich in Rage. Gegen eine erneute Unterdrückung des Slowenischen in Kärnten, gegen das Vergessen, dass die "Partisanen den einzigen organisierten militärischen andauernden Widerstand innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reichs leisteten", aber auch gegen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, gegen die Engländer, "die ihr euch hier bei uns ärger aufführt als je in euren Kolonien".

Teufel, die Engel spielen?

Der Schriftsteller Handke, der in "Immer noch Sturm" (und immer überall) Masken, Allgemeinheiten und Rechnungen verabscheuen und genuine Sprache sprechen will, rechnet in der Prosa-Fassung mal schnell englische Kolonialgeschichte gegen Geschichte der Kärntner Slowenen in der Besatzungszeit. Nationalsozialismus verblasst vor weltweitem Westen: "Die Teufel seinerzeit wussten wenigstens, dass sie Teufel waren. Die heutigen Teufel dagegen spielen Engel", spuckt Sigl als Gregor aus. Solch befremdlichen Inhalten kann die Inszenierung keine Unschuld mehr entlocken. Der Text beharrt darauf, dass Tragödie erst dann möglich ist, wenn Handlung war, und beharrt darauf, dass Handlung erst war, als die Partisanen waren. Insofern gibt's erst am Ende einen eigentlichen Gegenspieler: die Engländer.

Die Wut der letzten Bilder dämpft Regisseurin Mohr in einer mitleidigen Geste. Noch einmal versammelt sich die ganze Familie. Sie stehen hinter einer Glaswand und blicken auf den von ihnen getrennten Handke. Sie singen: "I hab ka Mutter mehr, i hab kan Vater mehr". Gerechtigkeit für Handke, das verlassene Kind? Und überhaupt, wie war denn nun der Theaterabend? Ein Geburtstagsgeschenk.

 

Immer noch Sturm
von Peter Handke
Inszenierung: Stephanie Mohr, Bühne: Florian Parbs, Kostüme: Nini von Selzam, Musik: Wolfgang Schlögl, Dramaturgie: Andreas Erdmann.
Mit: Christian Higer, Anna Rieser, Katharina Hofmann, Lutz Zeidler, Julian Sigl, Benedikt Steiner, Gunda Schanderer, Markus Ransmayr.
Premiere am 6. Dezember 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.landestheater-linz.at

 

Kritikenrundschau

Mohrs tadellose Inszenierung könne sich einer gewissen Eintönigkeit nicht erwehren. "Manchen Darstellern mangelt es darüber hinaus an Zwischentönen, an einer Leichtigkeit im Reden, die bei Handke und seinen 'Apfelmenschen' und 'Holzpantoffelklappergespenstern' allzeit vonnöten ist. Aber auch die Regisseurin zögert bei Variationen und weicht – auch zu Recht – vor allzu viel Verspieltheit zurück", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (8.12.2019).

"Absolut sehenswert!" Handke erzähle die Familiengeschichte auf eine starke, intensive, gekonnte und zutiefst einnehmende Art, schreibt Mariella Moshammer vom Volksblatt (8.12.2019). "Der wunderbare Text von Peter Handke bekommt bei Mohr den Platz, den er verdient. Die spinnennetzartigen Verwebungen, die das Leben des 'Ich' zeichnen, die in sprachlichen Konstrukten fürs Publikum hörbar werden, bringen die acht Darsteller be- und greifbar auf die Bühne."

 

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