Vom Aufleuchten der Wirklichkeit

von Esther Boldt

12. Dezember 2019. Zwanzig Jahre Rimini Protokoll. Zwanzig Jahre unbeirrte, akribische, oft verblüffende Recherchen in Wirklichkeitsräumen. Zwanzig Jahre eigenwilligen, stilprägenden Theaterschaffens – mit Expert*innen des Alltags, mit Menschen Tieren und Robotern. Und: Zwanzig Jahre Rimini-Rezeption. Ein Parforceritt durch eine, durch meine Seherfahrung.

Tourette wird Theater

Einige letzte Seheindrücke: Benjamin Jürgens in Chinchilla Arschloch waswas (2019), der schon beim Einlass schnalzt, miaut und pfeift, und dessen Tourette-Tics geeignet sind, jederzeit unliebsame Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ins Theater geht der gelernte Altenpfleger eigentlich nicht: "Viele Reize, viele Konventionen, viele Regeln." Doch das Theater von Rimini Protokoll (hier: Helgard Haug) strebt ja ohnehin danach, inszenierte Rahmungen zu ersetzen, zu versetzen. So machen sich drei Männer mit Tourette-Syndrom daran, das Format 'Theater' zu strapazieren, zu dehnen – und es für sich zu nutzen, ihre eigenen Spielregeln zu erfinden.

chinchillaarschloch 560 c robert schittko u"Chinchilla Arschloch waswas" am Mousonturm Frankfurt 2019 © Robert Schittko

Und dann: Saß da Thomas Melle auf der Bühne. Saß da Thomas Melle auf der Bühne? Der Schriftsteller wurde bekannt mit seinem umstrittenen Roman "Die Welt im Rücken", in dem er recht schonungslos von seiner bipolaren Störung erzählt. Seine Furcht vor dem Kontrollverlust wird in ein absolutes Kontrollmoment überführt: Denn anstelle des Autors sitzt in Stefan Kaegis Uncanny Valley (2018) ein Roboter auf der Bühne, ausgestattet mit den Silikonabgüssen von Melles Gesicht und seinen Unterarmen. Und wirft die Frage auf, ob das jetzt eigentlich noch Theater ist, wenn die Zuschauerin sich einer Maschine gegenüber wiederfindet, die nicht atmet. Wo hört der Mensch auf, das Menschliche, wo sind wir mit unseren technischen Prothesen, mit Brille, Hörimplantat, Smartphone und Alexa, immer schon Androiden? Und wie, fragt sich die Kritik, ist die performative Qualität des Apparates zu bewerten (aus dessen Hinterkopf, Spoiler!, Kabel herausragen)? Da hilft nur, "Ich" sagen:

"Mit wachsendem Bewundern betrachtete ich diesen Herrn Melle, der – je mehr er von ‚authentisch und falsch‘ redete, von künstlichen Geschöpfen und davon, dass ‚psychisch Kranke sich selbst oft als Computer wahrnehmen‘ – immer verblüffender einem Cyborg oder Avatar ähnelte […]." Michael Skasa: Alles wackelt. Die Zeit, 10.10.2018

 

Und dann, weiter: Der akribisch gebaute Raum von "Evros Walk Water" (2015), eine spielerische Versuchsanordnung mit Wasserbecken, Gong und anderen Klangangeboten von Daniel Wetzel, in der die Hörer*innen zu Performer*innen werden – denn die geflüchteten Kinder und Jugendliche, mit denen der Abend in Athen entstand, dürfen nicht mit ihm auf Reise gehen. So wird das Publikum zu Musizierenden auf der Spur von John Cages "Water Walk", zu Stellvertretenden derer, die es nie gesehen hat, deren Sprache es nicht spricht, deren Körper es nicht kennen. Und, nicht zuletzt: zu Zeug*innen ihrer Geschichte(n).

In Gießen gegründet

Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel sind, allein und gemeinsam am Werk, Rimini Protokoll. Ein Regiekollektiv: Anders als die Gießener Zeitgenoss*innen von She She Pop beispielsweise oder von Showcase Beat Le Mot betreten die drei ihre Bühnen nie selbst, sondern bereiten sie stets anderen – und bedienen sich dabei häufig, auch das ist Teil ihres Erfolgsmodells, klassischer Erzähl-Dramaturgien. Das Aufleuchten der Frankfurter Straßenbeleuchtung wurde, beispielsweise, schon 1998 zum End- und Höhepunkt der Stadtraum- und Stromnetz-Recherche "Alles zu seiner Zeit" (da arbeiteten Helgard Haug, Daniel Wetzel und Marcus Droß unter dem Label "Ungunstraum" zusammen).

"Wir haben gelauscht und gelacht, geguckt und gekichert, viel gelernt über den Strom und wussten auch auf der Rückfahrt noch immer nicht, was nun passiert war." Dirk Fuhrig: Der Letzte macht das Licht an. Frankfurter Rundschau, 16.5.1998

 

KaegiHaugWetzel 560 c DavidvonBecker uRimini Protokoll sind: Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel © David von Becker
"Kreuzworträtsel Boxenstopp", die erste gemeinsame Performance von Haug/Kaegi/Wetzel, kam Ende 2000 auf die Bühne des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturm: Hier versahen sie vier alte Damen aus dem benachbarten Wohnstift mit den Biografien von Formel-1-Pilotinnen, brachten Zeitvertreib und Höchstgeschwindigkeit, Erinnerung und technische Details des Rennsports behutsam-lustvoll zusammen. Ich erinnere mich an: Theaternebel, den würdevollen Witz der Frauen und die Verblüffung, diese vier, hier und jetzt, eingespannt in eine Bühnenerzählung zu sehen.

Bühnenräume auch abseits der Theater

Recht bald wurde die Arbeit von Rimini Protokoll begleitet von einer breiten Presse-Aufmerksamkeit, von einem öffentlichen Diskurs, der sich rieb an der Besonderheit ihrer Arbeitsweise, am selbstbewussten Gestus wohl auch, an den offensiv gesetzten Themen und besetzen Räumen – seien es der ehemalige Bonner Plenarsaal in "Deutschland 2" (2002) oder der urbane Raum in diversen Audiowalks und Bustouren; seien es, immer wieder: Bühnenräume, auch an Stadt- und Staatstheatern, in denen sie ihren bald schon zum stehenden Begriff gewordenen "Expert*innen des Alltags" Platz machten (und machen), um hier beispielsweise über "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" (2007) zu sprechen. Oder über Pränataldiagnostik (Qualitätskontrolle, 2013) oder Klimapolitik (Welt-Klimakonferenz, 2014).

Mnemopark 560 c SebastianHoppe h"Mnemopark" in Basel 2005 © Sebastian Hoppe

Das Besondere der Arbeiten von Rimini Protokoll ist, immer: Die Verbindung zum Theater selbst, zu seinen Möglichkeiten, zu den Bedingungen des öffentlichen Erscheinens. Das ist wohl der große Reiz – sowohl für jene, die die Strapazierung des Rahmens genossen, als auch für die, die sie reizte, herausforderte –, dass sie die Bühne als Repräsentationsraum für Menschen öffnen, die hier sonst nicht vorkommen. Für geflüchtete Jungs eben oder Menschen mit Tourette-Syndrom, für die vier Alten in "Kreuzworträtsel Boxenstopp" oder die Modelleisenbahnliebhaber in "Mnemopark" (2005). Mit ihnen wird der Bühnenraum zum Labor, zum Testraum, der gesellschaftliche Systeme oder Strukturen prüft – Beerdigungen, Computerspiele, Callcenter.

Systeme strapazieren

Was ist ein System? Und wie kann man – mit den Mitteln des Theaters – seine Möglichkeiten und Grenzen ebenso aufzeigen, in Bewegung versetzen wie die des Theaters selbst? Ihre "Expert*innen des Alltags“ sind dabei stets auch Agent*innen ihrer eigenen Agenda, die mitunter freudig auf Konfrontationskurs gebracht wird mit den Publikumserwartungen. Doch auch Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel scheinen das derartig fortgesetzte Strapazieren ihrer eigenen Systeme auszukosten – und erfinden immer neue Formen und Formate.

UnheimlichesTal 2 560 GabrielaNeeb uDer Schriftsteller Thomas Melle als Roboter in "Uncanny Valley" 2018 an den Münchner Kammerspielen © Gabriela Neeb

Von Anfang an irritierte die Frage: Wem begegnen wir im Theater von Rimini Protokoll? Wer ist unser Gegenüber? Die Regisseur*innen spielen mit der Verunsicherung, welche Regeln gelten, wenn alten Damen oder einem Roboter eine Bühne eingeräumt wird. Wobei man sich vom scheinbar entspannten Gestus des Einräumens nicht täuschen lassen darf – handwerklich ist das alles sehr gut gemacht, die Dramaturgie stimmt, der Text sitzt. Wahrscheinlich ist es das stetige Behaupten des 'Dazwischen', was Theaterkritik wie Publikum an ihre Grenzen bringt: Zwischen den Vertreter*innen spezifischer Lebenswelten und ihren virtuos inszenierten Rahmungen.

Manipulation im Audio Walk

In einer frühen Erinnerung pirsche ich durch die Straßen Gießens, auf den Spuren des verschwundenen Bibliothekars Kirchner. "Verweis Kirchner" war eine Detektivstory im Stadtraum in der ich, Anweisungen aus den Kopfhörern folgend, zugleich Verfolgerin und Verfolgte bin. Aber das war noch nicht Rimini Protokoll, das war "Hygiene Heute" aka Stefan Kaegi und Bernd Ernst. In den Audiowalks entwarfen sie ein System der Überwachung und Manipulation, dem es sich galt, zu entziehen – und so drückte ich mich, beispielsweise, an Häuserwänden entlang, um dem Blick der Kameras zu entgehen. Heute ist er nahezu überall, dieser Kamerablick, am Bildschirm auf meinem Schreibtisch ebenso wie in der U-Bahn, auf öffentlichen Plätzen und an Polizeiuniformen. Wir haben uns an das Gesehenwerden gewöhnt. Haben wir uns gewöhnt?

An Rimini Protokoll und ihre Mittel: durchaus. Mit hoher Produktivität, internationaler Bandbreite und einer klaren Verortung in zeitgenössischen Diskursen hat Rimini Protokoll Einfluss darauf genommen, wie Theater heute wahrgenommen wird. Ihre Nachahmer sind zahlreich. Expert*innen des Alltags sind auf Bühnen selbstverständlich geworden. Der Gang in den Stadtraum im Namen der theatralen Rück-Eroberung des öffentlichen Raums ebenso.

situation rooms 560 pigi psimenou u"Situation Rooms" bei der Ruhrtriennale 2013 © Pigi Psimenou

Bereits drei Mal wurden Rimini Protokoll zum Berliner Theatertreffen eingeladen: Mit "Deadline" (2003), "Wallenstein" (2005) und Situation Rooms (2013). 2007 gewann "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" den Mülheimer Dramatiker-Preis – eine Wahl, die die Gemüter erregte, weil sie Begrifflichkeiten wie Drama und Dramatiker*in zur Disposition stellte. Diesen Coup allerdings, der in der Konfrontation mit der 'anderen' Text- und Theaterform erst den (angenommenen, vorausgesetzten) Kontext der Mülheimer Stücke sichtbar machte, hätten sich Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi kaum besser ausdenken können.

"Das ist so gut gemacht, dass es einem erst später auffällt, wie viel Mühe es gekostet haben muss, dies alles aufeinander abzustimmen; und noch viel besser ist, dass die Theatermacher aufs ganz große Drama und aufs Belehrende verzichtet haben." Klas Libuda: Großer Theaterabend ohne Schauspieler. Rheinische Post, 21.6.2016

 

2008 folgte der Europäische Theaterpreis, 2011 der Silberne Löwe der Theaterbiennale in Venedig für das Gesamtwerk. Versuche, den Arbeiten von Rimini Protokoll mit bestimmten Begrifflichkeiten beizukommen, mit Realität und Fiktion, Schauspiel, Performanz und Postdramatischem, scheitern häufig. Oder besser: Sind nur als deskriptive, analytische Annäherungen zu verstehen. Auf die unerklärlichen Reste, auf das Surplus, auf Eigensinn und Eigenwert der künstlerischen Arbeit muss unbedingt bestanden werden. Denn in den besten Momenten spielen Labelling oder gar Branding natürlich ohnehin keine Rolle: Denn das Theater hält sich zum Glück nicht immer daran, erschöpft sich zum Glück nicht immer darin. Sondern wird diesen Zuschreibungen zuverlässig – entwischen.

 

Boldt kleinEsther Boldt, Jahrgang 1979, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin für Zeitungen und Magazine, verfasst Essays über zeitgenössisches Theater und ist in verschiedenen Jurys tätig. (Foto: Harald Schröder).



 

 

Eine große Werkschau der Arbeiten von Rimini Protokoll findet vom 21. Dezember 2019 bis Mai 2020 in Berlin statt. Beteiligt sind HAU Hebbel am Ufer, Maxim Gorki Theater, Haus der Kulturen der Welt, Berliner Festspiele und das Grips Theater.

 

 

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