Legende - Volksbühne Berlin
Fifi und die Schokoladenfabrik
von Janis El-Bira
Berlin, 11. Dezember 2019. Im Oktober 1980 sitzt Ronald M. Schernikau, gerade 20-jährig, in einer Talkshow des ORF. Seinen ersten längeren Text, die "Kleinstadtnovelle", hatte er da gerade veröffentlicht, die eingeblendete Bauchbinde apostrophiert ihn trotzdem noch immer als "Student", nicht als Schriftsteller. Unmöglich zu ahnen, dass dieser junge Mann, der langsam und sorgfältig komplizierte Sätze bildet, da bloß elf Jahre entfernt war von seinem frühen Tod an den Folgen von AIDS.
Doch schon hier umgibt Schernikau eine seltsame Schwermut, ein Hauch des Vergeblichen, wenn er sagt: Nichts, was er und seine Altersgenossen in den vergangenen Jahren politisch angestoßen hätten, habe irgendetwas am Selbstbewusstsein derer verändert, die man als "oben" ansehe. Es gäbe "keine Alternative zum Nichtstun", werde einem so beigebracht. Elf Jahre später und kurz vor seinem Tod erklärt der längst geoutete Schwule und bekennende Kommunist Schernikau schließlich: "Ich glaube nicht, dass ich in irgendeiner Weise eine Besserung erleben werde. Aber das bricht meinen Optimismus eigentlich überhaupt nicht."
Zwischen heiligem Ernst und Klamauk
Zwischen der Verzweiflung an den Verhältnissen und dem festen Glauben an ihre Veränderlichkeit spannt sich auch Schernikaus Hauptwerk, der kolossale Roman "Legende", an dem er die letzten acht Lebensjahre schreiben und dessen Veröffentlichung er nicht mehr miterleben durfte. Das Buch ist, was sein Titel verspricht: Legende. Ein fast tausendseitiges Ungetüm in elf Teilen, doppelspaltig gedruckt wie das Buch der Bücher. Um Götter geht es dementsprechend auch, die Fifi oder Tete, und um Menschen, die Janfilip Geldsack oder Anton Tattergreis heißen. Alles irgendwo zwischen hohem Ton und Schlagerzitat, heiligem Ernst und Klamauk, Ost und West, Kapitalismus und Kommunismus. Ein Blick auf die alte BRD aus DDR-Augen und umgekehrt. Ein Berlin-Blätterbuch.
Im Endkampf mit dem Osten: Ueli Jäggi als Schokoladenfabrikant Anton Tattergreis in der Projektion © Thomas Aurin
Dort, an der Volksbühne, hat Stefan Pucher "Legende" nun im Fahrwasser von dessen kommentierter Neuveröffentlichung beim Verbrecher-Verlag theatralisiert. Freilich ein Verheben mit Ansage – wenngleich eines der interessanteren Art. Pucher und Dramaturg Malte Ubenauf nämlich haben entdeckt, dass nicht eben wenig Theater in "Legende" steckt. Schernikau kleidet die Auf- und Abtritte seines riesigen Personals in mal knappe, mal seitenlange "Regieanweisungen"; die Schlaglichter, die der Text bald hier, bald dort hin wirft, ähneln oft genug szenischen Vignetten.
Kein Wunder auch, dass einzelne Episoden des Romans so für sich stehende Bekanntheit erreicht haben. "Die Frau im Kofferraum" etwa, jene Erzählung von Schernikaus Mutter und ihrem Weg in den Westen, die Sólveig Arnarsdóttir zu Beginn ganz schlicht, fast wie in kleinster Runde am Kneipentisch des Bühnenrands spricht. Oder das "Märchen vom Klohäuschen am Bahnhof Friedrichstraße", das gerne ein Zeitungskiosk wäre und doch bloß "die viele Pisse eines jeden Tages in seine Tiefen" hinabweinen muss.
Die Götter müssen einspringen
Selbst eine Art Rahmenhandlung haben Pucher und Ubenauf aus dem erratischen Strömen destilliert: Der Westberliner Schokoladenfabrikant Anton Tattergreis, von Ueli Jäggi wie ein Marthaler-Irrlicht in diesen ganzen Irrsinn hineingewundert, erspäht in der Schokoschwemmung des Ostens die Möglichkeit zum Endkampf mit einem Honecker-Look-Alike (Robert Kuchenbuch), unterdessen sein verzogener Sohn Janfilip Geldsack (Sebastian Grünewald) im Privatjet seiner kategorialen "Selbstauslöschung" durch die Heirat mit einer Kommunistin entgegenträumt. Die Götter, Fifi (Sylvana Sedding) und Co., müssen einspringen.
Von Engeln beschützt: das Ensemble spielt auf einer Bühne von Barbara Ehnes © Thomas Aurin
Das alles gäbe eigentlich hinreichend Stoff für schauspielerische Extravaganzen, bleibt aber doch mit einigen Ausnahmen (Katharina Marie Schubert toll aufgekratzt als klassenkämpfende Krankenschwester) oft ungenutzt im weiten Rund von Barbara Ehnes' videogespeister Plaste-und-Elaste-Bühne liegen. Vieles an diesem Abend ist Flächenvermessungsarbeit, seltsam steifhackig und auf Witz gedrillt die zahllosen Zerklüftungen und Abzweigungen des Textes überspringend. Und während die durchaus von Schernikau herrührenden An- und Abmoderationen der Auftritte zwar für lehrstückhafte Übersicht sorgen, verliert der Roman so sein Brodeln, seine Ungezogenheit.
Irrlichtern durch das Irrsinnswerk: Sebastian Grünewald, Ueli Jäggi und Katharina Marie Schubert © Thomas Aurin
Manchmal allerdings wird "Legende" dann plötzlich doch lebendig, hört man gebannt auf die Schönheiten der Schernikau-Texte. Am Ende zum Beispiel, wenn Nicolaas van Diepen als Schernikaus Alter Ego ein Kinderlied zu singen beginnt und schließlich der echte Autor – im Abendkleid, umwerfend grazil und ungeheuer verletzlich – per Videoprojektion erscheint, um die Zeilen zu Ende zu führen: "Es lebt der alte Glaube im Menschen unbeirrt, dass siegen wird die Taube, und einmal Frieden wird." Da gewinnt Puchers "Legende" im Zarten etwas von dem, woran Ronald Schernikau Zeit seines kurzen Lebens gearbeitet hat: eine eigene, andere Ästhetik des Widerstands.
Legende
von Ronald M. Schernikau
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video: Rebecca Riedel, Videomitarbeit / Live-Kamera: Luna Zscharnt Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Sólveig Arnarsdóttir, Rosalie Bergel / Leander Kissiov, Leander Dörr, Sarah Franke, Sebastian Grünewald, Ueli Jäggi, Robert Kuchenbuch, Elisa Plüss, Emma Rönnebeck, Milena Arne Schedle, Dieter Rita Scholl, Katharina Marie Schubert, Sylvana Sedding, Nicolaas van Diepen.
Premiere am 11. Dezember 2019
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.volksbuehne.berlin
Einen "großen, auch an Gedanken reichen Abend" hat Peter Claus für DLF Kultur gesehen. Schernikau habe wegen seines frühen Todes "viele gesellschaftliche Entwicklungen und Erscheinungen nicht voraussehen, also auch nicht reflektieren" können: "Manche seiner Kritik wirkt darum aus heutiger Sicht ein wenig kuschelig", so Claus. "Aber: Da Pucher stilistisch sicher inszeniert hat, auf psychologischen Naturalismus verzichtend, eher auf Comic-Kunst und Komödiantisches setzend, auf Show, auf das Ausstellen der Figuren und damit Gedanken und Thesen, das Vorführen, und das (...) in bezwingender Ernsthaftigkeit, erreicht der Abend eine große Intensität, die sehr anregend ist."
"In der Volksbühne ist eine bestenfalls nette, aus heutiger Sicht allerdings denkbar unspektakuläre Ost-West-Typen-Klamotte zu sehen", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (13.12.2019). "Der lange Abend" bleibe "seltsam hölzern, angestrengt und unglaublich retro".
"Brav stehen die Allegorien des Spätkapitalismus, der Sozialdemokratie, des Marktes, des Apparatkommunismus und der pseudogöttlichen Heilsbringer Kunst und Revolution einander im Weg und sagen in Retro-Kostümen und Vip-Lounge-Atmosphäre ordentlich Text auf, als ginge es darum, die Handlung einer Thesen-Soap-Opera aus den Achtzigern zu rekapitulieren", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (13.12.2019). "Blöd ist, dass diese brave Fantasielosigkeit auf das Original zurückschlägt, das man gar nicht mehr in die Hand nehmen will. Kapitalismuskritik aus gemütlicheren Zeiten, wozu soll man sich das heute noch antun, da sich die Konflikte längst zugespitzt haben, und alles noch schneller noch schlimmer wurde, als es so ein furchtloser und radikaler Kopf wie der von Schernikau vorhersehen konnte?"
"Stefan Pucher hat Szene für Szene sorgfältig als Parodie eines Lehrstücks inszeniert. Abgesehen von wenigen hellen Momenten, wenn etwa Ueli Jäggi als Tattergreis den Geldsack anschwärmt, bleiben die Schauspielerinnen und Schauspieler verhalten, unter ihren Möglichkeiten, sie sagen Texte auf", schreibt Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung (13.12.2019). Der Abend wirke diszipliniert, schlagwortverliebt, "er kommt nur langsam voran und kippt immer wieder in nostalgisches Kabarett, gespielte Witze über Probleme von einst", so Bisky. "Man erlebt, um es mit einem variierten Schernikau-Titel zu sagen, die heftige Variante des Bravseins."
Pucher huldige dem Autor und seinem Werk in dieser Uraufführung mit heiligem Ernst, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.12.2019). "Entschieden macht das von Annabelle Witt in die Mode der frühen achtziger Jahre gekleidete Ensemble Schernikaus intellektuelle Hürden zum vergnüglichen Denksport – und Puchers kühle, epische Inszenierung zum Breitwand-Hochamt." Die "konsequente Aufführung" werde zu einer "sympathischen Hommage an einen Freigeist, der Lidstrich und Marxismus, Fummel und Dialektik, Poesie und Politik zu vereinen trachtete".
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Recht hermetisch kreist diese „Legende“-Inszenierung 3,5 Stunden um sich selbst und macht es dem Zuschauer schwer, einen Zugang zu diesem Kuriositätenkabinett zu finden. Erst in der letzten Stunde gibt es etwas mehr Anknüpfungspunkte für das Publikum mit einer ironischen Hommage an Marianne Rosenberg, die West-Berliner Hausbesetzer-Szene und den Versuche der kommunistischen Splitterparteien, über 5 % zu kommen.
Pucher macht zu wenig aus der assoziativ wuchernden Vorlage, über weite Strecken tritt die Inszenierung auf der Stelle. Den berührenden End- und Höhepunkt des Abends hat Janis El-Bira zurecht hervorgehoben: das Solo von Nicolaas van Diepen zur AIDS-Krise im schwarzen Abendkleid, bei dem sein Bühnen-Liveauftritt von einem Archiv-Video Schernikaus auf der Couch gedoppelt wird.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2019/12/12/legende-volksbuhne-kritik/
www.youtube.com/watch?v=L-Jnx92yVTo
Das war doch groß, oder?
Herzlich, Ihr
Kippenverberger
vielleicht habe ich einen anderen abend gefühlt
vielleicht habe ich auch davor zuviel oder zu wenig von der legende gelesen
wer kann das wissen
man kann nicht zu viel schernikau lesen
man könnte niemals zu viel schernikau gelesen haben
ich habe mir mindestens einhundertundeinundachtzigmal eine stoptaste gewünscht um die feinheiten sottisen und perlizitäten im text aufnehmen verdauen und weitertragen zu können die es gab an diesem abend
jeder zweite satz eine inschrift anklage
man muss meißeln wollen freilich
ich verstehe tempoarm als vorwurf in diesem zusammenhang nicht nur nicht es macht mich ratlos unwirsch
james krüss dann als friedenstaubenvertreter
das bindende element deusexmachina gegen ende
gottja wenns hilft
man müsste noch mal reingehen
man muss
es war ein feiner abend
es war ein sehr feiner abend
Ein wunderbarer Entwurf der Menschlichkeit und des Seins.
Die Inszenierung hat ein paar Längen, der Text keinesfalls.
Hier sprudeln Gedanken zwischen Gesellschaftsentwurf und Comic. Und das ist kein bisschen angestaubt, Das ist immer noch so weit voraus. So mutig, so ganz ohne Hemmungen, ohne Selbstbeschränkung, ohne Selbstzensur. Entwaffnend ehrlich und reflexiv. Voller Hoffnung. Voller Liebe zum Sein. Zart und voller Kraft. Sinnlich und voller Anspruch.
Da ist das politische wieder privat geworden, die menschliche wie die spezifisch deutsche Zerrissenheit im individuellen Geist und Körper angekommen, wo sie immer schon beheimatet waren. Und der Abend nach drei Stunden wieder bei sich. Doch da ist es längst zu spät. Weil Stefan Pucher jenseits einzelner Episoden keinen roten Faden findet, er sich theatrale Elemente zusammensucht und diese für sich behandelt, ohne Rücksicht auf das Ganze. Und so zerfällt der Abend zu einem Nebeneinander von Bruchstücken, vielleicht nicht willkürlich ausgewählt, aber nicht miteinander kompatibel. Pucher sucht das Plakative, das gesellschaftlich Parabelhafte und das Persönliche, aber er findet keine Brücke zwischen beiden, lässt die Pole unverbunden und bleibt zurück mit einer Inszenierung, die nicht mehr ist als eine Folge scheiternder Versuche. Hier sind letztlich nicht nur die Götter anwesend abwesend, sondern auch eine echte Idee. Das ist schade, auch weil es eine nicht ganz unwesentliche Aufgabe des Abends nicht erfüllt: Lust zu machen, in das überbordende Konvolut des Romans einzutauschen.
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2020/01/26/ideenlose-gotter/