Die dünne Schicht über den Abgründen

von Andreas Jüttner

Heidelberg, 13. Mai 2007. Die Chronik eines allmählichen Idyllenzerfalls im Vorort-Speckgürtel einer Großstadt ist der große Gewinner beim Heidelberger Stückemarkt. Gestern erhielt Volker Schmidt für "Die Mountainbiker" sowohl den Publikums- als auch den Hauptpreis, der mit einer Uraufführung verbunden ist.

Die nächste Präsentation steht unmittelbar bevor: Im Stückemarkt des Theatertreffens wird der Text am Donnerstag präsentiert. Die weiteren Preise in Heidelberg gingen an Werke aus dem diesjährigen Gastland Rumänien: Der Europäische Autorenpreis wurde "Amalia atmet tief ein" von Alina Negela zuerkannt, ein Monolog in acht Szenen über das (Über-)Leben einer Frau in der wechselvollen jüngeren Geschichte des Landes. Der 25-jährige Peca Stefan, mit bislang rund 20 Stücken ein enorm produktiver Autor, bekam den Innovationspreis für "Rumänien 21", eine sarkastische Musikrevue, die Rumäniens Weg zur EU-Mitgliedschaft in Form einer drastischen Familiengeschichte aufs Korn nimmt.

Im Gegensatz zu diesen beiden Werken und auch anderen Beiträgen der deutschsprachigen Konkurrenz hinterließ Schmidts Doppelsiegertext nach der szenischen Lesung den Eindruck, hier müsse eine Inszenierung gar nicht viel mehr bieten als gutes Casting und Textwiedergabe. Orazio Zambellettis sensible Einrichtung betonte die Qualität der Szenen und Dialoge. Die sind nicht nur pointiert und wendungsreich, sie verleihen den Figuren auch eine jeweils eigene Sprache und machen Handelnde und Handlung sehr plastisch.

Hinterhältiges Anziehen der Schraube
Der Anfang wirkt noch wie ein fernsehspielgeschultes Beziehungskistenporträt: Die Ausstatterin Franziska wird von dem Werbemanager Albert angemacht, die Innenarchitektin Anna fühlt sich in ihrem materiell rundum erfüllten Familienleben festgefahren, ihr Mann Manfred hat eine Affäre mit Franziska und radelt sonntags mit Albert, ihre 14-jährige Tochter Lina bandelt mit Franziskas 15-jährigem Sohn Thomas an. Doch allmählich zerstört Annas eskapadenhafte Sinnsuche, möglicherweise ausgelöst durch den nie ganz verarbeiteten Unfalltod ihres zweijährigen Sohnes, die dünne Schicht über den Abgründen. Als sie schließlich Thomas verführt, ist das Maß ihrer gesellschaftlichen Verfehlungen voll, zumal die Situation von der Umgebung noch schlimmer gedeutet wird als sie ohnehin ist.

Schien zunächst Schnitzlers "Reigen" als Folie durch, so erinnert nun das hinterhältige Anziehen der dramaturgischen Schraube auch in der Figurenkonstellation an den Film "American Beauty", den Schmidt allerdings gar nicht gesehen haben will. Vielmehr gibt der Autor Euripides’ "Bakchen" als Bezugspunkt an, handelt sein Stück doch auch vom Zwist zweier Positionen zur Natur: Die rational-konfrontative männliche Haltung der Mountainbiker und Anna emotional-einheitssuchende Selbstaufgabe stehen sich gegenüber und fordern am Ende ein Opfer.

Musikalisch geschultes Sprachgespür
Dass die Zwänge der geradezu arithmetischen Form – Schmidt lässt immer nur zwei Personen auftreten, die wiederum nicht in den Szenen davor oder danach sein dürfen – gar nicht auffallen, liegt an der ausgeklügelten Konstruktion und dem auch musikalisch geschulten Sprachgespür des 1976 bei Wien geborenen Autors, Schauspielers und Regisseurs. Schmidt, dessen nächste Uraufführung ein Auftragsstück fürs Grips-Theater Berlin sein wird, spielt Schlagzeug und Klavier und wollte vor dem Einschlagen des Theaterweges Komponist oder Dirigent werden.

Man mag sein Stück für zu sehr "well made" halten oder für zu auskunftfreudig – sogar die Datierung des verstörenden Kindstodes wird wie nebenbei in einen Dialog gepackt –, doch das heißt nicht, dass hier keine Fragen offen blieben: Gerade die Abrundung der Geschichte gibt die Frage, wie man denn nun mit den hier aufgezeigten Krisen umgehen soll, weiter ans Publikum.

 

Die Mountainbiker
von Volker Schmidt

Rumänien 21
von Peca Stefan

www.theaterheidelberg.de

Kritikenrundschau

Kaum Reaktionen auf den diesjährigen Heidelberger Stückemarkt. Wenig Konkurrenz für den Doppelsieger Volker Schmidt konstatiert lediglich die Süddeutschen Zeitung (15.5.2007), wo Jürgen Berger schreibt: Es gebe Stücke, an der keine Jury vorbei komme. "Die Mountainbiker" von Volker Schmidt, Gewinner des Autoren- wie des Publikumspreises beim Heidelberger Stückemarkt, sei so ein Stück. Die Vorbilder für seine "markanten Figuren" habe Schmidt "in einem der nobleren Vororte Wiens" gefunden, behauptet Berger, und es könne sein, dass der Stückemarkt wie schon im letzten Jahr für Darja Stocker auch im Falle des Volker Schmidt zur "Startrampe für eine Autorenkarriere" werde.

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