Das Altneue

27. Dezember 2019. "Das Alte stirbt und das Neue kann noch nicht zur Welt kommen", so lautet eine berühmte Definition des Phänomens "Krise", die in den 1920er Jahren der marxistische Philosoph Antonio Gramsci prägte. Aktuell ist das Krisengefühl wieder allgegenwärtig und Gramscis Definition des Transformationsphänomens "Krise" spiegelt sich auch in der Liste der zehn meist gelesenenen Texte auf nachtkritik.de wieder.

Das Neue ist manchmal das Alte

So beschäftigten in diesem Jahr die Leser*innen viele Personalien, die eine Schnittstelle zwischen gestern und morgen markierten. Kay Voges, einer der innovationsfreudigsten Theaterleiter im deutschsprachigen Raum, erklärte seinen Abschied vom Theater Dortmund, das während seiner Ägide zum Synomym für Theater und Digitalität wurde. Mit der erfolgreichen Gründung der Akademie für Theater und Digitalität sieht er seine Mission offenbar erst einmal erfüllt. Die Verkündung seiner Nachfolgerin Julia Wissert stieß ebenfalls auf enormes Interesse. Im Interview wurde die bis dahin nur Insidern Bekannte einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.

Dass das Neue nicht immer neu ist, dieser Eindruck drängte sich vielen bei der Wahl des neuen Intendanten für das Schauspiel Köln auf. So gehörte der Kommentar von Andreas Wilink zur Kür des Salzburger Intendanten Carl Philipp von Maldeghem zum Nachfolger Stefan Bachmanns in Köln zu den meistgelesenen Texten des Jahres, der in dieser Wahl Impuls, Idee und Aufbruch vermisste. Ebenso wie die Presse vor Ort, die, angeführt vom Kölns prominentem Bürger Navid Kermani, Sturm gegen diese Entscheidung lief. Nach sieben Tagen warf von Maldeghem das Handtuch.

Die Toten endlich tot sein lassen

"Das Theater ist Museum, Text-Friedhof. Heimlich verscharren sie hier den Anspruch, an diesem Ort mit dem Fremden, dem Anderen, dem Neuen konfrontiert zu werden," schrieb Michael Wolf in seiner Kolumne "Als ob!" und wünschte sich vom Theater, es möge endlich seine Toten tot sein lassen, statt sie künstlich am Tropf des Regietheaters am Leben zu erhalten. Dann aber war es just die (von Andreas Wilink verfasste) Kritik zu einer Inszenierung des klassischsten aller Klassiker, von Shakespeares Hamlet nämlich, die es als meistgelesene Nachtkritik des Jahres 2019 in die Liste der Top Ten schaffte. Allerdings wurde Hamlet von Sandra Hüller gespielt.

Die Frage ob und wie sich neue und enthierarchisierte Formen von Theaterarbeit, in der Schauspieler*innen sich selbstbestimmt und unentfremdet in Inszenierungsprozesse einbringen können, mit radikalem Formwillen und der grundsätzlichen Gestaltungshoheit der Regie zusammenbringen lassen, (und ob diese Hoheit überhaupt noch zeitgemäß ist) wurde exemplarisch deutlich an einem Konflikt, in den der Regisseur Ulrich Rasche am Schauspiel Frankfurt geriet. Die Frage, ob Strukturveränderungen am Ende auch an die Substanz der Kunst rühren werden, steht ebenfalls im Raum. Auch die Klimakrise rüttelt am tradierten Kunstbegriff.

Möglichkeit der völligen Erneuerung

Manchmal allerdings muss man nur die Straßenseite zu wechseln, um die neue Welt zu erreichen, die der Berliner Friedrichstraße zum Beispiel. Dort steht der Friedrichstadt Palast, der eigenem Bekunden zufolge die größte Showbühne der Welt besitzt und darüber hinaus eine Vergangenheit, die auf Max Reinhardt zurück geht. Hier trat das wagemutige Duo René Pollesch und Fabian Hinrichs in der Kulisse der Mega-Revue "Vivid Grand Show" an, den Verblendungszusammenhang aufzulösen, E(rnst) und U(nterhaltung) seien hierzulande inkompatible Kulturtechniken. Entsprechend schaffte es Christian Rakows Nachtkritik zu Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt natürlich auf die Liste der Top Ten. 

Dass Ersan Mondtags Dortmunder Inszenierung Das Internat, beim Theatertreffen auch noch mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, dort nicht gezeigt werden konnte, interessierte ebenfalls überdurchschnittlich viele Leser*innen. Diese konnten dann die Arbeit wenigstens als Online-Gastspiel auf nachtkritik.de sehen.

Zu den Listenhits gehören selbstredend (neben den außer Konkurrenz laufenden Charts) stets Nominierungen und Top-Ten-Listen aller Couleur. Das nachtkritik-Theatertreffen oder die Einladungen zum Berliner Theatertreffen zum Beispiel. Am Ende der Liste schließlich steht ein alter (und auch noch weißer) Mann, mit dem vor fast fünfhundert Jahren einmal unsere Neuzeit begann, die sich gerade auflöst in etwas, das wir noch nicht kennen: der Physiker und Astronom Galileo Galilei, beziehungsweise wie Frank Castorf ihn sah.

(sle)

 

Die meistgelesenen Texte auf nachtkritik.de 2019

1 Leser*innenwahl 2019

Wählen Sie die wichtigsten Inszenierungen des Jahres!

nachtkritik.de-Theatertreffen 2019: die Nominierungen


2 Personalie I

Im Ungewissen

Intendant Kay Voges verlässt Dortmund 2020


3 Personalie II

Wie? Ach!

Köln hat einen neuen Intendanten für sein Schauspielhaus bestimmt


4 Personalie III

Bald jüngste Intenantin Deutschlands?

Schauspiel Dortmund: Julia Wissert neue Intendantin

5  Kolumne von Michael Wolf

Der Kanon? Die Kanon? No Kanon!

Michael Wolf wünscht sich vom Theater, dass es seine Toten ruhen lassen möge

6 Nachtkritik aus Bochum von Andreas Wilink

Die schwebende Schwere

Hamlet – Schauspielhaus Bochum – Johan Simons inszeniert das, was zählt, und Sandra Hüller spielt

7 Recherche von Esther Slevogt

Streit am Main

Streit am Frankfurter Schauspiel – Eine Rekonstruktion

8 Nachtkritik aus Berlin von Christian Rakow

Polleschs Dreigroschenoper

Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt – René Pollesch und Fabian Hinrichs entern Berlins weltgrößte Showbühne

9 Meldung aus Berlin

Schwierigkeiten bei der Termin- und Spielstättenfindung

3sat-Preis an "Das Internat" von Ersan Mondtag – aber kein Theatertreffen-Gastspiel

10 Nachtkritik aus Berlin von Michael Wolf

Tod für so viel Verwegenheit

Galileo Galilei – Frank Castorf huldigt am Berliner Ensemble Bertolt Brecht, Antonin Artaud und der ordnungssprengenden Kraft der Pest

 

 Hier geht es zu den Listen der meistgelesenen Texte der Jahre 20182017201620152014 und 2013.