Austreibung des Raubtierrauschs

von Andreas Klaeui

Zürich, 12. Januar 2020. Streiks sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Wie es sich gerade in Frankreich zeigt: Da steht wochenlang fast alles still, und was schaut am Ende heraus? Drei Monate Bedenkzeit. Aus der Blütezeit des Klassenkampfs (1957) stammt Ayn Rands Roman "Atlas Shrugged" ("Atlas wirft die Welt ab"). Die US-amerikanische Autorin entwirft darin die Fantasie eines Streiks nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber, um aufzuzeigen, dass von nichts nichts kommt.

Das Schauspielhaus Zürich identifiziert das Buch, in dem der kapitalistische Atlas eine lästige Welt von bremsenden Behörden und armen Arbeitern abwirft, als Bibel des Neoliberalismus und der Rechtslibertären. Ohnedies orientiert sich das Schauspielhaus in dieser Zürcher Einstandssaison mit Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg stark an Kapitalismus-Recherchen: In Produktionen wie Christopher Rüpings Steinbeck-Bearbeitung Früchte des Zorns oder, im Märchenton, in Stemanns eigenem Schneewittchen. Aber auch in Premieren, die noch kommen werden, wie dem Aussteigerroman "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" in einer Inszenierung der Regisseurin Yana Ross.

All-American-Typen

Ayn Rand nimmt darin die Hardcore-Position ein. Stemann gibt ihrem imaginierten "Aufstand von oben" die Form eines Musicals, und auch das ist natürlich dramaturgisch schlüssig, denn wenn es eine genuin US-amerikanisch-kapitalistische Kunstform gibt, ist es gewiss das Musical. Ein Festspiel gar in Stemanns Setzung am Schauspielhaus, das kurzerhand zum "Museum der zweiten Revolution" und zur "Church of Ayn Rand" mutiert ist und vor Student*innen und Jungunternehmer*innen "The John-Galt-Saga", ihr "Holy Book of Freedom & Commerce", aufführt.

Streik5 560 Gina Folly uLeere Stühle:  Die Arbeitgeber rufen in Ayn Rands Romanvorlage die Revolution von oben aus und gehen in Streik © Gina Folly

John Galt ist hier auch der zynische Erzähler (Matthias Neukirch), der die Raubtiere auf Trab hält. Das sind der Stahlhersteller Hank Rearden, dem Sebastian Rudolph eine unangenehme Mischung aus Buchhalter und All-American-Businessman im Trenchcoat mitgibt (Kostüme Marysol del Castillo), und die Eisenbahnkönigin Dagny Taggart, die bei Alicia Aumüller so smart wie kaltschnäuzig daherkommt und eigentlich nur einmal herzhaft lachen muss, nämlich als Rearden ihr Urlaub vorschlägt.

Dystopisch-heitere Gegenwelt

In der Frohnatur der Musical-Form entlarvt der absurde Stoff (Ayn Rand meinte das alles ja ernsthaft!) sich selber, das war wohl das Kalkül, und es geht auch immer da auf, wo Stemann so recht affirmativ auf die Tube drückt. Wo die Groteske ihre Fratze zeigt und Rearden in der eigenhändig verwüsteten Welt einen herrlichen Operntod sterben darf, der unter dem Zeichen des heiligen Dollars steht.

11 Der Streik 560 c Gina Folly uAlles in Klu-Klux-Clan-weiß in Nicolas Stemanns "Der Streik" © Gina Folly

Überhaupt in der dystopischen Gegenwelt, die die streikenden Unternehmer sich ganz in Sektenweiß aufgebaut haben, mit einem Ayn-Rand-Konterfei jeweils im Brustmedaillon.

Hier entsteht eine Reibung, die der Abend an anderer Stelle leider vermissen lässt. Nämlich immer da, wo er vor sich selbst zu zögern scheint und unendlich langsam an Fahrt aufnimmt, in einer zähflüssigen Exposition, oder wo er unnötigerweise kommentieren zu müssen glaubt, was eh schon seit der ersten Minute feststeht. Denn die Meinungen sind gemacht.

Streik2 560 Gina Folly uDie Arbeitgeberwelt: widerständige Typen, Plünderer, Streikende. V.l.n.r.: Daniel Lommatzsch, Alicia Aumüller, Thelma Buabeng © Gina Folly

Stemann verstärkt denn auch die widerständigen Figuren, Gewerkschafter, Politiker, Künstler, all jene "Plünderer", für die Rand nur Häme übrig hat, aber damit paradoxerweise nicht zugleich die dramaturgische Spannung, im Gegenteil – immerhin verschafft er sich auf diese Weise die Möglichkeit, in einem selbstironischen Moment auf offener Bühne über den Verblendungszusammenhang von Bühnenkunst und Leistungsgesellschaft nachzudenken, und natürlich hat es einen gewissen Reiz, wenn dann Argumente auftauchen, wie sie für gewöhnlich eher im Zürcher Gemeinderat zu hören sind, zur (Eigen-)Finanzierung der Kunst etwa.

Mit Solidaritätslied

Schmissig ist die Musik (von Stemann selbst, Burkhard Niggemeier, Thomas Kürstner und Sebastian Vogel), die alles kann, was in einem Musical möglich sein muss, von Straightjazz bis zum Himmel voller Geigen. Und groß sind die sängerischen Leistungen dieses Ensembles, das ja ausnahmslos aus Nichtmusikern besteht, man möchte das direkt als handwerkliche Schwerstarbeit bezeichnen. Und natürlich hat der Abend viele phänomenale Momente. Wie den, als die Entrepreneurs das "Solidaritätslied" für ihre Zwecke umwidmen: "… nicht vergessen: die Individualität"! Aber insgesamt hinterlässt er doch den Eindruck einer gewissen Ratlosigkeit. Die Ratlosigkeit des Künstlers vor dem Raubtierrausch.

Der Streik
Ein Musical von Nicolas Stemann nach dem Roman "Atlas Shrugged" von Ayn Rand
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Jelena Nagorni, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Puppen: Das Helmi, Puppenspiel: Felix Loycke, Florian Loycke, Choreografie: Evelina Stampa, Video: Claudia Lehmann, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Katinka Deecke, Laura Paetau.
Mit: Mit Alicia Aumüller, Thelma Buabeng, Sachiko Hara, Thomas Kürstner, Kay Kysela, Daniel Lommatzsch, Felix Loycke, Florian Loycke, Matthias Neukirch, Burkhard Niggemeier, Sebastian Rudolph, Sebastian Vogel. Live-Musik: Thomas Kürstner, Hipp Mathis, Burkhard Niggemeier, Sebastian Vogel.
Premiere am 12. Januar 2019
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.neu.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau 

"Nicolas Stemann dreht und wendet die Kapitalismusfrage an diesem Abend im Takt von Musik, Jux und Dollerei hin und her, bis uns zeitweise Hören und Sehen vergeht," schildert Alexandra Kedves den Abend im Zürcher Tagesanziger (12.1.2020) "Auf einmal ist nichts mehr einfach, schon gar nicht die Verteilung von Sympathie. Und über weite Strecken macht das auch noch riesig Spass. Verflucht verruchte Sache!" Stemann greife als "bissiger Texter, Liedtexter und Regisseur" den Beat des berühmten Romans auf. "Sein Cabaret swingt und fährt in die Beine, bedient die Lust am Lichterspiel (die anspielungssatte Videospur, samt lodernden Waldbränden, stammt von Claudia Lehmann), während das Hirn die satirische Absicht merkt und ein kleines bisschen verstimmt wird, je doller (und platter) die Satire in den gut drei Stunden dreht." Auch seine neun Darstellerinnen und Darsteller lasse Stemann "flockig singen und tanzen".

"Stemanns Regiekonzept hat mehrere Nachteile. Erstens: Es schauen im Züricher Schiffbau eh nur die Reichen und die Bohemiens zu, denen das Leben der anderen nur rhetorisch am Herzen liegt und ansonsten wurscht ist. Zweitens: Die Bühnen-Proleten sind in Zürich seltsam schrumpfköpfige Puppen, deren 'Vorwärts und nicht vergessen' zum debilen Show-Tänzchen verkümmert ist", so Christian Gampert vom Bayerischen Rundfunk (13.1.2020). "Drittens: Die Unternehmer, die eine Eisenbahn quer durch Amerika bauen wollen, sich über hohe Steuerforderungen beschweren und fragwürdige Metall-Legierungen herstellen, sind in einer komplizierten Handlung ständig mit einem überflüssigen erotischen Wer-mit-wem-Spiel beschäftigt."

"Ist die viele Mühe, sind die szenischen Einfälle und die überwältigende Spiellust des Ensembles in Rands Realitätsentwurf tatsächlich richtig investiert?", fragt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (13.1.2020). "Ja, es ist wohl wahr: Das reiche Zürich hat seine Reichen-Revue. Man kann sich über die Schiessbudenfiguren köstlich amüsieren. Wer mehr erwartet? Der ist im neoliberalen Sinn wohl selber schuld. Er erwartet das Falsche."

Nicolas Stemanns "John-Galt-Saga" ist in den Augen von Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (16.1.2020). "nicht immer flott, dauert mehr als drei Stunden und könnte, um das gleich zu sagen, böser, härter, schärfer sein". Immerhin erreiche Stemann "ein großes Kopfschütteln über ein Land, in dem einige Präsidenten Rands Buch auf dem Nachttisch liegen hatten".

 

Kommentare  
Der Streik, Zürich: leider nichts
Natürlich darf und soll sich Theater auch mit den wirtschaftlichen Fragen des menschlichen Zusammenlebens befassen. Aber warum muss Theater das immer und beinahe ausnahmslos uninformiert und inkompetent, und dann halt irgendwie stumpfsinnig "antikapitalistisch" tun, ohne sich auch nur mal ein differenziertes Bild vom behandelten bzw. verteufelten Gegenstand zu machen. Auch gestern, wieder nur so ein "Wir sind natürlich viel linkser als Marx, aber wissen halt nicht wie oder wozu"-Abend. Viel Musical um leider nichts.
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