Warst kein Guter

von Leopold Lipppert

Wien, 15. Januar 2020. "Es gibt die Geschichte des Tages und die der Nacht. Die eine steht in den Büchern. Die andere erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand." Über einem Leichenhaufen beginnt Ferdinand Krutzler (Thomas Frank) eine Geschichte zu erzählen, die über drei Theaterstunden lang zu der seines Lebens werden wird. Die eines Erdberger Strizzis, eines Ganoven, der die Wiener Unterwelt über Jahrzehnte prägen soll. Eine Gegenerzählung also, von ganz unten, und wenn man bedenkt, dass die Verbrechen dieses Verbrecherlebens vor dem Hintergrund der Zwischenkriegs-, NS- und Besatzungszeit passieren, könnte das interessant werden. Einen neuen Blickwinkel auf schmerz- und schuldbehaftete Zeitgeschichte ermöglichen. Doch leider kommt es anders.

Das Volkstheater im Ausweichquartier

"Schwere Knochen" nach einem im Vorjahr erschienenen Roman von TV-Regisseur und Drehbuchschreiber David Schalko ("Braunschlag", "Altes Geld") ist die erste Premiere des renovierungsbedingt geschlossenen Volkstheaters auf seiner Ersatzbühne – die Halle E des Wiener Museumsquartiers, ein ziemlich langgezogener Theaterraum, der den Wiener Theatermenschen als Spielstätte der Wiener Festwochen ohnehin bestens bekannt ist. Mit der neuen Bühne hält neben Mikroports auch eine neue Einfachheit der Mittel Einzug. Vom Schnürboden baumelt ein eiserner Vorhang aus rasselnden Ketten (er fällt später mit dem NS-Regime), und mit ein paar improvisierten Bauteilen lässt sich allerlei Interieur (vom Puff zum AIDA-Kaffeehaus) herbeidenken. Hier lenkt also bestimmt keine Deko vom Geschehen ab. Und auch die Fernsehdrama-Musik (Matthias Jakisic, Sam Vahdat) ist zwar live, aber doch eher für den Hintergrund.

Schwere Knochen 2 560 www.lupispuma.com Volkstheater uFürs goldene Wiener Herz: Thomas Frank als Gauner Ferdinand Krutzler (im hellen Anzug), umringt von Andreas Patton, Peter Fasching und Matthias Luckey © www.lupispuma.com / Volkstheater

Geschehen wird in Alexander Charims Inszenierung, nun ja, sehr viel. Der Abend ist eine unglaublich lange, unglaublich redundante Aneinanderreihung von mehr oder weniger gewitzten Verbrecherepisoden. Von den Taschenspielertricks der Lehrjahre zur "Spedition" (Wohnungseinbrüche) der Zwischenkriegszeit, von der gewissenlosen Kapo-Kollaboration in den KZs Dachau und Mauthausen zum Zigaretten- und Alkoholschmuggel der Besatzungsjahre – alles passiert in seltsam gleichförmigen Machtkontexten ohne Moral, mit denen sich die Strizzis (neben Krutzler sind das noch Wessely/Peter Fasching, Sikora/Lukas Watzl und der Praschak/Sebastian Pass) zu ihrem eigenen Vorteil arrangieren. Manchmal geht etwas schief und jemand wird umgebracht; das ist dann eben eine "blede Gschicht".

Gewalt in schlichten Formen

So etwas wie Charakterzeichnung oder Figurenentwicklung oder gar Spannungsbögen gibt es nicht wirklich. Mal ist die Gewalt raffiniert, mal ist sie brachial, das ist es auch schon mit der Abwechslung. Da ist es nur naheliegend, dass Geburt und Tod der Figuren der Einfachheit halber auch den Rahmen der Erzählung vorgeben. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit psychologischen oder gesellschaftlichen Fragen, mit so naheliegenden Themen wie Macht, Moral, Trauma, oder Schuld sucht man vergebens. Und wenn man seine Figur nicht entwickeln kann, dann spielt man eben mehrere: Außer Thomas Frank müssen alle Schauspieler*innen eine Fülle an Kleinstrollen übernehmen, bei Andreas Patton sind es sogar zehn.

Schwere Knochen 1 560 www.lupispuma.com Volkstheater uDas Ensemble des Volkstheaters spielt in der Ausweichspielstätte im Museumsquartier im Bühnenntwurf von Ivan Bazak © www.lupispuma.com / Volkstheater

Eine Weile lang funktioniert das erstaunlich gut. Zum einen, weil die Schauspieler*innen ein solides Spiel mit wohlbekannten Genres treiben: hier ein bisschen Splattermovie, da ein bisschen Agententhriller, hier ein bisschen KZ-Melodram, da ein bisschen Ödön von Horváth-Sozialdrama. Hier ein bisschen derbe Oaschloch, Fut-und-Geh'-Scheißen-Sprüche, da ein bisschen Dialektvarietät und Panierschlemmen fürs goldene Wienerherz. Zum anderen, weil Charim für den Wahnsinn des KZ-Handlungsstrangs stimmige clownesk-groteske Bilder voll stummer Zirkusinstrumente und roter Schminke-Nasen findet. Und auch, weil die wiederholt eingesetzten Tiere (zu ihren vielen Menschenrollen müssen die Schauspieler*innen auch noch als Schwein, Affe, Papagei oder Hund herhalten) als gelungene Metapher für die Entmenschlichung funktionieren, die bei all der Gewalt stattfindet.

Stereotypen-Parade

Doch mit jeder weiteren Episode beschleicht einen mehr und mehr das Gefühl, dass der Strizzi- und Prolo-Kontext bloß Vorwand ist, um all das mal sagen und zeigen und spielen zu dürfen, dem man sonst lieber keine Bühne geben möchte (und die Liste ist lang): die sexistischen Stereotype etwa (der "Hausdrachen", oder das "Mannsweib", das dann auch noch zur Lesbe wird); oder die überdeutlich gezeigte körperliche Gewalt gegen Frauen, die gerne mal als Beziehungsstress verharmlost wird (erst schreit Krutzler seine "Musch", an: "I bring di um!", dann "Heirate mich!", und am Ende seufzt sie ihm ins Grab nach: "Warst kein Guter. Trotzdem hab ich dich geliebt, irgendwie."); oder die antisemitischen Stereotype (der hinterfotzige Jude Grünbaum/Greenham, gespielt von Sebastian Pass, ist ein wandelnder solcher); oder das beiläufige Redfacing auf den Karl-May-Festspielen in der Villa vom Nazihuber; oder schließlich die Freakshow, die in der Unterwelt nie fehlen darf (der stotternde Ganove, die Hure ohne Beine).

Und dann ist da natürlich noch Schalkos Sprache, voller ungut gekünstelter Euphemismen: die Gaskammern werden als "Brausebad im Keller" bezeichnet, und die "Spedition" der Einbrecherbande um Krutzler wird gleichgesetzt mit der "Spedition" des Nazihubers (Mathias Luckey), der jüdische Wohnungsbesitzer enteignet. Und als die Musch (Isabella Knöll) mit 13 zum ersten Mal vom Hausmeister geschwängert wird, nennt der Text das "ein Balg in den Unterleib bugsieren". Man mag das alles milieurealistisch finden, oder gar lustig. Aber als ernsthafter Kommentar-von-unten auf das vergangene Jahrhundert oder gar als antifaschistische Gesellschaftskritik geht dieser Abend bestimmt nicht durch.

 

Schwere Knochen
nach dem Roman von David Schalko
Bearbeitung: Anita Augustin
Regie: Alexander Charim, Bühne, Kostüme und Video: Ivan Bazak, Musik/Komposition: Matthias Jakisic, Sam Vahdat, Licht: Julian Paget, Mauritius Luczynski, Dramaturgie: Heike Müller-Merten.
Mit: Thomas Frank, Peter Fasching, Isabella Knöll, Matthias Luckey, Sebastian Pass, Andreas Patton, Lisa-Maria Sommerfeld, Birgit Stöger, Lukas Watzl.
Premiere am 15. Januar 2020
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Gerade jetzt, da es im Zustand der Auflösung ist und im Exil des Museumsquartiers, präsentiert sich dieses Ensemble virtuos, überzeugend wie schon lang nicht", schreibt Thomas Kramar in Die Presse (17.1.2020). "Das liegt wohl auch an der Regie: Alexander Charim lässt die Schauspieler brutal komisch und doch (fast) nie albern agieren, gibt einen präzisen und doch geschmeidigen Rhythmus vor, der an den richtigen Stellen doch zum Stillstand kommt, und zwar so, dass es einen noch lachend schaudert."

"Jenseits ideologischer Verankerungen legt Schalko Mechanismen von Ermächtigung und Gewalt frei. Überzeugungen sucht man in diesem Netzwerk der Täter vergeblich. Es zeigt ein Räderwerk des Überlebens auf Kosten anderer", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (17.1.2020). "Dabei weicht Regisseur Charim jeder Betroffenheitsfalle aus und inszeniert mithilfe karikatur- und märchenhafter Optik. (...) Die swinghaften Rhythmen der Livemusik unter der Leitung von Matthias Jakisic treiben die Erzählung voran, die sich gegen Ende hin – bis zum Showdown in einer Aida-Filiale – auf Nebenschauplätzen auch verzettelt und im Verlauf von knapp dreieinhalb Stunden (inklusive Pause) ihre Durchhänger hat."

"Bei der Lektüre des 570 Seiten starken Romans entsteht weder ein halbwegs stimmiges Bild von der Wiener Halbwelt der Nachkriegsjahre, noch kommen einem die Figuren nahe. Schalkos Erzählton bleibt stets in zynischer Distanz zum Geschehen", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (17.1.2020). "Zu den fragwürdigen stilistischen Mitteln gehören auch jede Menge (absichtlich?) schlechter Metaphern. Sie wurden gestrichen, und die Distanz zu den Personen der Handlung geht in der konkreten Bühnensituation bis zu einem gewissen Grad automatisch verloren." Die Inszenierung beginne fulminant, aber "nach der Pause geht dem Abend, obwohl er mehr als drei Stunden dauert, die Zeit aus", so Kralicek. "Immer hektischer wird der Plot zu Ende erzählt, bis fast alle tot sind."

 

 

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