Auf Müll gebaut

von Falk Schreiber

Hamburg, 16. Januar 2020. Kunstferner kann man eine Performance kaum beginnen. Moritz Frischkorn steht in einem Seitenflur des Hamburger Theaterkomplexes Kampnagel und erklärt dem Publikum das Konzept hinter "The Great Report": die Idee, dass Logistik eine Form von Choreografie sei. Er berichtet von drei Recherchereisen in den Libanon, nach Kreta und Nigeria. Und er erzählt, dass er bei jeder dieser Reisen eine*n Co-Künstler*in mitgenommen habe, die das Thema der Reise dann individuell bearbeitet hätte: In Beirut produzierte Nour Sokhon eine Soundinstallation, auf Kreta drehte Paula Hildebrandt einen Film, im Nigerdelta gestaltete Robin Hirsch eine Fotodokumentation. Präsentiert würden die Reiseergebnisse als Ausstellung, in der man sich frei bewegen könne; auf dass man ein Verständnis der Welt bekomme, einer Welt, in der Finanzen, Daten, Waren, Rohstoffe und nicht zuletzt Müll auf kaum durchschaubaren Routen hin- und hergeschoben werden.

Frischkorn ist ein jungenhafter Typ, bei dem man nicht so recht weiß, ob sein Grinsen eine gewisse Unsicherheit überspielt oder einen grundsätzlich ironischen Charakter der Einführung verrät. Mit der freien Bewegung in der Ausstellung jedenfalls ist es nicht so weit her: Zwar gibt es keine festen Plätze, aber der Blick des Publikums wird gelenkt, durch Lichtstimmungen, dadurch, dass eigentlich immer nur in einer Ecke des Raumes etwas passiert. Der Abend also ist zwar durch die Recherchen theoretisch unterfüttert, entwickelt dabei aber eine dramatische Struktur, die ihn wieder näher ans Theater führt: Es gibt einen Anfang, ein Ende, und dazwischen passiert etwas, das den Zuschauer*innen weniger Freiheit lässt als man anfangs denkt.

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Globalisierte Schrott-Logistik

Natürlich kann man sich (sofern die Helligkeit ausreicht) die Fotos aus Nigeria anschauen, die Gebührenaufstellungen der Reise und die Chatprotokolle, all das, was Archivkunst ausmacht. Man macht es nur nicht, weil sich in einem anderen Bereich der Bühne gerade etwas regt. Die Soundinstallation etwa, Straßengeräusche, leises Plätschern, Interviewfetzen, die darauf verweisen, wie der Wiederaufbau des Beiruter Zentrums nach dem Bürgerkrieg einen korruptionsanfälligen Bauboom bedingte, der die ungeordnete Mülldeponie des Normandy Landfill mit sich brachte. Müll- und Immobilienwirtschaft gehen Hand in Hand und rufen die Horrorvision einer knallhart durchgentrifizierten Stadtentwicklung über einer ungeordneten Müllkippe auf (und dass die Recherche nebenbei auch Projekte wie die Hamburger Hafencity oder die Londoner Docklands erwähnt, wirkt nicht gerade beruhigend). Von dort aus kommt man zur Planstadt Eko Atlantic City bei Lagos, die von der libanesisch-nigerianischen Chagoury Group entwickelt wird, und von dort zum griechischen Logistikmilliardär Vardis Vardinogiannis. Das ist im Einzelnen Wikipediawissen, klar, aber nach und nach wird eine ganze Infrastruktur sichtbar gemacht, die gebaut ist auf das Verschieben von Müll und Waren.

Voilà, ein Netzwerk!

Um diese Spuren weiter zu verfolgen, hilft es, dass Frischkorn begonnen hat, seine Recherchen im Netz zu archivieren. Denn, wie gesagt: Man könnte hier Verbindungen nachvollziehen, wenn nicht ständig irgendwo was Neues passieren würde. Nach einiger Zeit beginnt sich eine Steinskulptur in der Raummitte zu bewegen, eine Mundharmonika spielt eine kleine Melodie, die Performerin Maria F. Scaroni tanzt. Für eine knappe halbe Stunde verwandelt sich "The Great Report" in eine verhältnismäßig konventionelle Bühnenperformance, und das ist leider der ästhetisch wie inhaltlich am wenigsten ergiebige Teil des Abends. Scaroni erzählt eine etwas sentimentale Geschichte von zwei Liebenden in Chicago und Hongkong, die durch ihre Liebe gezwungen sind, Flugverbindungen und Schiffahrtslinien zu memorieren und so ein Netzwerk über den Erdball zu spinnen, dann schlüpft sie in ein Paar Rollschuhe und rollt durch das Publikum, hier umarmt sie eine Zuschauerin, dort zieht sie einen Besucher ein paar Schritte mit: voilà, ein Netzwerk. Das ist ein hübsches Bild, aber der Erkenntnisgewinn bleibt übersichtlich.

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Touristische Dekadenz auf Kreta: "Logistics of Paradise"

Doch Paula Hildebrandts Kreta-Film "Logistics of Paradise" gibt dem Abend nach Rechercheoverkill und beseelter Vernetzungsperformance zum Schluss noch eine tiefere Dimension. "Logistics of Paradise" ist als Dokumentation einer wasserintensiven Tourismusindustrie in einer austrocknenden Landschaft nicht nur erschreckend, sondern über weite Strecken auch brüllend komisch. Frischkorn stiefelt als tapsiger Tourist mit dünnen, blassen Beinchen über die Insel, platscht im Aquapark und schlägt Bälle auf dem gut bewässerten Golfplatz – ein geradezu höhnischer Kommentar auf das Pathos der vorigen beiden Teile.

"The Great Report" mag überbordend sein, faktenstark, beunruhigend, verwirrend: Dass mit "Logistics of Paradise" auch noch eine sinnliche Ebene aufgemacht wird, ist das kleine Detail, das aus einem interessanten einen Abend macht, der die beflissene Ernsthaftigkeit einer weltumfassenden Recherche transzendiert.

The Great Report
von Moritz Frischkorn
Szenografie: Vladimir Miller, Sound / Musik: Katharina Pelosi, Video: Bianca Peruzzi, Licht: Ricarda Schnoor, Dramaturgie: Heike Bröckerhoff, Mitarbeit Recherche: Lucie Schröder, Mitarbeit Bühnenbild: LU’UM, Produktionsleitung: Annalena Kirchler.
"Logistics of Paradise" (Video, Text, Installation): Paula Hildebrandt, Videoschnitt: Anna Fiedler, "Wahala" (Fotographie, Installation): Robin Hinsch, "Volatile Grounds" (Soundinstallation): Nour Sokhon, "Choreologistics" (Text): Moritz Frischkorn, "Witchcraft" (Live Performance): Maria F. Scaroni.
Premiere am 16. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.greatreport.net
www.kampnagel.de

 

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