Europa am Abgrund

von Max Florian Kühlem

Köln, 17. Januar 2020. Der neue Castorf ist draußen, die Fans können wieder Bingewatchen. Diesmal am Schauspiel Köln, gute fünf Stunden am Stück, mit Spitzkohl-Eintopf-Pause sogar fast sechs, dauert der nach Carl Sternheims Dramenzyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" benannte Theaterabend. Normalerweise werden in ein Paket mit diesem Stempel die Stücke "Die Hose", "Der Snob" und "1913" geschnürt. Frank Castorf packt noch enger: "Das Fossil" und Sternheims einziger Roman "Europa" kommen mit dazu.

Lilith Stangenberg zum Niederknien

Der Roman erzählt von Europa Fuld, der Tochter eines Amsterdamer Kunsthändlers, die es um die Jahrhundertwende, lebenshungrig und von revolutionärem Geist beflügelt, in die mächtigsten Länder des Kontinents zieht: Deutschland, Frankreich, England. Die zum Niederknien großartige Lilith Stangenberg, die noch zu Castorf-Zeiten aus dem Jugendtheater der Berliner Volksbühne P14 ohne Umweg über eine Schauspielschule auf die großen Bühnen des deutschsprachigen Raumes gesprungen ist, beginnt den Abend mit einem riesigen, wahnsinnigen Monolog über Europas Paris-Aufenthalt, der wie zufällig dem ersten Drittel des Romans entnommen zu sein scheint.

Heldenleben 3 560 ThomasAurin uBeflügelt von revolutionärem Geist: Lilith Stangenberg mit Sternheims Europa-Roman © Thomas Aurin

Damit beginnt ein irres Sternheim-Mashup ohne Fix- und Ankerpunkt vor einem natürlich vollkommen verlorenen, aber faszinierten Publikum. Die meisten hier wissen ja, dass man die Kontrolle über sein Leben abgibt, sobald man den Zuschauerraum einer Castorf-Inszenierung betritt. Ein paar Ehrenfeld-Hipster tragen dazu Jogginghose. In den verlorensten Momenten haben die Zuschauer*innen immerhin einen Fürsprecher: Bruno Cathomas, meistens in der Rolle des ehemaligen kaiserlichen Generals aus "Das Fossil", fällt oft aus ihr heraus und ergänzt Sternheims stakkatohafte Satzfragmente durch Fremdtext: "Ruhe hier. Niemand hat irgendetwas verstanden. Castorf beleidigt."

Die Dekadenz sehnt sich nach dem Weltkrieg

Und dann gibt es ja doch einen tollen Ankerpunkt: Das prächtige Bühnenbild von Aleksandar Denić, ein die gesamte Raumbreite und -höhe einnehmendes, abgeranztes, angemacktes Kaffeehaus oder ein in der feuchten Kälte der Alpenwinter verschimmelter Sommerfrische-Salon aus der Kaiserzeit vielleicht – auf jeden Fall eine Augenweide und ein sinnfälliges Bild für einen Kontinent am Abgrund.

Heldenleben 2 560 ThomasAurin uEngel der Verzweiflung: Lilith Stangenberg und Sophia Burtscher in Kostümen von Adriana Braga Peretzki © Thomas Aurin

Hier herinnen erlebt das Publikum zwei Urkatastrophen: Die eine ist die des Kontinents – der Erste Weltkrieg, den das versnobt und dekadent gewordenes Figurenpersonal vor allem in der zweiten Stückhälfte (in der nur ein wenig Schwund im Publikum zu verzeichnen ist) sehnlichst herbeisehnt. Die andere ist die der Familie Maske, um deren drei Generationen es in den Dramen des "bürgerlichen Heldenlebens" geht: Im ersten, "Die Hose", verliert Luise Maske nämlich in aller Öffentlichkeit selbige. Ihr Mann sieht durch diesen öffentlichen Skandal erst seine gesellschaftlichen Aufstiegschancen im deutschen Kaiserreich gefährdet und später (Doppelmoral!) entdeckt er das Kapital, das er aus der erotischen Ausstrahlung seiner Frau schlagen kann.

Im Café Castorf

Im Sternheim-Mix des ersten Teils wird die Hosen-Katastrophe zu einem von Melanie Kretschmann lustlos unterspielten Winken mit dem grünen Spitzenslip. Radikal lustvoll wiederum geben sich später Sophia Burtscher und Sabine Waibel den ersten Kapiteln aus dem "Europa"-Roman hin, in dem Sternheims abgehackte, die deutsche Syntax ad absurdum führende Sprache noch nicht lächerlich wirkt wie in "Das Fossil", sondern wie ein Sog.

Heldenleben 4 560 ThomasAurin uAbgewrackte Kaiserzeit: Das Ensemble des Schauspiels Köln spielt in einem von Aleksandar Denić ersonnenen Kaffeehaus © Thomas Aurin

In dieser Szene wird auch klar, warum Frank Castorfs Theater fast immer lohnt, selbst wenn es manchmal arg die Nerven strapaziert: Weil er die Darstellende Kunst befreit hat von Kategorien wie Botschaft, Einfühlung, Illusion, von der Herrschaft des Stoffs, vielleicht überhaupt von der Frage nach Sinn. Wenn die beiden Darstellerinnen unisono den "Europa"-Text sprechen, dann ist viel interessanter wie sie spielen und sprechen als was sie sprechen. Sie unterspielen, überspielen, umspielen den Stoff, kotzen ihn, lachen ihn aus, fangen sich wieder, reißen sich gegenseitig mit, bremsen ab. Das ist ein Tanz – und in Verbindung zum Bühnenbild blitzt auch mal der Gedanke an Pina Bauschs "Café Müller" auf.

"Es wird wärmer"

Castorfs Truppe wirkt wie ein Verein freier Menschen, die aus intrinsischer Motivation heraus Sternheims Stoffe überprüfen und sich dabei vollkommen verausgaben. Sie zetern und keifen, rauchen, ziehen sich aus, sprechen Spanisch und Russisch. Es gibt Slapstick-Szenen mit Rollstuhl, weite Strecken des Spiels vermitteln sich den Zuschauer*innen bloß über Leinwand, live in uneinsehbaren Ecken von zwei Kameramenschen eingefangen.

In diesem chaotischen Gerümpel beeindrucken dann umso mehr Momente der Fokussierung, wenn die Truppe etwas findet im hundert Jahre alten Texten, das uns etwas über das marode Europa von Heute sagt, das sich zwischen neuen Nationalismen und der Klimakrise aufreibt. "Es wird wärmer", sagt eine Schauspielerin irgendwann, "ich spüre es."

 

Aus dem bürgerlichen Heldenleben
nach Carl Sternheim
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüm: Adriana Braga Peretzki, Video: Andreas Deinert, Kamera: Andreas Deinert / Simon Baucks, Soundtrack: William Minke, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Julian Pörksen, Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink, Ton: Wolfgang Kick / Max Kapitein.
Mit: Sophia Burtscher, Bruno Cathomas, Melanie Kretschmann, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Nikolay Sidorenko, Lilith Stangenberg, Sabine Waibel, Klavier/Komposition: Marlies Debacker, Kellner: Guillermo Malfitani und Horst Sommerfeld.
Premiere am 17. Januar 2020
Dauer: 6 Stunden, eine Pause

www.schauspiel.koeln

 
Korrekturnotiz, 18.1.2020, 14:41 Uhr: In der ersten Fassung des Textes war eine schauspielerische Darbietung falsch zugeordnet. Wir haben die Stelle korrigiert.


Mehr über Carl Sternheims Zyklus Aus dem bürgerlichen Heldenleben erzählt Esther Slevogt in ihrer gleichnamigen Kolumne, wo der castorfmäßig schöne Sternheim-Satz fällt: "Der Mensch ist nur ein Spucknapf, in den die Epoche ihren Schleim entleert. Ich spucke lieber aus mir heraus, als dass ich mich so benutzen lasse."

 

Kritikenrundschau

"Provokant? Nein. Laut? Ja. Politisch? Kaum. Rauschhaft? Ein bisschen. Schmerzhaft? Nein", so Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (24.1.2020). Castorfs neuester Inszenierungs-Exzess bietet am Schauspiel Köln ein ausschweifendes Mash-up aus vier Stücken und einem Roman, erotische Live-Videos und Schauspiel an der Schmerzgrenze. "Dennoch wirkt der Abend erstaunlich altbacken – oder gerade deshalb." Nach der Pause werden die anfangs wirr verwobenen Plots klarer. Aber nach fast sechs Stunden "Heldenleben" tauche man wie aus einer Regietheater-Zeitreise auf: "Alles war da, das exzessive Spiel, die Lautstärke, die soghafte Erzählweise, Erotik, schwitzige Witze und kleine Provokationen. Nur: die politische Reflexion des Inhalts, vor allem aber der eigenen stereotypen Darstellungsweise fehlt."

"Es könnte sich lohnen, diese Fassung mal in Ruhe nachzulesen und ein Textbuch herauszugeben. Denn in den hundert Jahre alten Texten Carl Sternheims sind viele Parallelen zu unserer Gegenwart zu finden – und manche Feinheiten, die in der Aufführung durch die Spielwut des Ensembles verloren gehen", sagt Stefan Keim im Deutschlandfunk Kultur "Fazit" (17.1.2020). "Frank Castorf inszeniert in seinem gewohnten Stil mit ekstatischen Szenen, heftigen Kalauern und viel Gebrüll. Manche Stimmen klingen extrem heiser, das Ensemble hat eine heftige Probenzeit hinter sich. Nach sperrigem Beginn mit einem sehr langen und komplexen Monolog wird der Abend unterhaltsamer, nach der Pause berührt er manchmal die Grenze zur Klamotte." Die Aufführung habe einige Längen, aber auch großartige Momente, "vor allem zwei sehr erotische und abgründige Live-Video-Szenen nach der Pause", so Keim: "Aus dem energiegeladenen Ensemble ragen neben Lilith Stangenberg noch Peter Miklusz und Sophia Burtscher heraus."

"Castorf überfordert unsere Aufnahmefähigkeit mit der planerischen Unerbittlichkeit des Grafen Schlieffen", schreibt Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.1.2020), "um eine Revolution der Rezeption auszulösen: Hier nimmt das Stück den Zuschauer auf, verleibt ihn sich ein." Seine Regie durchkreuze dabei "alle ökonomischen Taktiken, mit denen man sich die Überfülle an Mitteilungen vom Leib halten könnte". Dabei gelinge aber eine "Nachschöpfung", bei der "der Maßstab der Werktreue ausnahmsweise nicht unangemessen ist", denn schließlich habe auch Sternheim selbst seine Stücke "sozusagen von vornherein verhackstückt" produziert.

 

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