Im Rutsch mit der Natur

von Valeria Heintges

Zürich, 23. Januar 2020. "Da rutscht ein Berg ab und ein Mensch verliert sein Gedächtnis. Viel mehr passiert erst einmal nicht in der Erzählung Max Frischs, die vor 40 Jahren erschienen ist", schreibt das Schauspielhaus Zürich zu "Der Mensch erscheint im Holozän". Nicht ganz falsch: In der 143-Seiten-Erzählung, die auch als Collage aus Bibel, Brockhaus- und Dudenartikeln, aus Wander- und Sachbüchern über den Schweizer Kanton Tessin daherkommt, ist wenig "Action": Ein Tal regnet tagelang ein, Herr Geiser steckt in seiner Hütte fest, schneidet Artikel aus Büchern aus, um gegen das Vergessen anzukämpfen, versucht verzweifelt, ins nächste Tal zu wandern, kehrt halbtot um, erleidet einen Schlaganfall und verdämmert dann. Was für ein Theaterabend soll daraus werden?

Große Phantasie-Bilder

Ein Visual Poem, sagt Alexander Giesche. So nennt der 37-jährige Regisseur seine Werke. Und macht aus Frischs Erzählung ein zeitloses, raumgreifendes Erlebnis, das zuweilen einen fast tranceartigen Sog entwickelt, wenn man sich darauf einlassen kann. In immer neuen Bildern zeigt er die Kraft der Natur und den Menschen in seinem Sisyphoskampf gegen den eigenen Untergang, aber auch dessen große Begabung zur Phantasie.

DerMenscherscheintimHolozaen3 560 Zoe AubryRegen und vor allem Nebel, der still aufsteigt: Karin Pfammatter und Maximilian Reichert in "Der Mensch erscheint im Holozän" © Zoé Aubry

Auf sieben verschiedene Arten plätschert eintönig der Regen, während über den gewellten Bühnenvorhang die riesigen brennenden Buchstaben des Titels holpern. Eine kleine Abhandlung über das Weiße Rauschen ist dort auch zu lesen. Dem Phänomen hatte Giesche in Luzern schon einen Abend gewidmet. Über den fantastischen Trip, den er beschert, dieser Moment, in dem man alles hört, alles weiß, aber auch Gefahr läuft, verrückt zu werden. Das Rauschen des Regens weicht hin und wieder dem Rauschen eines Radios oder Sendekabels; denn das große Wissen bietet heute nicht mehr der Frisch'sche Brockhaus, sondern das hassgeliebte Internet – Giesches zweites Lieblingsthema.

Sog des weißen Rauschens

Um gegen die Langeweile und gegen das Vergessen anzukämpfen, repetiert Herr Geiser Fakten, die er sich erst aus Büchern abschreibt, bevor er die Texte selbst an die Wand klebt. Diese Gedächtnisstützen nimmt Giesche wörtlich und lässt seinen Schauspielern reihenweise moderne "Gadgets" angedeihen. Rollstühle etwa, die sich so rasant drehen und wenden und steuern lassen wie Autoscooter. Ein Krankenhausbett, das in einem Tanz die Unterbeine anwinkelt und den Kopf einknickt. Eine Windmaschine, die als Gegenstromanlage Herrn Geisers Sätze in das zerstückelt, was sie ohnehin sind: sinnlose Versuche, gegen das Nichts anzuschreien. Eine Nebelmaschine, die dem Einerlei des Regens das Einerlei für die Augen beiseitestellt. Und die vor allem eines macht: vor sich hinwabern, ruhig und ganz selbstgenügsam.

DerMenscherscheintimHolozaen2 560 Zoe AubrySie, die in sich Verschwindende. Er, der Lebhafte in "Der Mensch erscheint im Holozän" © Zoe Aubry

Das ist eines der Erfolgsrezepte dieses Abends: Giesches Beharren auf dem Zeit-haben-dürfen. Der Nebel darf wabern, der Regen darf fallen, die Texte dürfen gesprochen werden – in der Zeit, die das eben braucht. Erst, wenn der letzte Tropfen gefallen, der letzte Ton der wunderbar geglückten Kompositionen und Bearbeitungen von Ludwig Abraham verklungen ist, erst dann geht es weiter. Ein weiteres Erfolgsrezept: Die Stimmigkeit der Bilder, ganz reduziert. Auf leerer Bühne, nur auf den Seiten sanft verspiegelt, agieren die Schauspieler in übergroßen, neonbunten Fleecejacken, die sie wie Yetis vom Berg wirken lassen. Und Erfolgsrezept Nummer drei: Giesches großes Vertrauen in seine Schauspieler.

Kampf gegens Verschwinden

Karin Pfammatter und Maximilian Reichert, sie fast doppelt so alt wie er, er dafür doppelt so schwer, bieten ein wunderbares Paar. Er, der Lebhafte, sie, die in sich Verschwindende. Sie sprechen die Texte, die in der Lektüre noch verstaubt und zäh wirkten, frisch und klar und beinahe zärtlich. Beinahe zärtlich sind sie auch miteinander: Fast am Ende sitzen sie auf einem riesigen, sich um sich selbst drehenden Baumstamm. Sie hat als Herr Geiser ihre Worte, ihr Selbst schon fast verloren. Da setzt er sich neben sie, spricht ihr vor. Sie darf ihm einfach folgen.

Im Hintergrund werden sie zusammengefahren, all die Gadgets. Krankenhausbett, Rollstühle, Windmaschine. Sogar eine Maschine, die riesige dreidimensionale Bienen, Pilze oder Viagra-Schachteln in die Luft zaubern kann. Sie sind völlig nutzlos geworden. Wirken fast so ausgestorben wie der Tyrannosaurus Rex, der auch noch angekarrt wird. Sie können, so intelligent sie auch sein mögen, nie die Wärme und Nähe einer menschlichen Umarmung ersetzen. So kann man das lesen. Das ist, bei aller Traurigkeit und Endlichkeit des menschlichen Daseins, doch sehr tröstlich.

Es macht auch fast vergessen, dass der Abend Mühe hat, in seine Spur hinein- und wieder herauszukommen. Sowohl das Vorspiel im Foyer als auch das Abspielen der – in der Schweiz sattsam bekannten – Rede Frischs zur Verleihung des Großen Schillerpreises, in der er mit der Fremdenfeindlichkeit seines Heimatlandes abrechnet, waren überflüssig.


Der Mensch erscheint im Holozän
ein Visual Poem nach Max Frisch
Inszenierung: Alexander Giesche, Bühne: Nadia Fistarol, Video: Luis August Krawen, Kostüme: Felix Lübkemann, Komposition: Ludwig Abraham, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Joshua Wicke.
Mit: Karin Pfammatter, Maximilian Reichert.
Premiere am 23. Januar 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

neu.schauspielhaus.ch

 

Unlängst zeigte Thom Luz am Theater Basel seine Berliner Fassung von Der Mensch erscheint im Holozän. In Luzern inszenierte Felix Rothenhäusler den Frisch-Text.

 

Kritikenrundschau

Alexandra Kedves schreibt im Tages-Anzeiger aus Zürich (online 24.1.2020, 13:56 Uhr): "Die ins Bild gesetzte Unsicherheit", das "unerbittliche Entgleiten der Wirklichkeit" sei ein "Fixum und garantiert" in Giesches "fliessender, musikalischer, analog-digitaler Soiree mit ihren spektakulär beleuchteten Regenschauern, ihren Windmaschinenorkanen, Gedächtnis-Duetten". Das Doppel Pfamatter und Reichert spiele sich die "Geiser-Gedanken" und "Holozän-Motive" zu wie "Bälle eines bittersüssen Spiels, das man nicht gewinnen kann". Immerzu sei "eine Wand zwischen Mensch und Welt": "Regenwand" oder "Plexiglaswand, Felswand, Vorhangwand, Foyerwand". Giesches Heimatsuche habe nicht die Kraft und den Sog von Frischs Text. "Aber seinen Stoff und durchaus auch seine Feinstofflichkeit."

Daniele Muscionico schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 24.1.2020, 22:24 Uhr): Noch kompromissloser als bei seinem vorherigen Abend in Zürich "Das Internet" blicke Alexander Giesche "in die Richtung, in der Theater ein in alle Interpretationsräume offenes Sinnenmedium" sei. Die Inszenierung mit einer eindrücklichen Karin Pfammatter sei eine "verstörend anregende Neuerzählung" mit "analogen Naturphänomenen wie Wind und Wasser" im Dialog mit "digitalen, holografischen Mitteln". Giesches Konfrontation sei "wegweisend für eine ästhetische Neuorientierung des Hauses".

Giesche habe Frischs Parabel übers Vergessen und Vergehen "in trostlos-traumschöne Bilder übersetzt", so Julia Nehmitz im Tagblatt (25.1.2020) . Dabei wiederhole er seine Aussage – Natur gibt es nur noch künstlich und in der Erinnerung, wenn sie sich im Erzählen manifestiert –  in verschiedenen Varianten. "Doch ihm gelingt es, mit all seiner Bildgewaltigkeit auch die Sprache wirken zu lassen. Er breitet Max Frisch einen Interpretationsteppich aus."

Ein "bilderstarker Abend, der von einer besinnlichen Melancholie grundiert wird", findet auch Thorbjörn Bergflödt im Südkurier (online 28.1.2020), wendet aber ein: "Nicht alle Bildfindungen und Szenen überzeugen gleichermaßen – dass zum Beispiel die beiden Schauspieler lange auf einem Baumstamm hocken oder im Nebel stehen, wirkt schlüssiger als der ausführliche Pas de deux vor einer pustenden Windmaschine oder das Experimentieren mit den wechselnden Stellungen eines Krankenhausbetts."

 

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