Immerwährend beieinander

von Michael Laages

Kassel, 23. Januar 2020. Eigentlich sollten wir uns ja schweigend und demütig verneigen vor dieser Geschichte. Aber wir sind ja im Theater. Und so erhebt sich nach sehr langem Dunkel am Ende dann eben doch Beifall, und voller Verzweiflung erheben wir uns mit ihm – vor der Passion, die in Kassel und darüber hinaus die Ärztin Lilli Jahn durchlitten hat.

Die Briefe zwischen der Mutter und ihren Kindern, im Lager Breitenau bei Kassel und schließlich im Konzentrationslager Auschwitz geschrieben und empfangen, sind der Kern dieser deutschen Schreckens-Chronik, die vor bald zwei Jahrzehnten "Spiegel"-Autor Martin Doerry gefertigt hat, auf der Basis der Briefe, die sich bei Lilli Jahns Sohn Gerhard gefunden hatten nach dessen Tod 1998.

Mein verwundetes Herz2 560 Marina Sturm uJürgen Wink, Christina Thiessen und Christina Weiser erzählen die Geschichte der Lilli Jahn © Marina Sturm

Wer Lilli Jahn war? Geboren 1900 als Tochter aus der jüdischen Kölner Familie Schlüchterer, die den Eltern die Heirat mit dem nicht-jüdischen Arzt Ernst Jahn abtrotzte. Sie war selber Ärztin und praktizierte mit ihm gemeinsam in der Kleinstadt Immenhausen bei Kassel. Dem Druck des aufkommenden Nationalsozialismus hielten der Partner und die Ehe nicht stand – bald nachdem sich die Kleinstadt-Gesellschaft, vom primitiven Antisemitismus durchseucht, gegen die Familie wandte (und Gutsbesitzer, Kollegen und der Pfarrer einer nach dem anderen den Kontakt mit den Jahns abbrachen), trennte sich Ernst von Lilli Jahn, um eine arische Geliebte zu heiraten. Schon das brach der Familie Seele und Herz.

Lilli Jahn zog nach Kassel, in die Motzstraße 3. Dann kamen die Nazi-Schergen von Polizei und Gestapo und verschleppten die Mutter von fünf Kindern ins "Arbeitserziehungslager" Breitenau bei Kassel (es gibt eine Gedenkstätte dort). Nach über einem halben Jahr ohne Anklage und Verfahren wurde Lilli Jahn weiter nach Auschwitz transportiert, wo sie bald nach der Ankunft starb. Woran – das haben die Kinder nie erfahren. Vermutlich aber, wie Hunderttausende, in den Gaskammern.

Terror und Tod aus Deutschland

Terror und Tod waren Meister aus Deutschland, in diesem wie in ungezählten anderen Fällen. Besonders berührend ist der Fall Jahn durch die Briefe von den Töchtern wie vom Sohn Gerhard (dem späteren Justizminister im Kabinett von Willy Brandt); Tochter Ilse ist die Mutter von Martin Doerry, der der Großmutter mit den Briefen ein weltweit beachtetes Denkmal gesetzt hat – "Mein verwundetes Herz", so der Titel der Biographie über Lilli Jahn, ist in neunzehn Sprachen übersetzt worden.

Mein verwundetes Herz3 560 Marina Sturm uProjektionen von Kassel vor der Zerstörung: Szene mit Christina Thiessen und Christina Weiser © Marina Sturm

Wie aber kann das Theater umgehen mit dieser Geschichte? Im Grunde ja gar nicht. Wer könnte, wer sollte das "spielen"? Die Kunst hat hier nur wenig Rechte. Mit dem Dramaturgen Michael Volk hat Kassels Intendant Thomas Bockelmann eine Fassung erarbeitet, die sich von einer szenischen Lesung zunächst nur dadurch unterscheidet, dass Christina Weiser, Christina Thiessen und Jürgen Wink die Geschichte erzählen – mit Doerrys biographischem Text sowie den Brief-Passagen von und an Lilli Jahn.

Die Mörder und die Mitläufer

Die Rollen sind verteilt: Weiser ist fast immer die Mutter, Wink übernimmt die Passagen des rückgratschwachen Gatten sowie all das dokumentarische Material aus der Provinz-Nomenklatura der bieder-deutschen Bürger ohne jedes humane Empfinden für all das Unrecht, das von den Mördern in Uniform verübt und von Mitläufern und Mitschuldigen klaglos hingenommen wird.

Auch Gerhard, der älteste Jahn-Sohn, schon eingezogen zur Flugabwehr, bekommt seine Stimme. Die am ehesten inszenierte (und schwierigste) Rolle kommt Christina Thiessen zu – sie übernimmt alle Töchter: Ilse, die älteste (und mit 14 quasi Ersatzmutter, als Lilli Jahn verschleppt wird); sie schreibt die Briefe, sie versucht, Kontakt mit der Mutter im Lager Breitenau zu halten. Aber auch Johanna und Eva sprechen aus ihr; Dorothea, die jüngste, ist gerade drei Jahre alt.

Briefe überdauerten die Zeiten

In immer neuen Wendungen versichern sich Töchter und Mutter des immerwährenden Beieinanderbleibens, wohin hin auch immer die Mutter verschlagen werden wird, im Leben wie im Sterben. "Mein verwundetes Herz" ist eine Übung in Erinnerung, in Zusammenhalt, in gemeinschaftlichem Gefühl – das ist die Kraft dieser Aufführung am Tag, da erstmals der deutsche Bundespräsident in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Washem sprechen durfte, beim Festakt zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar vor 75 Jahren. Auf dem Weg nach Hause, in den spätabendlichen Radio-Berichten aus Jerusalem, klingt Lilli Jahns Schicksal ganz selbstverständlich mit.

Mein verwundetes Herz1 560 Marina Sturm uChristina Weiser, Jürgen Wink und Christina Thiessen im klinisch weißen Bühnenraum von Ulrike Obermüller © Marina Sturm

Ulrike Obermüllers Bühne hat viel zu dieser Wirkung beigetragen: klinisch kalt und weiß, noch etwas kälter und bedrohlicher in wechselnden Licht-Stimmungen. Eine Art Familien-Bank gibt's in der Mitte hinten, zwei kleine Einzelsitze rechts und links an den Wänden; im Hintergrund sind historische Film-Sequenzen zu sehen – von der vollständigen Zerstörung der Kasseler Innenstadt im Oktober 1943 und von der Reise, die bis zum Tor vom Lager Auschwitz-Birkenau führt.

In den ersten Minuten (wenn's um die Kleinstadt-Welt geht, in der die Geschichte der Familie Jahn beginnt) bleibt's auch hell im kleinen Theatersaal. Wir sehen einander, und ja: wir sind gemeint. Im Hier und Jetzt, wo die Mörder wieder unter uns sind.

 

Mein verwundetes Herz
nach der Biographie von Martin Doerry
Fassung für die Bühne von Thomas Bockelmann und Michael Volk
Regie: Thomas Bockelmann, Bühne und Kostüme: Ulrike Obermüller, Sound-Design: Heiko Schnurpel, Video: Behrooz Karamizade, Dramaturgie: Michael Volk.
Mit: Christina Thiessen, Christina Weiser, Jürgen Wink.
Premiere am 23. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

Die Zuschauer dürfen in die intimen Momentaufnahmen eines Familienschicksals hineinblicken, und es gelinge erstaunlich leicht und schnell, diese Liebe mitzufühlen. "Das ist ein großes Verdienst des bewegenden Kasseler Theaterabends 'Mein verwundetes Herz'", schreibt Bettina Fraschke in der HNA (27.1.2020). Thomas Bockelmann schaffe von Anfang an eine enge Verbindung zwischen Bühnenfiguren und Zuschauern. "Überleben, Verzweiflung und Vermissen, aber auch Liebe und Hoffnung: All diese Gefühle zeigt das Staatstheater Kassel mit seiner Inszenierung."

Der Text, im Wechsel vorgetragen, bleibe ganz nah an der Vorlage. Spielszenen gibt es nicht, Dialoge kaum, denn sie hätten erfunden werden müssen, schreibt Joachim F. Tornau in der Frankfurter Rundschau (27.1.2020). "Das macht den Abend, anfangs zwar sehr nüchtern. Doch es ist richtig. Alles andere hätte die Gefahr der Anmaßung und der Trivialisierung bedeutet." Eine kleine Unwucht hab die Inszenierung dennoch. "Während der Horror, den das Leben im Lager für Lilli Jahn bedeutet haben muss, immer nur zwischen den Zeilen spürbar wird, erzählen die Kinder ihrer Mutter wortreich vom Schrecken der Bombardierung Kassels." Ein Ungleichgewicht, das natürlich bereits in den Briefen angelegt sei, hier jedoch unglücklicherweise noch weiter verstärkt werde: "durch dramatische Bilder fallender Bomben und der Kasseler Ruinenlandschaft, die auf die Bühnenrückwand projiziert werden – während vom Lager Breitenau nur kühle Dokumentaraufnahmen zu sehen waren."

Kommentare  
Verwundetes Herz, Kassel: Richtigstellung
Vielleicht ist es für einen auswärtigen Kritiker nicht leicht, die Relevanz dieser Theaterarbeit für Kassel und Nordhessen zu erkennen, auch wenn ihm die Tränen im Publikum nicht verborgen geblieben sein können.
Vielleicht kann er sich auch nicht vorstellen, dass das ortskundige Publikum in dem fein inszenierten Spiel vor einer weißen Wand viel mehr sieht, als es sieht. Und damit offensichtlich viel mehr als er.
Vielleicht ist es sogar zu viel verlangt, dass er erkennt, wie kunstvoll der Abend ausbalanciert wurde und damit der beste Nachweis geliefert wurde, wie das Theater mit einer solchen Geschichte umgehen kann. Vielleicht muss!?
Eines bedarf aber der Richtigstellung: nachdem das Publikum zunächst in demütiger Stille im Dunkel verharrte, erhob es sich nicht etwa „voller Verzweiflung“ vor der dargebotenen Geschichte, sondern in großer Anerkennung vor drei beeindruckenden Schauspielern, der klugen Dramaturgie und der feinsinnigen Regie des Abends.
Kommentar schreiben