Vergessen oder Nicht-Vergessen

von Jens Fischer

Hannover, 24. Januar 2020. "Let's talk Tacheles!", drängt die israelische Gästin des Schauspiels Hannover, Hadas Kalderon, die fünf Kolleg*innen ihres Performance-Teams. Thema: Erinnerungs-"Weltmeister" Deutschland. Der Zeitpunkt hätte kaum besser gewählt werden können. Am nahenden Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, wird der sechs Millionen ermordeten Juden und aller anderen Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am 27. Januar 1945 hatte die Sowjetarmee die Überlebenden des KZs Auschwitz befreit. Muss das erwähnt werden? Jedenfalls warnen besorgte Wissenschaftler, dass das Wissen über den Holocaust, also Deutsche als Täter, in der dritten und vierten Generation der Nachgeborenen rapide nachlasse – im Gegensatz zu dem Wissen über die Bombennächte des 2. Weltkriegs, mit Deutschen als Opfer.

Nicht zu vergessen der Populismus rechtnationaler Politiker, die eine erinnerungspolitische Kehrtwende fordern, damit die "positiven Aspekte deutscher Geschichte" wieder identitätsstiftend zur Geltung kämen. Hinzu gesellen sich xenophobische Anwandlungen und pseudoreligiöser Hass – etwa der aufflammende Antisemitismus durch zugewanderte muslimische Menschen wie auch Deutsche ohne Migrationsgeschichte.

Frage nach der Verantwortung

All dieses Rumoren befeuert in Nina Gühlstorffs Produktion die Frage, ob Deutschland den Erinnerungsimperativ lebendig halten sollte und könnte: kein Vergessen, kein Vergeben – nicht im Sinne von Schuld, sondern als Verantwortung für das "Nie wieder". Erschwerend kommt ja hinzu, dass von Erinnerungskultur gar nicht mehr gesprochen werden kann, da kaum noch Zeitzeugen das NS-Unrecht erinnern und vermitteln können. In Hannover lebt laut Gühlstorff nur noch eine Holocaust-Überlebende.

Weltmeister 3 560 Karl BerndKarwasz uSzene aus "Weltmeister: "Grabe, wo du stehst" - Unter diesem Motto standen Initiativen der achtziger jahre, in denen es um historisches Lernen ging. © Karl-Bernd Karwasz

Als erste, noch betont amateurhaft gespielte Szene präsentieren die Schauspieler jiddische Folklore als Heile-Shtetl-Nostalgie. Warum nicht gleich das Musical "Anatevka" aufführen? "Wir tanzen jetzt doch nicht Pogrome", schimpft Hajo Tuschy. Also raus aus dem frisch auf die Vorbühne gezimmerten Holzdielen-Datscha-Idyll. Hin zur Vorstellungsrunde auf die Hauptbühne. Nicht Improdokutheater ist zu erleben. Die gesprochenen Worte sind großenteils niedergeschrieben und auswendig gelernt. Die Darsteller geben also ihr dramatisiertes Ich zum Besten und switchen immer mal wieder zu O-Ton-Zulieferern, den im Vorfeld Interviewten.

Kritik am "Memory-Design"

Erste Dispute blitzen auf. Aus Respekt die Vergangenheit ruhen lassen – oder das Trauma, den zivilisatorischen Bruch des Holocaust, als Mahnung verstehen vor den Abgründen, die sich in Menschen öffnen können? Der Umgang mit dieser Frage unterscheide sich in Deutschland und Israel, dort "haben wir Humor", sagt der Berliner Israeli Michael Hanegbi und kritisiert das allgegenwärtige "Memory-Design" – die institutionalisierte Praxis mit Gedenkstätten, -tagen und Denkmälern sowie all die rhetorischen Pathosformeln, moralischen Appelle und symbolischen Rituale des Gedenkens. Aber auch dieser zweiten Szene fehlt der*die strukturierende Moderator*in.

Weltmeister 4 560 Karl BerndKarwasz uDiskussionen am Küchentisch in "Weltmeister" © Karl-Bernd Karwasz

Damit die Vermittlung intimer werden kann, muss sich das Publikum nun in Gruppen aufteilen. Ich bekomme ein pinkes Armbändchen und folge Tuschy ins Lager des Theatermuseums. Kellerkaltes Chaos. Fotos und CDs liegen herum, überall Kartons und Aktenordner. Viele Tage, so der Darsteller, habe er hier die Geschichte der Hannoveraner Bühnen erforscht. Und entdeckt, dass Intendant Georg Altmann, Sohn jüdischer Eltern, 1933 entlassen wurde, worauf Zeitungen die Befreiung von einem "Schädling" bejubelten.

Fuck Weltpolitik

Mit einem kulturpolitischen AfD-Zitat verweist Tuschy auf die Ähnlichkeit des dort genutzten Vokabulars. Sucht aber vor allem jemanden, den es zu würdigen gilt, weil er gegen den braunen Ungeist aufgestanden ist. Fündig wird Tuschy hier genau so wenig wie im Kiez, wo er wohnt, und wo er nach Hinweisen auf das ehemals dort angesiedelte Zwangsarbeiterlager forschte. Bei der Keksfabrik Bahlsen fragte er die Aufarbeitung der Unternehmenshistorie an und erfuhr ebenfalls nichts. Ein leidenschaftlich empörter Monolog über Geschichtsverdrängung und die Unmöglichkeit, schnelle Antworten aus Archiven zu buddeln: Tuschy gestaltet den Höhepunkt des Abends. Weiter geht es.

Auf der Unterbühne ist der Fokus auf Michelangelo Pistolettos Mahnmal neben der Oper gerichtet, an dem Namen von 1.935 ermordeten Juden verewigt sind. Nikolai Gemel berichtet Details und fragt immer wieder, wie interessiert, wie betroffen man sei auf einer Skala von 1 bis 10. In seinem beiläufig provokanten Monolog kommt er zu dem Schluss: Eine solche Installation helfe kaum der selbstkritischen Verständigung über Geschichte. Weiter geht es. Michael Hanegbi übersetzt ein auf Hebräisch geführtes Gespräch mit Freunden. Vornehmlich geht es um die Behauptung, der Holocaust sei kein singuläres Ereignis, sondern finde fortgesetzt statt in China, Syrien, Irak … Resigniertes Resümee: "Fuck Weltpolitik. Things are bigger than us." Weiter geht es.

Let's talk Tacheles

Auf der Cumberland-Bühne befragen sich ganz vorsichtig Stella Hilb und Hadas Kalderon am Kaffeetisch zu ihren Familiengeschichten, die von Nazi-Mitläufern, Flucht, Deportation und dem Tod in Lagern handeln. Weiter geht es. Das final wieder zusammengeführte Publikum soll sich nun selbst äußern unter Anleitung der Tour-Guides. Aber nach 20 Minuten, als immer mehr Zuschauer endlich ihre Rezeptionshaltung aufgeben und ins Gespräch kommen, heißt es schon wieder: Weiter geht es. Ein Film ist noch zu sehen, und Hilb monologisiert überreichlich Aspekte, die bisher nicht behandelt wurden. Schließlich lädt sie ein, mit ihr ins niedersächsische Estorf zu fahren, um dem dort nach rechten Drohungen zurückgetretenen Bürgermeister Solidarität zu bekunden.

Eine erste tatkräftige Schlussfolgerung aus dem Holocaust-Gedenken? Nein, die Darstellerin rennt von der Bühne, so dass sich niemand mit ihr verabreden kann. Alles nur gespielt. Let's talk Tacheles? In vielen anregenden Ansätzen ist das gelungen. Nur leider verzettelt sich der Abend im Bemühen, ein maximal vielstimmiges Bild öffentlicher und privater Meinungen aufzuzeigen. Der Rest ist Ratlosigkeit.

Weltmeister
Ein Rechercheprojekt über deutsche Erinnerungskultur
von Nina Gühlstorff AKA:NYX und Ensemble
Regie: Nina Gühlstorff AKA:NYX
Bühne und Kostüme: Marouscha Levy, Video: Stefan Bischoff, Dramaturgie: Friederike Schubert.
Mit: Ruby Commey, Nikolai Gemel, Michael Hanegbi, Stella Hilb, Hadas Kalderon und Hajo Tuschy.
Premiere am 24. Januar 2020
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Das Publikum folgte den Darstellern auf die Hinterbühne, wo sie zum Beispiel über ihren jeweiligen Zugang zu diesem Theaterprojekt sprechen. "Wirklich pointiert ist das größtenteils nicht, am meisten zündet die trockene Anmerkung von Michael Hanegbi, der einen wesentlichen kulturellen Unterschied zwischen den Ländern ausfindig gemacht hat: 'Wir in Israel haben Humor.'", schreibt Jörg Worat in der Neuen Presse (27.1.2020). Überhaupt laute das Fazit des begehbaren Theaterabends: "Es gibt einigen Leerlauf, Nachjustierung in Sachen Timing scheint dringend angeraten." Wenn die Vorstellung aber treffe, dann auch richtig, so der Kritiker.

"Weltmeister" ist zweierlei, so Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (27.1.2020), "ein Rechercheprojekt, in dem es um die Vergangenheit Hannovers geht, und ein Theaterprojekt, in dem es um die Befindlichkeiten von Schauspielern geht." Das Projekt sei gleichzeitig packend und peinlich, verstörend und störend, herausfordernd und nervig. Manche Schauspieler neigen zu einer gewissen Aufplusterung, wenn es um die eigene Person geht. "Das ist hier gleichzeitig Gefahr und Chance. Gefahr, weil ein großes Thema zu einer privaten Aufregung schrumpft; Chance, weil Erinnerung persönlich sein muss."

 

 

Kommentare  
Weltmeister, Hannover: Kekse
Lieber Peter Schildt,
vielen Dank für die Korrektur, die der Redakteur versäumt hatte.
jnm/ Redaktion
Weltmeister, Hannover: Frontalunterricht
Das Hauptproblem dieses Abends ist, dass er genau das ist, was er eigentlich nicht sein will: Frontalunterricht. Die Ankündigung, das Publikum aus der Deckung zu locken, schmerzhaft zu sein, eine neue Perspektive aufzumachen oder bei sich selbst "zu graben": leider alles leere Versprechungen. Stattdessen darf man Schauspielern beim Monologisieren (Station 1 und 2) zuhören. Die Inhalte und Erkenntnisse, gerade bei der Station zum Mahnmal in Hannover, gehen nicht über das Niveau eines Artikels der Tageszeitung zum Jubiläum des Mahnmals hinaus. Kommunikation? Keine. Partizipation? Auch nicht. Das ist schade, denn man möchte eigentlich, aber dafür ist keine Zeit und auch kein Raum. Am Ende eine Szene zwischen Stella Hilb und Hadas Kalderon, wirklich sehr anrührend, wie sich die beiden vorsichtig abtasten. Aber dann ist es auch schon wieder vorbei. Die "Tourguides" machen beim Szenenapplaus überdeutlich und überlaut den Anfang, damit jeder weiß, dass es jetzt vorbei ist. Und zum Ende geht es auf den Jahrmarkt der Erinnerungen: Tische mit einlaminierten Gesprächsimpulsen, über die man jetzt, plötzlich nicht mehr Rezipient, ins Gespräch kommen soll. Eine große Frage, die bleibt: Warum? Das ist überhaupt nicht despektierlich gemeint, sondern soll eine enorme Schwachstelle der Arbeit aufzeigen: Sie nimmt den Zuschauer, Teilnehmer, wasauchimmer nicht ernst genug. lässt ihm/ihr keine Zeit und - auch wenn der Abend das so überhaupt gar nicht sein will - letzten Endes geht's doch nur ums Zusehen. Schade.
Weltmeister, Hannover: Schweigeminute
In der Nachtkritik habe ich erfahren, dass es für die "pinke Gruppe" einen Monolog von Hajo Tuschy gab. In meiner "gelben Gruppe" waren wir stattdessen in einem kleinen Raum, der ein leeres Podium mit dem Schriftzug "Schweigeminute" zeigte. Und tatsächlich kamen wir, die "Zuschauer", nach einigen leeren Augenblicken zum Schweigen und vielleicht zum Nachdenken. Im Grunde waren das die besten zwei Minuten des Abends, die dann aber von einer Mitarbeiterin des Theaters unterbrochen wurde, die einen Zuschauer bat, einen Text vorzulesen. Es war die wunderbare Rede unseres Bundespräsidenten, die er vor wenigen Tagen, in Yad Vashem gehalten hatte. Sie in dieser Situation von einem Zuschauer - mehr recht als schlecht - vorgelesen zu bekommen, ist für mich sehr, sehr schmerzhaft. Ich weiß nicht, ob ich einer Lehrerin raten würde, für ihre Zehntklässler dieses Element im Unterricht in einer "Lernstation" einzubauen? Vielleicht, warum nicht. Schule ist Schule. Und die Rede haben die Schüler*innen auf Insta bestimmt nicht gesehen. Im Theater ist das schwer zu ertragen. Nicht wegen des Inhaltes (der Rede), sondern wegen dieser dilettantischen, "didaktischen" Umsetzung.
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