Hose an, Hose aus

von Falk Schreiber

Hamburg, 24. Januar 2020. "Dieses Land hat überhaupt keine Chance!", ruft Ora. Und, ja, natürlich hat Israel keine Chance, von außen bedroht von praktisch allen Nachbarländern, von innen durch einen jeden Lebensbereich durchdringenden Militarismus. So wenig wie Ora eine Chance hat, die ihre Dreiecksbeziehung zu Avram und Ilan irgendwie aufrechterhalten möchte, mit zwei Söhnen, die in unübersichtlichen Vater-Mutter-Konstellationen aufwachsen und die ihr nach und nach in die militarisierte Gesellschaft entgleiten. Ihr jüngster Sohn ist beim Militär, Ora weiß, dass er fallen wird. Und weil sie die Nachricht seines Todes nicht entgegennehmen will, wandert sie los: Eine Frau flieht vor einer Nachricht.

Alles Sorge

Dušan David Pařízek hat 2018 David Grossmanns Roman Kommt ein Pferd in die Bar als starbesetzte Koproduktion von Salzburger Festspielen, Burgtheater und Deutschem Theater realisiert; im Vergleich ist seine jüngste Grossmann-Dramatisierung "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" eine kleinformatige Arbeit: im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses als Kammerspiel, besetzt ausschließlich mit bewährten Ensemblemitgliedern. Die allerdings alles geben: Ute Hannig ist als Ora gleichzeitig böse und verletzlich, wütend und komisch, sinnlich und breitbeinig. Markus John als Avram ein gebrochener Mann, der aus seinen Brüchen eine große Souveränität zieht. Und dass Paul Herwig als Ilan verhältnismäßig blass daherkommt, liegt daran, dass die Figur in Pařízeks Fassung gezwungen ist, ein Fremdkörper in der symbiotischen Beziehung zwischen Ora und Avram zu bleiben, ein Außenstehender, der ohnehin die meiste Zeit nicht anwesend ist.

EineFrauflieht 3 560 MatthiasHorn uPaul Herwig, Ute Hannig, Markus John © Matthias Horn

Herwig schlüpft auch noch in andere Rollen, in die des jüngsten Sohnes etwa oder in die eines Soldaten, der bei einer (als wunderbarer Slapstick inszenierten) nächtlichen Autofahrt von Jerusalem nach Tel Aviv beruhigt werden muss: Nein, man hat es hier nicht mit einem Terroristenpärchen auf dem Weg zum Selbstmordattentat zu tun, nein, keine Sorge. Dabei ist doch alles hier Sorge, Sorge, Sorge.

Als wäre kein Regisseur dabeigewesen

"Eine Frau flieht vor einer Nachricht" funktioniert als Schauspielerstück vor allem deswegen so gut, weil der Abend eine echte Regieposition über weite Strecken überspielt. Es macht beinahe den Eindruck, dass hier gar kein Regisseur dabei war (und erst, wenn man auf Details schaut, wird klar, wie genau im Gegensatz gearbeitet wurde).

EineFrauflieht 4 560 MatthiasHorn uMarkus John, Ute Hannig © Matthias Horn

Auch die (ebenfalls von Pařízek gestaltete) Bühne scheint auf den ersten Blick nicht vorhanden – ein Podest, ein paar Overheadprojektoren, die nackten Betonwände des Malersaals, das ist alles. Bis irgendwann Hannig mit einer Spitzhacke auf die Bühnenrückwand einschlägt, worauf man feststellt: Das ist sehr wohl eine Kulisse! Und zwar eine Kulisse, die an die (völkerrechtswidrig errichtete) Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland erinnert.

Mit sparsamen Mitteln

Der Abend macht sich also ziemlich viel Mühe, um auszusehen wie armes Theater. Die Wüste? Wird einfach mit den Projektoren imaginiert, als Schattenspiel, das auch noch eine halbwegs jugendfreie Sexszene ermöglicht. Ein Fluss, den es zu durchwaten gilt? Zwei Eimer Wasser. Vergehende Zeit? Ein tickendes Metronom. Nicht einmal eine Garderobe gibt es, die Figuren ziehen sich auf offener Bühne um, und wenn sie sich umziehen, dann machen sie das nicht etwa, um mit den neuen Kleidern in eine neue Rolle zu schlüpfen – Figuren definierende Kostüme existieren schlicht nicht (Kostüme: Kamila Polívková).

Stattdessen verweist das Nichtpassen der Kleidung auf eine Gesellschaft im ständigen Krisenmodus. Eine ganze Szene lang probiert Hannig immer wieder neue Outfits an, Hose an, Hose aus, Rock an, Bluse an, Rock aus. Nichts passt. In dieser Welt ist alles unpassend.

Wie klug das alles gebaut ist! Wie fein, wie humorvoll, wie abgründig! Und wie wenig Hoffnung einem dieses Schauspielglück lässt! Keine Chance hat dieses Land, diese Liebe, diese Menschheit. Man glaubt Hannig ihren Ausruf, und es schmerzt, ihn zu glauben.

Eine Frau flieht vor einer Nachricht
nach David Grossman, in einer Fassung von Dušan David Pařízek und Ensemble, Deutsch von Anne Birkenhauer
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Licht: Rebekka Dahnke, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Ute Hannig, Paul Herwig, Markus John.
Premiere am 24. Januar 2020
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Mit den tagesaktuellen Bildern von Toten, Verletzten und endlichem Leid im Kopf", erhält das digitale Gastspiel der Inszenierung bei den Ruhrfestspielen aus Sicht von Tina Brambrink in der Recklinghäuser Zeitung (17.5.2021) "eine noch beklemmendere Aktualität". Die antisemitischen Demonstrationen in NRW "holen das Thema direkt vor unser Haustür." Dem Regisseur reiche ein Kammerspiel auf karger Bunkerbühne, "um eine intime Familiengeschichte mit der großen Weltpolitik zu verweben und 700 Seiten 140 packende Minuten lang klug zu sezieren."

Eine "kluge Inszenierung und einen "bewegenden Abend" hat Heinrich Oehmsen erlebt und schreibt im Hamburger Abendblatt (27.1.2020): Viele Zuschauer*innen habe der Abend "sprachlos" zurückgelassen. "Diese Überwältigung hat auch mit der Kraft und der Leidenschaft zu tun, mit der sich Ute Hannig, Paul Herwig und Markus John in ihre verschiedenen Figuren gestürzt und sie zum Leben erweckt haben. Es bedarf schon solcher Ausnahmekönner, um diesen oft grausamen Stoff auf die Bühne zu bringen."

"Regisseur Dusan David Parizek inszeniert den inhaltsschweren Stoff mit wenig Bühnenbrimborium – ein paar Overheadprojektionen hier, ein tickendes Metronom da, einige Klamottenwechsel dort, aber jede Menge Einsatz seiner Darsteller", so Heiko Kammerhoff in der Hamburger Morgenpost (27.1.2020). Das Stück fordere viel vom Publikum, schaffe es aber, den unauflöslichen israelisch-palästinensischen Konflikt packend darzustellen. 

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