Die Wahrheiten - Schauspiel Stuttgart
Was an der Hotelbar geschah
von Steffen Becker
Stuttgart, 25. Januar 2020. "Hallo Sonja und Bruno, wir haben beschlossen, den Kontakt zu euch abzubrechen. Wir wollen das nicht mit euch diskutieren. Jana und Erik." Die SMS beendet nicht nur eine 17-jährige Freundschaft. Sie bringt auch das zu Tage, was Lutz Hübner und Sarah Nemitz als Titel ihres neuen Stücks gewählt haben: "Die Wahrheiten".
Dieses Setting, das Regisseurin Sophia Bodamer am Schauspiel Stuttgart zur Uraufführung bringt, erinnert an Frau Müller muss weg, ein weiteres Stück des Autorenduos: Menschen gemeinsam gefangen in einer ungewöhnlichen Situation graben die Leichen in den Kellern ihrer Seelen aus, während sich die Lage immer weiter zuspitzt.
Nach der "Das war's"-SMS
Auf "Die Wahrheiten" trifft nur der erste Halbsatz voll zu. Das Stück erzählt die Genese der "Das wars"-SMS in drei Akten – der jeweilige Abend der beiden Paare und voneinander getrennte Aussprachen der Frauen und Männer. Vordergründig schält sich heraus: Die Frau des jüngeren Paares wirft dem Mann des älteren Paares Machtmissbrauch vor. Er hatte ihr vor Jahren einen Auftrag für ein Führungskräfte-Coaching vermittelt. Es sollte ihre Karriere pushen. Es scheitert bei Anzüglichkeiten an der Hotelbar – was sie in ihrer eigenen Therapie nun als Auslöser für ihre Depression begreift.
Der Abend nimmt zwei Mal Anlauf – das eine Paar steigert sich in die Frage hinein, warum die Anderen Schluss gemacht haben. Das andere Paar beobachten die Zuschauer anschließend dabei, wie sich der Streit hochschaukelt, ob und wie man Schluss macht. Sehr schnell landen die Protagonisten von gemeinsamen Vorwürfen an die Anderen bei den dunklen Flecken ihrer eigenen Beziehung. Das ältere, wohlhabendere Paar hat ein Kind, das nicht vom Ehemann stammt – was er auch weiß, aber eben nicht alles. Das jüngere Paar, das dem Älteren einiges verdankt, trägt als Mine mit sich herum, dass er sie betrügt – vor allem aber nicht so recht ernst nimmt.
Machos, Feministinnen und ihre Sprache
Autoren und Regie führen diese Konstellation allerdings nicht zur Explosion. Der dritte Akt der Aussprachen dient eher der Erklärung der Handlung, nicht der finalen Trümmerorgie sonst vergleichbarer Komödien. Und das ist auch gut so. Die Sticheleien der Paare, die parodistisch ausgestellten Macho- und Feministinnen-Sprüche, die blank liegenden Nerven – all das gibt "Die Wahrheiten" Tempo und Unterhaltungswert. Aber der Kern ist die Ausleuchtung von Machtverhältnissen. Der Kniff des Textes liegt darin, dass er wie nebenbei eine Vergewaltigung einführt. Sie wird gebraucht als Benchmark für ultimativen Missbrauch. Und als Folie, zu der die Protagonisten die Frage in Beziehung setzen, was an der Hauptgeschichte des missratenen Coaching-Einsatzes Missbrauch ist. Hübner und Nemitz betten dies so logisch in ihre Handlung ein, dass der #Metoo-Bezug alles andere als plakativ wirkt.
Angenehm subtil verlagert Regisseurin Bodamer die Darstellung von Macht weitgehend auf die Dialogebene. Die Bühne verzichtet darauf, das Einkommensgefälle der Paare auszustellen. Sie beschränkt sich auf hölzerne Schiebewände und ebensolche Sitzgelegenheiten.
Umso mehr stehen die Figuren im Fokus. Der Finanzberater, den die Abweisung auch deshalb schockt, weil er von den jüngeren Freunden Dankbarkeit erwartet hätte. Die nach außen souveräne Beamtin, die das Sprechen über ihre Vergewaltigung als Moment der Schwäche sieht. Der gutaussehende Kulturjournalist, der gerne stressfrei das Leben (und auch andere Frauen) genießen will. Die verunsicherte Therapeutin, die endlich mal wütend sein möchte.
Hört ihr mal zu
Die Stärke der Inszenierung liegt in der Ambivalenz, in der sie die Figuren zeigt. Alle kann man verstehen. Umso schwerer wird es einem als Zuschauer*in gemacht, eine klare Antwort aus dem Abend zu ziehen, wo Sexismus anfängt. Sie/er muss schon selbst reflektieren.
Die Schwäche des Stücks liegt in der ungleichen Stringenz, in der sie von den Paaren erzählt. Das ältere Paar und seine Geschichte sind plastisch und differenziert. Marietta Meguid und Michael Stiller nehmen in Stuttgart diesen Ball auf. Von der ersten Sekunde an hat man ein Gefühl dafür, wer die Menschen sind, die sie verkörpern. Sie gehen bissig-liebevoll miteinander um, die Chemie ist spürbar. Man kauft ihnen das Paar ab und seine Probleme.
In die Geschichte des jüngeren Paares schleichen sich dagegen ein paar Klischees zu viel ein (zum Beispiel Ulla, die männerhassende Therapeutin der Frau). Der Mann bleibt im Text und auch sein Darsteller Marco Massafra bleibt auf der Bühne eindimensional. Katharina Hauter als seine Frau dagegen spielt zwar stark – zwischen nervig, nerven-wollend, verletzt und wehleidig. Sie verkörpert die Ambivalenz des Stücks grandios. Sie kann in den Zuschauer*innen sowohl als den "Hört ihr endlich mal zu"-Reflex als auch den "Die soll sich mal nicht so haben"-Mechanismus aufrufen. Aber auch ihre Rolle leidet darunter, dass ihre Geschichte in den Details nachlässig konstruiert wirkt.
Das gilt auch für den eigentlichen Auslöser des Stücks: Warum schreibt der jüngere Mann die SMS – um möglichst schnell einen Schlussstrich unter die stressige Diskussion mit seiner Frau zu ziehen, sich als Beschützer zeigen? Oder will er etwas verbergen? Der Text legt das eine nahe, die Inszenierung deutet das andere an. Der Handlungsantreiber – er bleibt einfach in der Luft hängen.
Die Wahrheiten
von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Inszenierung: Sophia Bodamer, Bühne und Kostüme: Prisca Baumann, Musik: Tobias Preisig, Licht: Stefan Schmidt, Dramaturgie: Bastian Boß.
Mit: Mariette Meguid, Michael Stiller, Katharina Hauter, Marco Massafra.
Premiere am 25. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
In unserer Video-Interview-Reihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" sprechen Sarah Nemitz und Lutz Hübner über den Wert von Geschichten und Einfühlung
Die Vergangenheit holt die befreundeten Paare ein, "denn im Zuge der #metoo-Debatte bricht eine der Frauen einen gemeinsamen Schweigepakt", so
in seiner Doppelrezension zusammen mit "Woyzeck" in der Heidenheimer Zeitung (27.1.2020). Das klug gebaute Stück zeige in überraschenden Wendungen, dass es zu ein und demselben Ereignis mehrere "Wahrheiten" geben kann. Das Spektrum reiche von Ignorieren, Verdrängen über Schönreden, Zurechtlügen bis hin zu rigiden Schnellurteilen und ideologischer Verblendung. "Vor allem wird klar, wie fein und unmerklich fließend die Übergänge sind. Relativiert wird nichts, am Ende trennen sich auch die Paare untereinander." Fazit: "Starker Problemboulevard à la Yasmina Reza, unterhaltend und intelligent präsentiert."Enttäuscht ist dagegen Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (27.1.2020). Das Drama kreise um Freundschaft, Vertrauen, Verrat, Liebe, Lüge, um Geschlechterkampf, um Vergewaltigung und um Missbrauch von Macht. "Die Regisseurin Sophia Bodamer und der Dramaturg Bastian Boß interessieren sich allerdings nur für die Aspekte der Mee-too-Debatte und vernachlässigen viele andere moralisch fragwürdige Handlungen der jeweiligen Liebespaare." Das verflache unnötig die ohnehin psychologisch nicht fein ziselierten Figuren.
Mit "Die Wahrheiten" seien Hübner und Nemitz ganz im Privaten angekommen, im alltäglichen Geschlechterkampf, so Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2020). "Herausgekommen ist ein Konversationsstück, bei dem jedem Paar ein Akt gewidmet ist und sich im Finale Männer und Frauen wieder verbünden - hinter dem Rücken der Partner. Doch die Aussprachen auf dem heimischen Sofa wirken wie rhetorische Gefechte, weil die Konflikte nicht organisch aus dem Handeln der Charaktere heraus entwickelt wurden." Das angenehm nüchterne Ambiente von Ausstatterin Prisca Baumann mit hölzernen Schiebewänden, die Distanz erzeugen, bilden die Bühne, auf der sich die von Sophia Bodamer inszenierten Wortgefechte klar und konzentriert entfalteten.
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